Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom Neudarwinismus

Vorstellung gewinnen können? Ist das Denkende, Fühlende, Wollende in uns
ein unzerstörbares Wesen oder eine Seifenblase, die wunderbarerweise ihres
eignen Farbenspiels inne wird, ehe sie platzt? Wir wissen es nicht; wir
können das eine oder das andre glauben. aber niemals von dem einen oder
von dem andern eine wissenschaftliche Überzeugung gewinnen; wir wissen nicht
einmal genau, was alles zu unserm Seeleninhalt gehört, was wir wissen
und nicht wissen, wir kennen nicht einmal die Beweggründe unsrer eignen
Handlungen.

Also nur jene drei siud exakte Naturwissenschaften außer den beschreibenden,
nicht aber sind es die Geologie und die Biologie, und sie können es auch
niemals werden, denn es ist niemand dabei gewesen beim Werdeprozeß der
Dinge, der uns darüber berichten könnte, oder der uns zuverlässige Berichte
hinterlassen hätte. Die sogenannten Urkunden in den Gesteinen beglaubigen
nicht alles, was die Geologen und die Biologen mit ihnen beweisen wollen.
Das Skelett eines vorweltlichen Ungeheuers beweist freilich, daß vor Zeiten
solche Ungeheuer auf Erden gehaust haben, aber über seine Entstehungsweise
giebt es so wenig Auskunft wie über die Entstehungsweise der übrigen orga¬
nischen Wesen. Mit den Sauriern der Vorwelt ist nicht eine Spur von Auf¬
klärung darüber gegeben, wie es zugegangen ist, daß die Erde heute nicht mit
dergleichen scheußlichen Ungeheuern bevölkert ist, sondern mit Menschen, die
zwar zum Teil nicht minder scheußliche Ungeheuer sind, solche aber nicht not¬
wendig sein müssen, sondern auch ebenso gut Ebenbilder Gottes sein können.
sind doch sogar die geschriebnen Urkunden untergegangner Völker recht un¬
zuverlässig, weil ihre Deutung durch die Gelehrten vom Publikum nicht geprüft
werden kann. Ein berühmter Mann schrieb uns einmal, die ganze Ägyptologie
sei Humbug, eine l-ibis eonvonus. Wir möchten von Männern wie Lepsius
und Ebers nicht gern gering denken, aber widerlegen können wir das harte
Urteil auch uicht, deun wir sind nicht in der Lage, die Kunst der Hieroglyphe"-
erklcirung zu erlernen und Papyrusse zu entziffern; und wie viel gebildete
Männer können es? Von je tausend noch lange nicht einer. So bleibt der
öffentlichen Kontrolle entzogen, was ein paar Dutzend Gelehrte herausgefunden
haben wollen, und wir andern nehmen das Veröffentlichte, ohne die geringste
Möglichkeit einer Prüfung, gläubig an in der Hoffnung, daß, wenn es nicht
wahr sein sollte, doch wohl ein andrer Fachgelehrter kommen und die an¬
geblichen Ergebnisse umstoßen werde. Dagegen stehen die Ergebnisse der exakten
Wissenschaften unter öffentlicher Kontrolle; jedes Kind vermag zu unterscheiden,
ob der Abendstern zu der Zeit und an dem Orte am Himmel erscheint, den
der Kalender vorausgesagt hat. und ob die vom Experimentator angekündigten
Farbenerscheinungen in einer Geißlerschen Röhre zu sehen sind oder nicht.

Dazu kommt noch ein Umstand, der die Unsicherheit der Geologie und
der Biologie erhöht. Von den exakten Wissenschaften ist nur eine, die Astro-


vom Neudarwinismus

Vorstellung gewinnen können? Ist das Denkende, Fühlende, Wollende in uns
ein unzerstörbares Wesen oder eine Seifenblase, die wunderbarerweise ihres
eignen Farbenspiels inne wird, ehe sie platzt? Wir wissen es nicht; wir
können das eine oder das andre glauben. aber niemals von dem einen oder
von dem andern eine wissenschaftliche Überzeugung gewinnen; wir wissen nicht
einmal genau, was alles zu unserm Seeleninhalt gehört, was wir wissen
und nicht wissen, wir kennen nicht einmal die Beweggründe unsrer eignen
Handlungen.

Also nur jene drei siud exakte Naturwissenschaften außer den beschreibenden,
nicht aber sind es die Geologie und die Biologie, und sie können es auch
niemals werden, denn es ist niemand dabei gewesen beim Werdeprozeß der
Dinge, der uns darüber berichten könnte, oder der uns zuverlässige Berichte
hinterlassen hätte. Die sogenannten Urkunden in den Gesteinen beglaubigen
nicht alles, was die Geologen und die Biologen mit ihnen beweisen wollen.
Das Skelett eines vorweltlichen Ungeheuers beweist freilich, daß vor Zeiten
solche Ungeheuer auf Erden gehaust haben, aber über seine Entstehungsweise
giebt es so wenig Auskunft wie über die Entstehungsweise der übrigen orga¬
nischen Wesen. Mit den Sauriern der Vorwelt ist nicht eine Spur von Auf¬
klärung darüber gegeben, wie es zugegangen ist, daß die Erde heute nicht mit
dergleichen scheußlichen Ungeheuern bevölkert ist, sondern mit Menschen, die
zwar zum Teil nicht minder scheußliche Ungeheuer sind, solche aber nicht not¬
wendig sein müssen, sondern auch ebenso gut Ebenbilder Gottes sein können.
sind doch sogar die geschriebnen Urkunden untergegangner Völker recht un¬
zuverlässig, weil ihre Deutung durch die Gelehrten vom Publikum nicht geprüft
werden kann. Ein berühmter Mann schrieb uns einmal, die ganze Ägyptologie
sei Humbug, eine l-ibis eonvonus. Wir möchten von Männern wie Lepsius
und Ebers nicht gern gering denken, aber widerlegen können wir das harte
Urteil auch uicht, deun wir sind nicht in der Lage, die Kunst der Hieroglyphe»-
erklcirung zu erlernen und Papyrusse zu entziffern; und wie viel gebildete
Männer können es? Von je tausend noch lange nicht einer. So bleibt der
öffentlichen Kontrolle entzogen, was ein paar Dutzend Gelehrte herausgefunden
haben wollen, und wir andern nehmen das Veröffentlichte, ohne die geringste
Möglichkeit einer Prüfung, gläubig an in der Hoffnung, daß, wenn es nicht
wahr sein sollte, doch wohl ein andrer Fachgelehrter kommen und die an¬
geblichen Ergebnisse umstoßen werde. Dagegen stehen die Ergebnisse der exakten
Wissenschaften unter öffentlicher Kontrolle; jedes Kind vermag zu unterscheiden,
ob der Abendstern zu der Zeit und an dem Orte am Himmel erscheint, den
der Kalender vorausgesagt hat. und ob die vom Experimentator angekündigten
Farbenerscheinungen in einer Geißlerschen Röhre zu sehen sind oder nicht.

Dazu kommt noch ein Umstand, der die Unsicherheit der Geologie und
der Biologie erhöht. Von den exakten Wissenschaften ist nur eine, die Astro-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0531" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225459"/>
          <fw type="header" place="top"> vom Neudarwinismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1706" prev="#ID_1705"> Vorstellung gewinnen können? Ist das Denkende, Fühlende, Wollende in uns<lb/>
ein unzerstörbares Wesen oder eine Seifenblase, die wunderbarerweise ihres<lb/>
eignen Farbenspiels inne wird, ehe sie platzt? Wir wissen es nicht; wir<lb/>
können das eine oder das andre glauben. aber niemals von dem einen oder<lb/>
von dem andern eine wissenschaftliche Überzeugung gewinnen; wir wissen nicht<lb/>
einmal genau, was alles zu unserm Seeleninhalt gehört, was wir wissen<lb/>
und nicht wissen, wir kennen nicht einmal die Beweggründe unsrer eignen<lb/>
Handlungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1707"> Also nur jene drei siud exakte Naturwissenschaften außer den beschreibenden,<lb/>
nicht aber sind es die Geologie und die Biologie, und sie können es auch<lb/>
niemals werden, denn es ist niemand dabei gewesen beim Werdeprozeß der<lb/>
Dinge, der uns darüber berichten könnte, oder der uns zuverlässige Berichte<lb/>
hinterlassen hätte. Die sogenannten Urkunden in den Gesteinen beglaubigen<lb/>
nicht alles, was die Geologen und die Biologen mit ihnen beweisen wollen.<lb/>
Das Skelett eines vorweltlichen Ungeheuers beweist freilich, daß vor Zeiten<lb/>
solche Ungeheuer auf Erden gehaust haben, aber über seine Entstehungsweise<lb/>
giebt es so wenig Auskunft wie über die Entstehungsweise der übrigen orga¬<lb/>
nischen Wesen. Mit den Sauriern der Vorwelt ist nicht eine Spur von Auf¬<lb/>
klärung darüber gegeben, wie es zugegangen ist, daß die Erde heute nicht mit<lb/>
dergleichen scheußlichen Ungeheuern bevölkert ist, sondern mit Menschen, die<lb/>
zwar zum Teil nicht minder scheußliche Ungeheuer sind, solche aber nicht not¬<lb/>
wendig sein müssen, sondern auch ebenso gut Ebenbilder Gottes sein können.<lb/>
sind doch sogar die geschriebnen Urkunden untergegangner Völker recht un¬<lb/>
zuverlässig, weil ihre Deutung durch die Gelehrten vom Publikum nicht geprüft<lb/>
werden kann. Ein berühmter Mann schrieb uns einmal, die ganze Ägyptologie<lb/>
sei Humbug, eine l-ibis eonvonus. Wir möchten von Männern wie Lepsius<lb/>
und Ebers nicht gern gering denken, aber widerlegen können wir das harte<lb/>
Urteil auch uicht, deun wir sind nicht in der Lage, die Kunst der Hieroglyphe»-<lb/>
erklcirung zu erlernen und Papyrusse zu entziffern; und wie viel gebildete<lb/>
Männer können es? Von je tausend noch lange nicht einer. So bleibt der<lb/>
öffentlichen Kontrolle entzogen, was ein paar Dutzend Gelehrte herausgefunden<lb/>
haben wollen, und wir andern nehmen das Veröffentlichte, ohne die geringste<lb/>
Möglichkeit einer Prüfung, gläubig an in der Hoffnung, daß, wenn es nicht<lb/>
wahr sein sollte, doch wohl ein andrer Fachgelehrter kommen und die an¬<lb/>
geblichen Ergebnisse umstoßen werde. Dagegen stehen die Ergebnisse der exakten<lb/>
Wissenschaften unter öffentlicher Kontrolle; jedes Kind vermag zu unterscheiden,<lb/>
ob der Abendstern zu der Zeit und an dem Orte am Himmel erscheint, den<lb/>
der Kalender vorausgesagt hat. und ob die vom Experimentator angekündigten<lb/>
Farbenerscheinungen in einer Geißlerschen Röhre zu sehen sind oder nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1708" next="#ID_1709"> Dazu kommt noch ein Umstand, der die Unsicherheit der Geologie und<lb/>
der Biologie erhöht.  Von den exakten Wissenschaften ist nur eine, die Astro-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0531] vom Neudarwinismus Vorstellung gewinnen können? Ist das Denkende, Fühlende, Wollende in uns ein unzerstörbares Wesen oder eine Seifenblase, die wunderbarerweise ihres eignen Farbenspiels inne wird, ehe sie platzt? Wir wissen es nicht; wir können das eine oder das andre glauben. aber niemals von dem einen oder von dem andern eine wissenschaftliche Überzeugung gewinnen; wir wissen nicht einmal genau, was alles zu unserm Seeleninhalt gehört, was wir wissen und nicht wissen, wir kennen nicht einmal die Beweggründe unsrer eignen Handlungen. Also nur jene drei siud exakte Naturwissenschaften außer den beschreibenden, nicht aber sind es die Geologie und die Biologie, und sie können es auch niemals werden, denn es ist niemand dabei gewesen beim Werdeprozeß der Dinge, der uns darüber berichten könnte, oder der uns zuverlässige Berichte hinterlassen hätte. Die sogenannten Urkunden in den Gesteinen beglaubigen nicht alles, was die Geologen und die Biologen mit ihnen beweisen wollen. Das Skelett eines vorweltlichen Ungeheuers beweist freilich, daß vor Zeiten solche Ungeheuer auf Erden gehaust haben, aber über seine Entstehungsweise giebt es so wenig Auskunft wie über die Entstehungsweise der übrigen orga¬ nischen Wesen. Mit den Sauriern der Vorwelt ist nicht eine Spur von Auf¬ klärung darüber gegeben, wie es zugegangen ist, daß die Erde heute nicht mit dergleichen scheußlichen Ungeheuern bevölkert ist, sondern mit Menschen, die zwar zum Teil nicht minder scheußliche Ungeheuer sind, solche aber nicht not¬ wendig sein müssen, sondern auch ebenso gut Ebenbilder Gottes sein können. sind doch sogar die geschriebnen Urkunden untergegangner Völker recht un¬ zuverlässig, weil ihre Deutung durch die Gelehrten vom Publikum nicht geprüft werden kann. Ein berühmter Mann schrieb uns einmal, die ganze Ägyptologie sei Humbug, eine l-ibis eonvonus. Wir möchten von Männern wie Lepsius und Ebers nicht gern gering denken, aber widerlegen können wir das harte Urteil auch uicht, deun wir sind nicht in der Lage, die Kunst der Hieroglyphe»- erklcirung zu erlernen und Papyrusse zu entziffern; und wie viel gebildete Männer können es? Von je tausend noch lange nicht einer. So bleibt der öffentlichen Kontrolle entzogen, was ein paar Dutzend Gelehrte herausgefunden haben wollen, und wir andern nehmen das Veröffentlichte, ohne die geringste Möglichkeit einer Prüfung, gläubig an in der Hoffnung, daß, wenn es nicht wahr sein sollte, doch wohl ein andrer Fachgelehrter kommen und die an¬ geblichen Ergebnisse umstoßen werde. Dagegen stehen die Ergebnisse der exakten Wissenschaften unter öffentlicher Kontrolle; jedes Kind vermag zu unterscheiden, ob der Abendstern zu der Zeit und an dem Orte am Himmel erscheint, den der Kalender vorausgesagt hat. und ob die vom Experimentator angekündigten Farbenerscheinungen in einer Geißlerschen Röhre zu sehen sind oder nicht. Dazu kommt noch ein Umstand, der die Unsicherheit der Geologie und der Biologie erhöht. Von den exakten Wissenschaften ist nur eine, die Astro-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/531
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/531>, abgerufen am 23.07.2024.