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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

Dabei werden denn auch die alten Tiergeschichten eine wichtige Umwandlung
erlitten haben, und überhaupt der Charakter der Fabel zum erstenmale gründ¬
lich verändert worden sein.

Die Anfänge dieser Umbildung freilich liegen sicher viel weiter zurück.
Auch die deutsche Tierfabel hat sich ja vollkommen nach der satirisch-humo¬
ristischen Seite hin entwickelt und gewiß nicht erst auf die Anregung der
äsopischen Fabeln hin, und selbst die Tiergeschichten der primitivem Völker
zeigen eine merkwürdige Neigung zur Komik, und zwar zu einer Komik im
Sinne unsers listigen und verschlagnen Reineke Fuchs. Mit großer Vorliebe
wird immer wieder dargestellt, wie ein großes, plumpes Tier von einem kleinen
überlistet, geneckt oder getötet wird, oder wie das schwächere Tier etwas voll¬
bringt, was dem stärkern unmöglich ist. Die Neigung zu dieser Art Fabeln,
die eine besondre Gruppe bilden, ist für die Entwicklung des menschlichen
Geistes höchst charakteristisch und lehrreich, denn bei aller ihrer scherzhaften
Außenseite enthalten diese Erzählungen doch schon einen lehrhaften Kern. Das
Bewußtsein, daß die mächtigste Waffe des Menschen der Geist ist, daß er nicht
hoffen darf, sich mit bloßer Gewalt der Erde zu bemeistern, sondern nur mit
List und Gewandtheit, das macht ihn geneigt, die Listen und Streiche der
Tierwelt zu beobachten, nachzuahmen und in phantastischen Erzählungen zu
verherrlichen. Allen Geschichten dieser Art lauscht er besonders gern, sie gehen
von Mund zu Mund, von Volk zu Volk, bis sie fast ein Gemeingut der
Menschheit sind. Der pfiffige Streich, womit der langsame Swinegel den
schnellen Hasen im Wettlauf besiegt, ist den Negern am obern Nil in wenig
veränderter Form bekannt, und die Geschichte vom Löwen, den eine Maus
aus dein Netze des Jägers befreien muß, kehrt überall wieder.

Auch bei dieser Art der Tierfabel liegt natürlich eine vergleichende An¬
wendung auf rein menschliche Zustände sehr nahe, obwohl sie ursprünglich
nicht beabsichtigt war. Wer sich schlauer dünkt als andre, sieht sich selbst in
dem klugem und erfolgreichem der Tiere vorgebildet, und besonders wird es
den gebildeter", in allen Kniffen und Pfiffen erfahrnen Bewohnern der großen
Städte immer nahe gelegen haben, die Spitze der Fabeln gegen die umwohnenden
einfachen und beschränkten Bauern zu kehren, dadurch der eignen Überlegenheit
sich bewußt zu werden und vou diesem angenehmen Standpunkte aus immer
neue satirische Geschichten zu erfinden. Der Großstädter hat von jeher diese
Neigung gehabt; nicht nur der moderne Berliner liebt es, harmlose Provinziellen
aus Kyritz und Phritz in ihrer hilflosen Verwirrung gegenüber den Wundern
der Weltstadt zu belächeln, schon der gutmütige Hans Sachs fühlt sich den
Bauern gegenüber als höherstehender Bürger Nürnbergs und ist in seinem
Spotte schonungslos und ungerecht. Im Altertum mögen besonders die Be¬
wohner griechischer Pflanzstädte in halbbarbarischen Gegenden ihre Gottähnlich¬
keit gegenüber dem plumpen Landvolk gefühlt haben, und die einmal vor-


Die Tierfabel

Dabei werden denn auch die alten Tiergeschichten eine wichtige Umwandlung
erlitten haben, und überhaupt der Charakter der Fabel zum erstenmale gründ¬
lich verändert worden sein.

Die Anfänge dieser Umbildung freilich liegen sicher viel weiter zurück.
Auch die deutsche Tierfabel hat sich ja vollkommen nach der satirisch-humo¬
ristischen Seite hin entwickelt und gewiß nicht erst auf die Anregung der
äsopischen Fabeln hin, und selbst die Tiergeschichten der primitivem Völker
zeigen eine merkwürdige Neigung zur Komik, und zwar zu einer Komik im
Sinne unsers listigen und verschlagnen Reineke Fuchs. Mit großer Vorliebe
wird immer wieder dargestellt, wie ein großes, plumpes Tier von einem kleinen
überlistet, geneckt oder getötet wird, oder wie das schwächere Tier etwas voll¬
bringt, was dem stärkern unmöglich ist. Die Neigung zu dieser Art Fabeln,
die eine besondre Gruppe bilden, ist für die Entwicklung des menschlichen
Geistes höchst charakteristisch und lehrreich, denn bei aller ihrer scherzhaften
Außenseite enthalten diese Erzählungen doch schon einen lehrhaften Kern. Das
Bewußtsein, daß die mächtigste Waffe des Menschen der Geist ist, daß er nicht
hoffen darf, sich mit bloßer Gewalt der Erde zu bemeistern, sondern nur mit
List und Gewandtheit, das macht ihn geneigt, die Listen und Streiche der
Tierwelt zu beobachten, nachzuahmen und in phantastischen Erzählungen zu
verherrlichen. Allen Geschichten dieser Art lauscht er besonders gern, sie gehen
von Mund zu Mund, von Volk zu Volk, bis sie fast ein Gemeingut der
Menschheit sind. Der pfiffige Streich, womit der langsame Swinegel den
schnellen Hasen im Wettlauf besiegt, ist den Negern am obern Nil in wenig
veränderter Form bekannt, und die Geschichte vom Löwen, den eine Maus
aus dein Netze des Jägers befreien muß, kehrt überall wieder.

Auch bei dieser Art der Tierfabel liegt natürlich eine vergleichende An¬
wendung auf rein menschliche Zustände sehr nahe, obwohl sie ursprünglich
nicht beabsichtigt war. Wer sich schlauer dünkt als andre, sieht sich selbst in
dem klugem und erfolgreichem der Tiere vorgebildet, und besonders wird es
den gebildeter«, in allen Kniffen und Pfiffen erfahrnen Bewohnern der großen
Städte immer nahe gelegen haben, die Spitze der Fabeln gegen die umwohnenden
einfachen und beschränkten Bauern zu kehren, dadurch der eignen Überlegenheit
sich bewußt zu werden und vou diesem angenehmen Standpunkte aus immer
neue satirische Geschichten zu erfinden. Der Großstädter hat von jeher diese
Neigung gehabt; nicht nur der moderne Berliner liebt es, harmlose Provinziellen
aus Kyritz und Phritz in ihrer hilflosen Verwirrung gegenüber den Wundern
der Weltstadt zu belächeln, schon der gutmütige Hans Sachs fühlt sich den
Bauern gegenüber als höherstehender Bürger Nürnbergs und ist in seinem
Spotte schonungslos und ungerecht. Im Altertum mögen besonders die Be¬
wohner griechischer Pflanzstädte in halbbarbarischen Gegenden ihre Gottähnlich¬
keit gegenüber dem plumpen Landvolk gefühlt haben, und die einmal vor-


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[0484] Die Tierfabel Dabei werden denn auch die alten Tiergeschichten eine wichtige Umwandlung erlitten haben, und überhaupt der Charakter der Fabel zum erstenmale gründ¬ lich verändert worden sein. Die Anfänge dieser Umbildung freilich liegen sicher viel weiter zurück. Auch die deutsche Tierfabel hat sich ja vollkommen nach der satirisch-humo¬ ristischen Seite hin entwickelt und gewiß nicht erst auf die Anregung der äsopischen Fabeln hin, und selbst die Tiergeschichten der primitivem Völker zeigen eine merkwürdige Neigung zur Komik, und zwar zu einer Komik im Sinne unsers listigen und verschlagnen Reineke Fuchs. Mit großer Vorliebe wird immer wieder dargestellt, wie ein großes, plumpes Tier von einem kleinen überlistet, geneckt oder getötet wird, oder wie das schwächere Tier etwas voll¬ bringt, was dem stärkern unmöglich ist. Die Neigung zu dieser Art Fabeln, die eine besondre Gruppe bilden, ist für die Entwicklung des menschlichen Geistes höchst charakteristisch und lehrreich, denn bei aller ihrer scherzhaften Außenseite enthalten diese Erzählungen doch schon einen lehrhaften Kern. Das Bewußtsein, daß die mächtigste Waffe des Menschen der Geist ist, daß er nicht hoffen darf, sich mit bloßer Gewalt der Erde zu bemeistern, sondern nur mit List und Gewandtheit, das macht ihn geneigt, die Listen und Streiche der Tierwelt zu beobachten, nachzuahmen und in phantastischen Erzählungen zu verherrlichen. Allen Geschichten dieser Art lauscht er besonders gern, sie gehen von Mund zu Mund, von Volk zu Volk, bis sie fast ein Gemeingut der Menschheit sind. Der pfiffige Streich, womit der langsame Swinegel den schnellen Hasen im Wettlauf besiegt, ist den Negern am obern Nil in wenig veränderter Form bekannt, und die Geschichte vom Löwen, den eine Maus aus dein Netze des Jägers befreien muß, kehrt überall wieder. Auch bei dieser Art der Tierfabel liegt natürlich eine vergleichende An¬ wendung auf rein menschliche Zustände sehr nahe, obwohl sie ursprünglich nicht beabsichtigt war. Wer sich schlauer dünkt als andre, sieht sich selbst in dem klugem und erfolgreichem der Tiere vorgebildet, und besonders wird es den gebildeter«, in allen Kniffen und Pfiffen erfahrnen Bewohnern der großen Städte immer nahe gelegen haben, die Spitze der Fabeln gegen die umwohnenden einfachen und beschränkten Bauern zu kehren, dadurch der eignen Überlegenheit sich bewußt zu werden und vou diesem angenehmen Standpunkte aus immer neue satirische Geschichten zu erfinden. Der Großstädter hat von jeher diese Neigung gehabt; nicht nur der moderne Berliner liebt es, harmlose Provinziellen aus Kyritz und Phritz in ihrer hilflosen Verwirrung gegenüber den Wundern der Weltstadt zu belächeln, schon der gutmütige Hans Sachs fühlt sich den Bauern gegenüber als höherstehender Bürger Nürnbergs und ist in seinem Spotte schonungslos und ungerecht. Im Altertum mögen besonders die Be¬ wohner griechischer Pflanzstädte in halbbarbarischen Gegenden ihre Gottähnlich¬ keit gegenüber dem plumpen Landvolk gefühlt haben, und die einmal vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/484>, abgerufen am 23.07.2024.