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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

Wagens und Gelingens empfand, die naiv, nicht reflektirt handelt, wie die
Griechen in ihrer großen Zeit.

Und ist es denn ein Zufall, daß unsre klassische Litteratur mit der Entdeckung
des echten Griechentums aufging, daß alle unsre großen Dichter sich in das
klassische Hellenentum versenkten, daß Lessing zuerst die Größe eines Homer
und Sophokles erkannte, Schiller sehnsüchtig die "Götter Griechenlands" dichtete
und so feinsinnig das tiefste Herzensgeheimnis der Griechen erkannte, wenn er
im "Siegesfeste" seinen Neoptolemos sagen ließ:

daß Goethe sein schönstes Drama einem griechischen Gegenstande widmete und
selbst jahrelang im sonnigen Süden verweilte, wo es ihm für das Verständnis
Homers "wie Schuppen von den Augen fiel"? Ist es ein Zufall, daß der deutsche
Historiker, in dem die stärkste nationale Leidenschaft glühte, H. v. Treitschke,
den Hellenen so warme Teilnahme schenkte, obwohl er niemals über
griechische Geschichte geschrieben hat? Sie alle fühlten und wußten, daß
unsrer nordischen Natur, unsrer Schwerfälligkeit, unsrer Neigung zum düstern
Grübeln, unsrer mangelhaften ästhetischen Anlage als Ergänzung nichts not¬
wendiger ist als etwas von südlicher Leichtlebigkeit, von südlicher Lebens-
freude, von südlichem Schönheitssinn. Und darum ist es ein tiefberechtigtes
Bedürfnis, wenn jetzt, wo die klassischen Stätten so leicht zu erreichen sind,
auch der Gymnasialphilologe gern nach dem Süden zieht, und man soll das
fördern und nicht erschweren, es ist für alle überhaupt empfänglichen Naturen
das beste Mittel gegen alle schulmeisterliche Pedanterie und allen formalistischen
Zopf. Denn wer einmal im purpurvioletten Abendsonnenglanze auf dem
Monte Testciccio gestanden hat, das weite Rom zu Füßen und ringsum am
Horizont die feinen Gebirgslinien vom zackigen Sorakte bis zum Mons
Albanus, dem Monte Cavo, wer von dem Forum in Pompeji nach den eleganten,
stolzen Umrissen des rauchenden Vesuvkegcls und hinüber nach den scharfen
Kämmen der Halbinsel von Sorrento geschaut hat, wer das blaue Südmeer
durch die goldbraunem Säulen des majestätischen Poseidontempels von Pästum
hat leuchten sehen, oder wer gar am Fuße des Parthenon von der Akropolis
aus den Blick hat schweifen lassen über den silbergrauen Olivenwald der attischen
Ebene, über Salamis und die fernen Vergzüge des Peloponnes und den glän¬
zenden Meeresspiegel dazwischen, in dessen Seele schimmert zeitlebens etwas von
dem Sonnenglanze des Südens, und ihm wird klar, daß das Altertum dort


Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

Wagens und Gelingens empfand, die naiv, nicht reflektirt handelt, wie die
Griechen in ihrer großen Zeit.

Und ist es denn ein Zufall, daß unsre klassische Litteratur mit der Entdeckung
des echten Griechentums aufging, daß alle unsre großen Dichter sich in das
klassische Hellenentum versenkten, daß Lessing zuerst die Größe eines Homer
und Sophokles erkannte, Schiller sehnsüchtig die „Götter Griechenlands" dichtete
und so feinsinnig das tiefste Herzensgeheimnis der Griechen erkannte, wenn er
im „Siegesfeste" seinen Neoptolemos sagen ließ:

daß Goethe sein schönstes Drama einem griechischen Gegenstande widmete und
selbst jahrelang im sonnigen Süden verweilte, wo es ihm für das Verständnis
Homers „wie Schuppen von den Augen fiel"? Ist es ein Zufall, daß der deutsche
Historiker, in dem die stärkste nationale Leidenschaft glühte, H. v. Treitschke,
den Hellenen so warme Teilnahme schenkte, obwohl er niemals über
griechische Geschichte geschrieben hat? Sie alle fühlten und wußten, daß
unsrer nordischen Natur, unsrer Schwerfälligkeit, unsrer Neigung zum düstern
Grübeln, unsrer mangelhaften ästhetischen Anlage als Ergänzung nichts not¬
wendiger ist als etwas von südlicher Leichtlebigkeit, von südlicher Lebens-
freude, von südlichem Schönheitssinn. Und darum ist es ein tiefberechtigtes
Bedürfnis, wenn jetzt, wo die klassischen Stätten so leicht zu erreichen sind,
auch der Gymnasialphilologe gern nach dem Süden zieht, und man soll das
fördern und nicht erschweren, es ist für alle überhaupt empfänglichen Naturen
das beste Mittel gegen alle schulmeisterliche Pedanterie und allen formalistischen
Zopf. Denn wer einmal im purpurvioletten Abendsonnenglanze auf dem
Monte Testciccio gestanden hat, das weite Rom zu Füßen und ringsum am
Horizont die feinen Gebirgslinien vom zackigen Sorakte bis zum Mons
Albanus, dem Monte Cavo, wer von dem Forum in Pompeji nach den eleganten,
stolzen Umrissen des rauchenden Vesuvkegcls und hinüber nach den scharfen
Kämmen der Halbinsel von Sorrento geschaut hat, wer das blaue Südmeer
durch die goldbraunem Säulen des majestätischen Poseidontempels von Pästum
hat leuchten sehen, oder wer gar am Fuße des Parthenon von der Akropolis
aus den Blick hat schweifen lassen über den silbergrauen Olivenwald der attischen
Ebene, über Salamis und die fernen Vergzüge des Peloponnes und den glän¬
zenden Meeresspiegel dazwischen, in dessen Seele schimmert zeitlebens etwas von
dem Sonnenglanze des Südens, und ihm wird klar, daß das Altertum dort


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[0462] Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart Wagens und Gelingens empfand, die naiv, nicht reflektirt handelt, wie die Griechen in ihrer großen Zeit. Und ist es denn ein Zufall, daß unsre klassische Litteratur mit der Entdeckung des echten Griechentums aufging, daß alle unsre großen Dichter sich in das klassische Hellenentum versenkten, daß Lessing zuerst die Größe eines Homer und Sophokles erkannte, Schiller sehnsüchtig die „Götter Griechenlands" dichtete und so feinsinnig das tiefste Herzensgeheimnis der Griechen erkannte, wenn er im „Siegesfeste" seinen Neoptolemos sagen ließ: daß Goethe sein schönstes Drama einem griechischen Gegenstande widmete und selbst jahrelang im sonnigen Süden verweilte, wo es ihm für das Verständnis Homers „wie Schuppen von den Augen fiel"? Ist es ein Zufall, daß der deutsche Historiker, in dem die stärkste nationale Leidenschaft glühte, H. v. Treitschke, den Hellenen so warme Teilnahme schenkte, obwohl er niemals über griechische Geschichte geschrieben hat? Sie alle fühlten und wußten, daß unsrer nordischen Natur, unsrer Schwerfälligkeit, unsrer Neigung zum düstern Grübeln, unsrer mangelhaften ästhetischen Anlage als Ergänzung nichts not¬ wendiger ist als etwas von südlicher Leichtlebigkeit, von südlicher Lebens- freude, von südlichem Schönheitssinn. Und darum ist es ein tiefberechtigtes Bedürfnis, wenn jetzt, wo die klassischen Stätten so leicht zu erreichen sind, auch der Gymnasialphilologe gern nach dem Süden zieht, und man soll das fördern und nicht erschweren, es ist für alle überhaupt empfänglichen Naturen das beste Mittel gegen alle schulmeisterliche Pedanterie und allen formalistischen Zopf. Denn wer einmal im purpurvioletten Abendsonnenglanze auf dem Monte Testciccio gestanden hat, das weite Rom zu Füßen und ringsum am Horizont die feinen Gebirgslinien vom zackigen Sorakte bis zum Mons Albanus, dem Monte Cavo, wer von dem Forum in Pompeji nach den eleganten, stolzen Umrissen des rauchenden Vesuvkegcls und hinüber nach den scharfen Kämmen der Halbinsel von Sorrento geschaut hat, wer das blaue Südmeer durch die goldbraunem Säulen des majestätischen Poseidontempels von Pästum hat leuchten sehen, oder wer gar am Fuße des Parthenon von der Akropolis aus den Blick hat schweifen lassen über den silbergrauen Olivenwald der attischen Ebene, über Salamis und die fernen Vergzüge des Peloponnes und den glän¬ zenden Meeresspiegel dazwischen, in dessen Seele schimmert zeitlebens etwas von dem Sonnenglanze des Südens, und ihm wird klar, daß das Altertum dort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/462>, abgerufen am 23.07.2024.