Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
München und Konstanz

wird oder gar zu viel zu stoßen genötigt ist. Zunächst also erlitt ich keinen
Zusammenstoß. Eine Zeit lang fühlte ich mich etwas einsam, da ich den
ganzen Tag keine Unterhaltung hatte als die des Pfarrers und nur etwa
einmal die Woche ein paar Abendstunden im Gerstensaat zubrachte. Aber eines
Tages lud mich der Rechner der Kirchengemeinde, Kaufmann Delisle, zu sich
ein, und von da ab genoß ich oft seine Gesellschaft und die seiner Familie.
Delisle war trotz seines französischen Namens und seiner persönlichen Freund¬
schaft für Napoleon III. (sie waren Schulkameraden gewesen, und der Kaiser
besuchte ihn, so ost er in Arenenberg weilte) ein guter deutscher Patriot und
vereinigte alle guten Eigenschaften des deutschen und des französischen Kauf¬
manns und Familienvaters. Im Winter waltete er jeden Sonntag Abend
als Patriarch im Kreise der Seinen. Zu den beiden unverheirateten Kindern,
einem Sohne, der in seinem Geschüft war, und einer tüchtigen und verstündigen
Tochter, die jetzt, wie ich ab und zu lese, als Vorsteherin eines altkatholischcn
Frauenvereins eine eifrige Thätigkeit für die Armen entfaltet, kamen die
beiden verheirateten Sohne mit ihren Frauen und versammelten sich um den
verehrten Vater und die freundliche Mutter. Nach Tische wurde ein Solo
gespielt, bei dem ich eine phänomenale Ungeschicklichkeit entwickelte. Im Sommer
begleitete mich Delisle oft auf meinem täglichen Spaziergange; er war sehr
hager und für seine siebzig Jahre sehr gut zu Fuß. Auch führte er mich in
die Ochsengesellschaft ein -- so genannt, weil sie sich im Ochsen in Kreuz-
ungen versammelte --, zu der einige Gymnasial- und Bürgerschullehrer und
u. ni. auch der kunst- und altertumskundige Konservator des Rosgartenmuseums,
Apotheker Leiner, gehörten. Dazu kamen die herrliche Natur und eine gute
Bibliothek -- die mit einer Kupferstich- und Gemäldesammlung verbundne
Wessenbergbibliothek --, sodaß es ein recht erfreuliches Dasein hätte genannt
werden können, wenn meine amtliche Stellung anders gewesen wäre.

Die war aber leider nicht darnach, eine zufriedne Stimmung zu erzeugen.
Ich erfuhr eine Stufenfolge von Rangerhöhungen ganz eigner Art. Zunächst
wurde ich zum Vertreter Hosemanns bestellt mit freier Station beim Pfarrer
und monatlich siebzig Mark Gehalt, die von Bonn aus gezahlt wurden. Am
11. März 1879 wurde ich mit Berufung auf einige Bestimmungen des kano¬
nischen Rechts zum Koadjutor ernannt und mit freier Station und fünfzig
Mark monatlich aus den Pfarreieinkünften dotirt. Am 19. August endlich
wurde ich zum Pfarrverweser befördert "mit allen Rechten des Pfarrers bis
zur definitiven Besetzung." Und von da ab bekam ich gar nichts mehr außer
der Wohnung, die ich inne hatte. Freilich bekam ich auch das Essen, dank
der Margaret, die ohne Berufung auf kanonische Capitula im Hause gelassen
worden war. Sie war von allen Pfarrersköchinnen, die ich zu studiren Ge¬
legenheit gehabt habe, die gutmütigste; eine drollige Münchnerin, die abends
ein paar Moaßkrügeln leerte, dann schmerzlich gerührt ihrem lieben armen


München und Konstanz

wird oder gar zu viel zu stoßen genötigt ist. Zunächst also erlitt ich keinen
Zusammenstoß. Eine Zeit lang fühlte ich mich etwas einsam, da ich den
ganzen Tag keine Unterhaltung hatte als die des Pfarrers und nur etwa
einmal die Woche ein paar Abendstunden im Gerstensaat zubrachte. Aber eines
Tages lud mich der Rechner der Kirchengemeinde, Kaufmann Delisle, zu sich
ein, und von da ab genoß ich oft seine Gesellschaft und die seiner Familie.
Delisle war trotz seines französischen Namens und seiner persönlichen Freund¬
schaft für Napoleon III. (sie waren Schulkameraden gewesen, und der Kaiser
besuchte ihn, so ost er in Arenenberg weilte) ein guter deutscher Patriot und
vereinigte alle guten Eigenschaften des deutschen und des französischen Kauf¬
manns und Familienvaters. Im Winter waltete er jeden Sonntag Abend
als Patriarch im Kreise der Seinen. Zu den beiden unverheirateten Kindern,
einem Sohne, der in seinem Geschüft war, und einer tüchtigen und verstündigen
Tochter, die jetzt, wie ich ab und zu lese, als Vorsteherin eines altkatholischcn
Frauenvereins eine eifrige Thätigkeit für die Armen entfaltet, kamen die
beiden verheirateten Sohne mit ihren Frauen und versammelten sich um den
verehrten Vater und die freundliche Mutter. Nach Tische wurde ein Solo
gespielt, bei dem ich eine phänomenale Ungeschicklichkeit entwickelte. Im Sommer
begleitete mich Delisle oft auf meinem täglichen Spaziergange; er war sehr
hager und für seine siebzig Jahre sehr gut zu Fuß. Auch führte er mich in
die Ochsengesellschaft ein — so genannt, weil sie sich im Ochsen in Kreuz-
ungen versammelte —, zu der einige Gymnasial- und Bürgerschullehrer und
u. ni. auch der kunst- und altertumskundige Konservator des Rosgartenmuseums,
Apotheker Leiner, gehörten. Dazu kamen die herrliche Natur und eine gute
Bibliothek — die mit einer Kupferstich- und Gemäldesammlung verbundne
Wessenbergbibliothek —, sodaß es ein recht erfreuliches Dasein hätte genannt
werden können, wenn meine amtliche Stellung anders gewesen wäre.

Die war aber leider nicht darnach, eine zufriedne Stimmung zu erzeugen.
Ich erfuhr eine Stufenfolge von Rangerhöhungen ganz eigner Art. Zunächst
wurde ich zum Vertreter Hosemanns bestellt mit freier Station beim Pfarrer
und monatlich siebzig Mark Gehalt, die von Bonn aus gezahlt wurden. Am
11. März 1879 wurde ich mit Berufung auf einige Bestimmungen des kano¬
nischen Rechts zum Koadjutor ernannt und mit freier Station und fünfzig
Mark monatlich aus den Pfarreieinkünften dotirt. Am 19. August endlich
wurde ich zum Pfarrverweser befördert „mit allen Rechten des Pfarrers bis
zur definitiven Besetzung." Und von da ab bekam ich gar nichts mehr außer
der Wohnung, die ich inne hatte. Freilich bekam ich auch das Essen, dank
der Margaret, die ohne Berufung auf kanonische Capitula im Hause gelassen
worden war. Sie war von allen Pfarrersköchinnen, die ich zu studiren Ge¬
legenheit gehabt habe, die gutmütigste; eine drollige Münchnerin, die abends
ein paar Moaßkrügeln leerte, dann schmerzlich gerührt ihrem lieben armen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0436" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225364"/>
          <fw type="header" place="top"> München und Konstanz</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1447" prev="#ID_1446"> wird oder gar zu viel zu stoßen genötigt ist. Zunächst also erlitt ich keinen<lb/>
Zusammenstoß. Eine Zeit lang fühlte ich mich etwas einsam, da ich den<lb/>
ganzen Tag keine Unterhaltung hatte als die des Pfarrers und nur etwa<lb/>
einmal die Woche ein paar Abendstunden im Gerstensaat zubrachte. Aber eines<lb/>
Tages lud mich der Rechner der Kirchengemeinde, Kaufmann Delisle, zu sich<lb/>
ein, und von da ab genoß ich oft seine Gesellschaft und die seiner Familie.<lb/>
Delisle war trotz seines französischen Namens und seiner persönlichen Freund¬<lb/>
schaft für Napoleon III. (sie waren Schulkameraden gewesen, und der Kaiser<lb/>
besuchte ihn, so ost er in Arenenberg weilte) ein guter deutscher Patriot und<lb/>
vereinigte alle guten Eigenschaften des deutschen und des französischen Kauf¬<lb/>
manns und Familienvaters. Im Winter waltete er jeden Sonntag Abend<lb/>
als Patriarch im Kreise der Seinen. Zu den beiden unverheirateten Kindern,<lb/>
einem Sohne, der in seinem Geschüft war, und einer tüchtigen und verstündigen<lb/>
Tochter, die jetzt, wie ich ab und zu lese, als Vorsteherin eines altkatholischcn<lb/>
Frauenvereins eine eifrige Thätigkeit für die Armen entfaltet, kamen die<lb/>
beiden verheirateten Sohne mit ihren Frauen und versammelten sich um den<lb/>
verehrten Vater und die freundliche Mutter. Nach Tische wurde ein Solo<lb/>
gespielt, bei dem ich eine phänomenale Ungeschicklichkeit entwickelte. Im Sommer<lb/>
begleitete mich Delisle oft auf meinem täglichen Spaziergange; er war sehr<lb/>
hager und für seine siebzig Jahre sehr gut zu Fuß. Auch führte er mich in<lb/>
die Ochsengesellschaft ein &#x2014; so genannt, weil sie sich im Ochsen in Kreuz-<lb/>
ungen versammelte &#x2014;, zu der einige Gymnasial- und Bürgerschullehrer und<lb/>
u. ni. auch der kunst- und altertumskundige Konservator des Rosgartenmuseums,<lb/>
Apotheker Leiner, gehörten. Dazu kamen die herrliche Natur und eine gute<lb/>
Bibliothek &#x2014; die mit einer Kupferstich- und Gemäldesammlung verbundne<lb/>
Wessenbergbibliothek &#x2014;, sodaß es ein recht erfreuliches Dasein hätte genannt<lb/>
werden können, wenn meine amtliche Stellung anders gewesen wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1448" next="#ID_1449"> Die war aber leider nicht darnach, eine zufriedne Stimmung zu erzeugen.<lb/>
Ich erfuhr eine Stufenfolge von Rangerhöhungen ganz eigner Art. Zunächst<lb/>
wurde ich zum Vertreter Hosemanns bestellt mit freier Station beim Pfarrer<lb/>
und monatlich siebzig Mark Gehalt, die von Bonn aus gezahlt wurden. Am<lb/>
11. März 1879 wurde ich mit Berufung auf einige Bestimmungen des kano¬<lb/>
nischen Rechts zum Koadjutor ernannt und mit freier Station und fünfzig<lb/>
Mark monatlich aus den Pfarreieinkünften dotirt. Am 19. August endlich<lb/>
wurde ich zum Pfarrverweser befördert &#x201E;mit allen Rechten des Pfarrers bis<lb/>
zur definitiven Besetzung." Und von da ab bekam ich gar nichts mehr außer<lb/>
der Wohnung, die ich inne hatte. Freilich bekam ich auch das Essen, dank<lb/>
der Margaret, die ohne Berufung auf kanonische Capitula im Hause gelassen<lb/>
worden war. Sie war von allen Pfarrersköchinnen, die ich zu studiren Ge¬<lb/>
legenheit gehabt habe, die gutmütigste; eine drollige Münchnerin, die abends<lb/>
ein paar Moaßkrügeln leerte, dann schmerzlich gerührt ihrem lieben armen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0436] München und Konstanz wird oder gar zu viel zu stoßen genötigt ist. Zunächst also erlitt ich keinen Zusammenstoß. Eine Zeit lang fühlte ich mich etwas einsam, da ich den ganzen Tag keine Unterhaltung hatte als die des Pfarrers und nur etwa einmal die Woche ein paar Abendstunden im Gerstensaat zubrachte. Aber eines Tages lud mich der Rechner der Kirchengemeinde, Kaufmann Delisle, zu sich ein, und von da ab genoß ich oft seine Gesellschaft und die seiner Familie. Delisle war trotz seines französischen Namens und seiner persönlichen Freund¬ schaft für Napoleon III. (sie waren Schulkameraden gewesen, und der Kaiser besuchte ihn, so ost er in Arenenberg weilte) ein guter deutscher Patriot und vereinigte alle guten Eigenschaften des deutschen und des französischen Kauf¬ manns und Familienvaters. Im Winter waltete er jeden Sonntag Abend als Patriarch im Kreise der Seinen. Zu den beiden unverheirateten Kindern, einem Sohne, der in seinem Geschüft war, und einer tüchtigen und verstündigen Tochter, die jetzt, wie ich ab und zu lese, als Vorsteherin eines altkatholischcn Frauenvereins eine eifrige Thätigkeit für die Armen entfaltet, kamen die beiden verheirateten Sohne mit ihren Frauen und versammelten sich um den verehrten Vater und die freundliche Mutter. Nach Tische wurde ein Solo gespielt, bei dem ich eine phänomenale Ungeschicklichkeit entwickelte. Im Sommer begleitete mich Delisle oft auf meinem täglichen Spaziergange; er war sehr hager und für seine siebzig Jahre sehr gut zu Fuß. Auch führte er mich in die Ochsengesellschaft ein — so genannt, weil sie sich im Ochsen in Kreuz- ungen versammelte —, zu der einige Gymnasial- und Bürgerschullehrer und u. ni. auch der kunst- und altertumskundige Konservator des Rosgartenmuseums, Apotheker Leiner, gehörten. Dazu kamen die herrliche Natur und eine gute Bibliothek — die mit einer Kupferstich- und Gemäldesammlung verbundne Wessenbergbibliothek —, sodaß es ein recht erfreuliches Dasein hätte genannt werden können, wenn meine amtliche Stellung anders gewesen wäre. Die war aber leider nicht darnach, eine zufriedne Stimmung zu erzeugen. Ich erfuhr eine Stufenfolge von Rangerhöhungen ganz eigner Art. Zunächst wurde ich zum Vertreter Hosemanns bestellt mit freier Station beim Pfarrer und monatlich siebzig Mark Gehalt, die von Bonn aus gezahlt wurden. Am 11. März 1879 wurde ich mit Berufung auf einige Bestimmungen des kano¬ nischen Rechts zum Koadjutor ernannt und mit freier Station und fünfzig Mark monatlich aus den Pfarreieinkünften dotirt. Am 19. August endlich wurde ich zum Pfarrverweser befördert „mit allen Rechten des Pfarrers bis zur definitiven Besetzung." Und von da ab bekam ich gar nichts mehr außer der Wohnung, die ich inne hatte. Freilich bekam ich auch das Essen, dank der Margaret, die ohne Berufung auf kanonische Capitula im Hause gelassen worden war. Sie war von allen Pfarrersköchinnen, die ich zu studiren Ge¬ legenheit gehabt habe, die gutmütigste; eine drollige Münchnerin, die abends ein paar Moaßkrügeln leerte, dann schmerzlich gerührt ihrem lieben armen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/436
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/436>, abgerufen am 23.07.2024.