Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Tierfabel

anscheinend ihr ganzes Wesen nicht eigentlich ändert, wechselt sie in dem zweck¬
bewußten Leben des Volkes vollständig ihre Stelle. Ironie und Satire ver¬
mögen sogar die ursprüngliche Absicht der Form vollständig umzukehren, ge¬
wissermaßen die ausgehöhlte Schale mit einem neuen Inhalt zu füllen. Nichts
wäre also kurzsichtiger, als den augenblicklichen vernünftigen Zweck irgend einer
Sitte als ihren Anfang, ihre Grundursache zu betrachten.

Diese Bemerkungen mußte ich notgedrungen vorausschicken, um die Art
und Weise zu rechtfertigen, in der ich im Gegensatz zu der Theorie Lessings
die Tierfabel erläutern und ihre Entstehung darstellen möchte. Die Völkerkunde
lehrt uns, daß auf die Frage nach dem Zweck einer Sache, also in diesem
Falle nach dein Zwecke der Tierfabel, überhaupt keine bestimmte und einfache
Autwort zu geben ist, daß die ganze Fragestellung nichts taugt. Mau kann
sogar, ohne weiter untersucht zu haben, behaupten, daß die Fabel, soweit sie
zur wirkliche" Dichtkunst gehört, schon an und für sich keinen ursprünglich
praktischen Zweck gehabt haben kann, sondern daß alle Absichten erst nachträglich
in sie hineingetragen worden sind. Ob man freilich die Fabel ohne weiteres zur
Dichtung rechnen darf, mag dahingestellt bleiben. Einen wirklichen Einblick
in das Wesen und die Entwicklung der Tierfabel vermag uns nur die ruhige
Betrachtung alles vorhandnen, der Forschung zugänglichen Stoffes zu geben,
die sich freilich nicht einfach auf den Inhalt der fabelhaften Erzählungen be¬
schränken darf, sondern auch die Umgebung, in der sie entstanden sind, die ganze
Vvrstelluugsschicht, aus der sie stammen, zu berücksichtigen hat.

Im Anfange unsers Jahrhunderts begann die deutsche Wissenschaft eine
breitere Grundlage der litterarischen Forschung zu legen. Die unbedingte Be¬
wunderung des klassischen Altertums wich einer liebevollen Betrachtung der
heimischen Vorzeit und ihrer Reste. Die beiden Männer, denen unser Volk
vor allem die Erkenntnis und Schätzung seiner ursprünglichen Eigenart zu
danken hat, die Brüder Grimm, sind es nun auch gewesen, die der Unter¬
suchung der Fabel eine ganz neue, hoffnungsvolle Bahn anwiesen, die an die
Stelle der Forderung Lessings "So muß die Fabel sein!" die bescheidnere,
aber tiefere Frage setzten "Wie ist die Fabel entstanden?" Nicht der Zufall
führte sie darauf, sondern die Thatsache, daß auch das deutsche Volk eine
Tierfabel hatte, auf die das Schema der nltklassischcn Überlieferung nicht paßte,
und die doch in ihrer Frische und Eigentümlichkeit vollberechtigt neben der
äsopischen Fabelweisheit stehen durfte. Zugleich aber war durch die ver¬
gleichende Sprachwissenschaft der Erkenntnis Bahn gebrochen worden, wie die
ursprünglich eng verbundnen indogermanischen Stämme eine Fülle gemeinsamen
Kulturbesitzes ihr eigen nennen konnten. Nun wandte sich der Blick auch den
andern Zweigen der Arier zu, und mit freudigem Erstaunen entdeckte man
nicht nur bei den Slawen, sondern auch im fernen Indien die Tierfabel als
einen Bestandteil alter Überlieferung des Volkes. Was lag näher als der


Grenzboten II 1897 4!)
Die Tierfabel

anscheinend ihr ganzes Wesen nicht eigentlich ändert, wechselt sie in dem zweck¬
bewußten Leben des Volkes vollständig ihre Stelle. Ironie und Satire ver¬
mögen sogar die ursprüngliche Absicht der Form vollständig umzukehren, ge¬
wissermaßen die ausgehöhlte Schale mit einem neuen Inhalt zu füllen. Nichts
wäre also kurzsichtiger, als den augenblicklichen vernünftigen Zweck irgend einer
Sitte als ihren Anfang, ihre Grundursache zu betrachten.

Diese Bemerkungen mußte ich notgedrungen vorausschicken, um die Art
und Weise zu rechtfertigen, in der ich im Gegensatz zu der Theorie Lessings
die Tierfabel erläutern und ihre Entstehung darstellen möchte. Die Völkerkunde
lehrt uns, daß auf die Frage nach dem Zweck einer Sache, also in diesem
Falle nach dein Zwecke der Tierfabel, überhaupt keine bestimmte und einfache
Autwort zu geben ist, daß die ganze Fragestellung nichts taugt. Mau kann
sogar, ohne weiter untersucht zu haben, behaupten, daß die Fabel, soweit sie
zur wirkliche» Dichtkunst gehört, schon an und für sich keinen ursprünglich
praktischen Zweck gehabt haben kann, sondern daß alle Absichten erst nachträglich
in sie hineingetragen worden sind. Ob man freilich die Fabel ohne weiteres zur
Dichtung rechnen darf, mag dahingestellt bleiben. Einen wirklichen Einblick
in das Wesen und die Entwicklung der Tierfabel vermag uns nur die ruhige
Betrachtung alles vorhandnen, der Forschung zugänglichen Stoffes zu geben,
die sich freilich nicht einfach auf den Inhalt der fabelhaften Erzählungen be¬
schränken darf, sondern auch die Umgebung, in der sie entstanden sind, die ganze
Vvrstelluugsschicht, aus der sie stammen, zu berücksichtigen hat.

Im Anfange unsers Jahrhunderts begann die deutsche Wissenschaft eine
breitere Grundlage der litterarischen Forschung zu legen. Die unbedingte Be¬
wunderung des klassischen Altertums wich einer liebevollen Betrachtung der
heimischen Vorzeit und ihrer Reste. Die beiden Männer, denen unser Volk
vor allem die Erkenntnis und Schätzung seiner ursprünglichen Eigenart zu
danken hat, die Brüder Grimm, sind es nun auch gewesen, die der Unter¬
suchung der Fabel eine ganz neue, hoffnungsvolle Bahn anwiesen, die an die
Stelle der Forderung Lessings „So muß die Fabel sein!" die bescheidnere,
aber tiefere Frage setzten „Wie ist die Fabel entstanden?" Nicht der Zufall
führte sie darauf, sondern die Thatsache, daß auch das deutsche Volk eine
Tierfabel hatte, auf die das Schema der nltklassischcn Überlieferung nicht paßte,
und die doch in ihrer Frische und Eigentümlichkeit vollberechtigt neben der
äsopischen Fabelweisheit stehen durfte. Zugleich aber war durch die ver¬
gleichende Sprachwissenschaft der Erkenntnis Bahn gebrochen worden, wie die
ursprünglich eng verbundnen indogermanischen Stämme eine Fülle gemeinsamen
Kulturbesitzes ihr eigen nennen konnten. Nun wandte sich der Blick auch den
andern Zweigen der Arier zu, und mit freudigem Erstaunen entdeckte man
nicht nur bei den Slawen, sondern auch im fernen Indien die Tierfabel als
einen Bestandteil alter Überlieferung des Volkes. Was lag näher als der


Grenzboten II 1897 4!)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0393" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225321"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Tierfabel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1307" prev="#ID_1306"> anscheinend ihr ganzes Wesen nicht eigentlich ändert, wechselt sie in dem zweck¬<lb/>
bewußten Leben des Volkes vollständig ihre Stelle. Ironie und Satire ver¬<lb/>
mögen sogar die ursprüngliche Absicht der Form vollständig umzukehren, ge¬<lb/>
wissermaßen die ausgehöhlte Schale mit einem neuen Inhalt zu füllen. Nichts<lb/>
wäre also kurzsichtiger, als den augenblicklichen vernünftigen Zweck irgend einer<lb/>
Sitte als ihren Anfang, ihre Grundursache zu betrachten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1308"> Diese Bemerkungen mußte ich notgedrungen vorausschicken, um die Art<lb/>
und Weise zu rechtfertigen, in der ich im Gegensatz zu der Theorie Lessings<lb/>
die Tierfabel erläutern und ihre Entstehung darstellen möchte. Die Völkerkunde<lb/>
lehrt uns, daß auf die Frage nach dem Zweck einer Sache, also in diesem<lb/>
Falle nach dein Zwecke der Tierfabel, überhaupt keine bestimmte und einfache<lb/>
Autwort zu geben ist, daß die ganze Fragestellung nichts taugt. Mau kann<lb/>
sogar, ohne weiter untersucht zu haben, behaupten, daß die Fabel, soweit sie<lb/>
zur wirkliche» Dichtkunst gehört, schon an und für sich keinen ursprünglich<lb/>
praktischen Zweck gehabt haben kann, sondern daß alle Absichten erst nachträglich<lb/>
in sie hineingetragen worden sind. Ob man freilich die Fabel ohne weiteres zur<lb/>
Dichtung rechnen darf, mag dahingestellt bleiben. Einen wirklichen Einblick<lb/>
in das Wesen und die Entwicklung der Tierfabel vermag uns nur die ruhige<lb/>
Betrachtung alles vorhandnen, der Forschung zugänglichen Stoffes zu geben,<lb/>
die sich freilich nicht einfach auf den Inhalt der fabelhaften Erzählungen be¬<lb/>
schränken darf, sondern auch die Umgebung, in der sie entstanden sind, die ganze<lb/>
Vvrstelluugsschicht, aus der sie stammen, zu berücksichtigen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1309" next="#ID_1310"> Im Anfange unsers Jahrhunderts begann die deutsche Wissenschaft eine<lb/>
breitere Grundlage der litterarischen Forschung zu legen. Die unbedingte Be¬<lb/>
wunderung des klassischen Altertums wich einer liebevollen Betrachtung der<lb/>
heimischen Vorzeit und ihrer Reste. Die beiden Männer, denen unser Volk<lb/>
vor allem die Erkenntnis und Schätzung seiner ursprünglichen Eigenart zu<lb/>
danken hat, die Brüder Grimm, sind es nun auch gewesen, die der Unter¬<lb/>
suchung der Fabel eine ganz neue, hoffnungsvolle Bahn anwiesen, die an die<lb/>
Stelle der Forderung Lessings &#x201E;So muß die Fabel sein!" die bescheidnere,<lb/>
aber tiefere Frage setzten &#x201E;Wie ist die Fabel entstanden?" Nicht der Zufall<lb/>
führte sie darauf, sondern die Thatsache, daß auch das deutsche Volk eine<lb/>
Tierfabel hatte, auf die das Schema der nltklassischcn Überlieferung nicht paßte,<lb/>
und die doch in ihrer Frische und Eigentümlichkeit vollberechtigt neben der<lb/>
äsopischen Fabelweisheit stehen durfte. Zugleich aber war durch die ver¬<lb/>
gleichende Sprachwissenschaft der Erkenntnis Bahn gebrochen worden, wie die<lb/>
ursprünglich eng verbundnen indogermanischen Stämme eine Fülle gemeinsamen<lb/>
Kulturbesitzes ihr eigen nennen konnten. Nun wandte sich der Blick auch den<lb/>
andern Zweigen der Arier zu, und mit freudigem Erstaunen entdeckte man<lb/>
nicht nur bei den Slawen, sondern auch im fernen Indien die Tierfabel als<lb/>
einen Bestandteil alter Überlieferung des Volkes. Was lag näher als der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1897 4!)</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0393] Die Tierfabel anscheinend ihr ganzes Wesen nicht eigentlich ändert, wechselt sie in dem zweck¬ bewußten Leben des Volkes vollständig ihre Stelle. Ironie und Satire ver¬ mögen sogar die ursprüngliche Absicht der Form vollständig umzukehren, ge¬ wissermaßen die ausgehöhlte Schale mit einem neuen Inhalt zu füllen. Nichts wäre also kurzsichtiger, als den augenblicklichen vernünftigen Zweck irgend einer Sitte als ihren Anfang, ihre Grundursache zu betrachten. Diese Bemerkungen mußte ich notgedrungen vorausschicken, um die Art und Weise zu rechtfertigen, in der ich im Gegensatz zu der Theorie Lessings die Tierfabel erläutern und ihre Entstehung darstellen möchte. Die Völkerkunde lehrt uns, daß auf die Frage nach dem Zweck einer Sache, also in diesem Falle nach dein Zwecke der Tierfabel, überhaupt keine bestimmte und einfache Autwort zu geben ist, daß die ganze Fragestellung nichts taugt. Mau kann sogar, ohne weiter untersucht zu haben, behaupten, daß die Fabel, soweit sie zur wirkliche» Dichtkunst gehört, schon an und für sich keinen ursprünglich praktischen Zweck gehabt haben kann, sondern daß alle Absichten erst nachträglich in sie hineingetragen worden sind. Ob man freilich die Fabel ohne weiteres zur Dichtung rechnen darf, mag dahingestellt bleiben. Einen wirklichen Einblick in das Wesen und die Entwicklung der Tierfabel vermag uns nur die ruhige Betrachtung alles vorhandnen, der Forschung zugänglichen Stoffes zu geben, die sich freilich nicht einfach auf den Inhalt der fabelhaften Erzählungen be¬ schränken darf, sondern auch die Umgebung, in der sie entstanden sind, die ganze Vvrstelluugsschicht, aus der sie stammen, zu berücksichtigen hat. Im Anfange unsers Jahrhunderts begann die deutsche Wissenschaft eine breitere Grundlage der litterarischen Forschung zu legen. Die unbedingte Be¬ wunderung des klassischen Altertums wich einer liebevollen Betrachtung der heimischen Vorzeit und ihrer Reste. Die beiden Männer, denen unser Volk vor allem die Erkenntnis und Schätzung seiner ursprünglichen Eigenart zu danken hat, die Brüder Grimm, sind es nun auch gewesen, die der Unter¬ suchung der Fabel eine ganz neue, hoffnungsvolle Bahn anwiesen, die an die Stelle der Forderung Lessings „So muß die Fabel sein!" die bescheidnere, aber tiefere Frage setzten „Wie ist die Fabel entstanden?" Nicht der Zufall führte sie darauf, sondern die Thatsache, daß auch das deutsche Volk eine Tierfabel hatte, auf die das Schema der nltklassischcn Überlieferung nicht paßte, und die doch in ihrer Frische und Eigentümlichkeit vollberechtigt neben der äsopischen Fabelweisheit stehen durfte. Zugleich aber war durch die ver¬ gleichende Sprachwissenschaft der Erkenntnis Bahn gebrochen worden, wie die ursprünglich eng verbundnen indogermanischen Stämme eine Fülle gemeinsamen Kulturbesitzes ihr eigen nennen konnten. Nun wandte sich der Blick auch den andern Zweigen der Arier zu, und mit freudigem Erstaunen entdeckte man nicht nur bei den Slawen, sondern auch im fernen Indien die Tierfabel als einen Bestandteil alter Überlieferung des Volkes. Was lag näher als der Grenzboten II 1897 4!)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/393
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/393>, abgerufen am 23.07.2024.