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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

und muß sie durch Sammeln einer möglichst großen Zahl einzelner Erfahrungen
ersetzen, und da sie in diesem Sinne nicht bei der Kunst eines Volks oder
einer Rosse stehen bleiben darf, sondern die Bestrebungen der ganzen Menschheit
überschaue:? muß, so ist die Ästhetik, die sich mit der Entwicklung der Kunst
beschäftigt, nichts andres als ein Zweig der Völkerkunde; mit den Mitteln und
Methoden dieser Wissenschaft hat sie zu arbeiten.

Für die Untersuchung gerade der Fabeldichtung ist diese Erkenntnis von
vornherein wertvoll. Die Völkerkunde zieht unter anderm bedeutenden Nutzen
aus der Beobachtung der Kinder, denn jeder Mensch durchlebt im Kleinen noch
einmal die Geschichte und die Erziehung der Menschheit, und die verschiednen
Stufen seiner Bildung sind denen der Völkerentwicklung mehr oder weniger
parallel. Wie sehr nun die Fabel, die gegenwärtig noch der kindlichen An¬
schauung eines gewissen Lebensalters vollkommen zusagt, während sie von den
Erwachsenen nicht mehr recht geschützt wird, in ihren Ursachen durch eine
Prüfung der kindlichen Denkweise aufgeklärt werden kann, leuchtet ohne weiteres
ein. Jakob Grimm, der sich zum erstenmale mit der Tierfabel im Sinne der
neuern Wissenschaft beschäftigte, hat auch sofort auf diesen Weg der Forschung
hingewiesen, den man freilich immer nur mit Vorsicht und wo bessere Wege
mangeln, betreten sollte. Vorläufig sehlt es uoch sast ganz an Beobachtungen
auf diesem Felde, denn selbst unter den Lehrern, denen das herrlichste Material
zur Verfügung steht, hat sich bisher kaum Teilnahme für diesen wichtigen und
lohnenden Zweig der Forschung gezeigt, und gar von einer zusammenfassenden
Behandlung ist noch keine Rede.

Die Völkerkunde bietet zum Glück noch andre Hilfsmittel. Es ist eine
der wichtigsten Thatsachen, die sie uns kennen lehrt, daß in der Entwicklung
das Mittel oft eher da ist als der Zweck, oder, um es verständlicher auszu¬
drücken, daß nicht nur Gegenstände des Gebrauchs, sondern auch Sitten und
Einrichtungen neuen Zwecken dienstbar gemacht werden, ohne daß sich ihre
äußere Form dabei sonderlich ändert. Im Grunde ist das nicht so merkwürdig,
wie es auf den ersten Blick scheint: auch wir verwenden, wenn plötzlich eine
neue Aufgabe, ein neuer Zweck an uns herantritt, aushilfsweise Dinge, die
ursprünglich einer ganz andern Absicht dienen sollten. Wozu muß nicht, um
ein alltägliches Beispiel zu wählen, unter Umständen ein Taschenmesser dienen,
das doch zunächst nur als schneidendes Werkzeug gedacht ist; bald soll es deu
Korkzieher ersetzen, bald ein Stemmeisen, einen Meißel, einen Bohrer, es dient
als Briefbeschwerer, ja der Bevölkerung mancher Gegenden als gefährliche
Wurfwaffe. In ähnlicher Weise verwendet der Neger des Kongogebiets die
Speerklinge nebenbei zugleich als Spaten, als Messer und sogar als Geld¬
münze. Mit dem geistigen Kulturbesitz der Menschheit steht es nicht anders:
eine Sitte, ein Brauch, oder, um der Fabel gleich mit gerecht zu werden, eine
Kunstgattung kann zu verschiednen Zwecken benutzt werden, und während sich


Die Tierfabel

und muß sie durch Sammeln einer möglichst großen Zahl einzelner Erfahrungen
ersetzen, und da sie in diesem Sinne nicht bei der Kunst eines Volks oder
einer Rosse stehen bleiben darf, sondern die Bestrebungen der ganzen Menschheit
überschaue:? muß, so ist die Ästhetik, die sich mit der Entwicklung der Kunst
beschäftigt, nichts andres als ein Zweig der Völkerkunde; mit den Mitteln und
Methoden dieser Wissenschaft hat sie zu arbeiten.

Für die Untersuchung gerade der Fabeldichtung ist diese Erkenntnis von
vornherein wertvoll. Die Völkerkunde zieht unter anderm bedeutenden Nutzen
aus der Beobachtung der Kinder, denn jeder Mensch durchlebt im Kleinen noch
einmal die Geschichte und die Erziehung der Menschheit, und die verschiednen
Stufen seiner Bildung sind denen der Völkerentwicklung mehr oder weniger
parallel. Wie sehr nun die Fabel, die gegenwärtig noch der kindlichen An¬
schauung eines gewissen Lebensalters vollkommen zusagt, während sie von den
Erwachsenen nicht mehr recht geschützt wird, in ihren Ursachen durch eine
Prüfung der kindlichen Denkweise aufgeklärt werden kann, leuchtet ohne weiteres
ein. Jakob Grimm, der sich zum erstenmale mit der Tierfabel im Sinne der
neuern Wissenschaft beschäftigte, hat auch sofort auf diesen Weg der Forschung
hingewiesen, den man freilich immer nur mit Vorsicht und wo bessere Wege
mangeln, betreten sollte. Vorläufig sehlt es uoch sast ganz an Beobachtungen
auf diesem Felde, denn selbst unter den Lehrern, denen das herrlichste Material
zur Verfügung steht, hat sich bisher kaum Teilnahme für diesen wichtigen und
lohnenden Zweig der Forschung gezeigt, und gar von einer zusammenfassenden
Behandlung ist noch keine Rede.

Die Völkerkunde bietet zum Glück noch andre Hilfsmittel. Es ist eine
der wichtigsten Thatsachen, die sie uns kennen lehrt, daß in der Entwicklung
das Mittel oft eher da ist als der Zweck, oder, um es verständlicher auszu¬
drücken, daß nicht nur Gegenstände des Gebrauchs, sondern auch Sitten und
Einrichtungen neuen Zwecken dienstbar gemacht werden, ohne daß sich ihre
äußere Form dabei sonderlich ändert. Im Grunde ist das nicht so merkwürdig,
wie es auf den ersten Blick scheint: auch wir verwenden, wenn plötzlich eine
neue Aufgabe, ein neuer Zweck an uns herantritt, aushilfsweise Dinge, die
ursprünglich einer ganz andern Absicht dienen sollten. Wozu muß nicht, um
ein alltägliches Beispiel zu wählen, unter Umständen ein Taschenmesser dienen,
das doch zunächst nur als schneidendes Werkzeug gedacht ist; bald soll es deu
Korkzieher ersetzen, bald ein Stemmeisen, einen Meißel, einen Bohrer, es dient
als Briefbeschwerer, ja der Bevölkerung mancher Gegenden als gefährliche
Wurfwaffe. In ähnlicher Weise verwendet der Neger des Kongogebiets die
Speerklinge nebenbei zugleich als Spaten, als Messer und sogar als Geld¬
münze. Mit dem geistigen Kulturbesitz der Menschheit steht es nicht anders:
eine Sitte, ein Brauch, oder, um der Fabel gleich mit gerecht zu werden, eine
Kunstgattung kann zu verschiednen Zwecken benutzt werden, und während sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/392>, abgerufen am 23.07.2024.