Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Midaskinder

Auf keinen Fall darf die Gesetzgebung auf dem verkehrten Wege der Frei¬
gebung von Arzneimitteln weiter gehen, wenn sie nicht die Winkelapotheken
noch weiter vermehren und den schon jetzt bestehenden Übelstand unheilbar
vergrößern will.




Midaskinder
v Hermann Geser on (Schluß)

öhrle saß in sich versinken da, in Gelände entrückt, wo es nicht
Ost und West giebt. Als er dann das Wort ergriff, sprach er so,
als hätte Viktor die von ihm angekündigte Frage gestellt, und er
führe nun mitten in einem schon laut gewordnen Gedankenzusammen¬
hänge fort:

Die Wissenschaft wird kaum zu einer andern Erklärung gelangen
können, als die ist, die der arme junge Maun für sich bequem gefunden hatte, von
der Ihr Nachbar uns eben erzählt hat. Die Dinge wenden ihr bis ans Ende der
Zeiten immer nur eine Seite zu, wie uns der Mond, und so gewährt sie keine
Weltanschauung, sie nimmt das ihr Sichtbare, zergliedert und ordnet es. Sie sieht,
Wie äußere Familienzüge durch Jahrhunderte, äußere Völkerzüge durch Jahrtausende
wiederkehren, sie sieht Eigenschaften der Vorväter und Väter in den Kindern wieder
auftauchen, sie findet mit ihrer Psychologie keinen freien Willen, und kann es nicht,
weil sie bis zu der Tiefe, zu der sie hinabreicht, immer noch sieht, daß der Mensch
in seinem Gedankenvorrat und der Richtung seiner Wünsche und der Art seiner
Entschließungen von fremden Einflüssen und Vorbedingungen, die zum Teil vor
seiner Zeit liegen, schmerzlich abhängig ist, aber die Wissenschaft verfügt nnr bis
in eine gewisse Tiefe und Breite über die Durchsuchung des Bodens, gerade wie
der Bergmann, und so sagt sie denn für sich und damit für viele Menschen, die
von ihr die letzten Antworten erwarten: Der einzelne Mensch ist das Ergebnis
vieler erkennbarer Vorbedingungen, man muß ihn aus seinem Milieu verstehen!

NxeuZW, Euer Gestrengen, hängt meinen Vater und nicht mich! fuhr die
Schwester dazwischen und klapperte entrüstet mit den Nadeln ihres Strickzeugs.

Die Erklärung des Charakters, des ganzen Zuges eiuer Persönlichkeit aus
Vererbung hat so den Vorzug der Augenscheinlichkeit für sich, daß es schwer fällt,
sich von ihr freizumachen, sagte Viktor, aber sie widerspricht den Selbstaussagen
unsers Bewußtseins und unsers tiefsten Lebensgefühls, das sich nur als sich selbst
weiß. Und dann muß ich sagen: so gern man lieben Voreltern und Eltern jeden
ungebornen guten Zug im eignen Wesen verdanken möchte, wie darf man das
Gute von ihnen ableiten, wenn man ihnen das angeborne Böse in uns niemals
zurechnet?

Ja, Herr Zangkel, unterbrach ihn das alte Fräulein, sagen Sie es nur


Midaskinder

Auf keinen Fall darf die Gesetzgebung auf dem verkehrten Wege der Frei¬
gebung von Arzneimitteln weiter gehen, wenn sie nicht die Winkelapotheken
noch weiter vermehren und den schon jetzt bestehenden Übelstand unheilbar
vergrößern will.




Midaskinder
v Hermann Geser on (Schluß)

öhrle saß in sich versinken da, in Gelände entrückt, wo es nicht
Ost und West giebt. Als er dann das Wort ergriff, sprach er so,
als hätte Viktor die von ihm angekündigte Frage gestellt, und er
führe nun mitten in einem schon laut gewordnen Gedankenzusammen¬
hänge fort:

Die Wissenschaft wird kaum zu einer andern Erklärung gelangen
können, als die ist, die der arme junge Maun für sich bequem gefunden hatte, von
der Ihr Nachbar uns eben erzählt hat. Die Dinge wenden ihr bis ans Ende der
Zeiten immer nur eine Seite zu, wie uns der Mond, und so gewährt sie keine
Weltanschauung, sie nimmt das ihr Sichtbare, zergliedert und ordnet es. Sie sieht,
Wie äußere Familienzüge durch Jahrhunderte, äußere Völkerzüge durch Jahrtausende
wiederkehren, sie sieht Eigenschaften der Vorväter und Väter in den Kindern wieder
auftauchen, sie findet mit ihrer Psychologie keinen freien Willen, und kann es nicht,
weil sie bis zu der Tiefe, zu der sie hinabreicht, immer noch sieht, daß der Mensch
in seinem Gedankenvorrat und der Richtung seiner Wünsche und der Art seiner
Entschließungen von fremden Einflüssen und Vorbedingungen, die zum Teil vor
seiner Zeit liegen, schmerzlich abhängig ist, aber die Wissenschaft verfügt nnr bis
in eine gewisse Tiefe und Breite über die Durchsuchung des Bodens, gerade wie
der Bergmann, und so sagt sie denn für sich und damit für viele Menschen, die
von ihr die letzten Antworten erwarten: Der einzelne Mensch ist das Ergebnis
vieler erkennbarer Vorbedingungen, man muß ihn aus seinem Milieu verstehen!

NxeuZW, Euer Gestrengen, hängt meinen Vater und nicht mich! fuhr die
Schwester dazwischen und klapperte entrüstet mit den Nadeln ihres Strickzeugs.

Die Erklärung des Charakters, des ganzen Zuges eiuer Persönlichkeit aus
Vererbung hat so den Vorzug der Augenscheinlichkeit für sich, daß es schwer fällt,
sich von ihr freizumachen, sagte Viktor, aber sie widerspricht den Selbstaussagen
unsers Bewußtseins und unsers tiefsten Lebensgefühls, das sich nur als sich selbst
weiß. Und dann muß ich sagen: so gern man lieben Voreltern und Eltern jeden
ungebornen guten Zug im eignen Wesen verdanken möchte, wie darf man das
Gute von ihnen ableiten, wenn man ihnen das angeborne Böse in uns niemals
zurechnet?

Ja, Herr Zangkel, unterbrach ihn das alte Fräulein, sagen Sie es nur


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0343" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225271"/>
          <fw type="header" place="top"> Midaskinder</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1125"> Auf keinen Fall darf die Gesetzgebung auf dem verkehrten Wege der Frei¬<lb/>
gebung von Arzneimitteln weiter gehen, wenn sie nicht die Winkelapotheken<lb/>
noch weiter vermehren und den schon jetzt bestehenden Übelstand unheilbar<lb/>
vergrößern will.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Midaskinder<lb/>
v<note type="byline"> Hermann Geser</note> on (Schluß) </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1126"> öhrle saß in sich versinken da, in Gelände entrückt, wo es nicht<lb/>
Ost und West giebt. Als er dann das Wort ergriff, sprach er so,<lb/>
als hätte Viktor die von ihm angekündigte Frage gestellt, und er<lb/>
führe nun mitten in einem schon laut gewordnen Gedankenzusammen¬<lb/>
hänge fort:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1127"> Die Wissenschaft wird kaum zu einer andern Erklärung gelangen<lb/>
können, als die ist, die der arme junge Maun für sich bequem gefunden hatte, von<lb/>
der Ihr Nachbar uns eben erzählt hat. Die Dinge wenden ihr bis ans Ende der<lb/>
Zeiten immer nur eine Seite zu, wie uns der Mond, und so gewährt sie keine<lb/>
Weltanschauung, sie nimmt das ihr Sichtbare, zergliedert und ordnet es. Sie sieht,<lb/>
Wie äußere Familienzüge durch Jahrhunderte, äußere Völkerzüge durch Jahrtausende<lb/>
wiederkehren, sie sieht Eigenschaften der Vorväter und Väter in den Kindern wieder<lb/>
auftauchen, sie findet mit ihrer Psychologie keinen freien Willen, und kann es nicht,<lb/>
weil sie bis zu der Tiefe, zu der sie hinabreicht, immer noch sieht, daß der Mensch<lb/>
in seinem Gedankenvorrat und der Richtung seiner Wünsche und der Art seiner<lb/>
Entschließungen von fremden Einflüssen und Vorbedingungen, die zum Teil vor<lb/>
seiner Zeit liegen, schmerzlich abhängig ist, aber die Wissenschaft verfügt nnr bis<lb/>
in eine gewisse Tiefe und Breite über die Durchsuchung des Bodens, gerade wie<lb/>
der Bergmann, und so sagt sie denn für sich und damit für viele Menschen, die<lb/>
von ihr die letzten Antworten erwarten: Der einzelne Mensch ist das Ergebnis<lb/>
vieler erkennbarer Vorbedingungen, man muß ihn aus seinem Milieu verstehen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1128"> NxeuZW, Euer Gestrengen, hängt meinen Vater und nicht mich! fuhr die<lb/>
Schwester dazwischen und klapperte entrüstet mit den Nadeln ihres Strickzeugs.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1129"> Die Erklärung des Charakters, des ganzen Zuges eiuer Persönlichkeit aus<lb/>
Vererbung hat so den Vorzug der Augenscheinlichkeit für sich, daß es schwer fällt,<lb/>
sich von ihr freizumachen, sagte Viktor, aber sie widerspricht den Selbstaussagen<lb/>
unsers Bewußtseins und unsers tiefsten Lebensgefühls, das sich nur als sich selbst<lb/>
weiß. Und dann muß ich sagen: so gern man lieben Voreltern und Eltern jeden<lb/>
ungebornen guten Zug im eignen Wesen verdanken möchte, wie darf man das<lb/>
Gute von ihnen ableiten, wenn man ihnen das angeborne Böse in uns niemals<lb/>
zurechnet?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1130" next="#ID_1131"> Ja, Herr Zangkel, unterbrach ihn das alte Fräulein, sagen Sie es nur</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0343] Midaskinder Auf keinen Fall darf die Gesetzgebung auf dem verkehrten Wege der Frei¬ gebung von Arzneimitteln weiter gehen, wenn sie nicht die Winkelapotheken noch weiter vermehren und den schon jetzt bestehenden Übelstand unheilbar vergrößern will. Midaskinder v Hermann Geser on (Schluß) öhrle saß in sich versinken da, in Gelände entrückt, wo es nicht Ost und West giebt. Als er dann das Wort ergriff, sprach er so, als hätte Viktor die von ihm angekündigte Frage gestellt, und er führe nun mitten in einem schon laut gewordnen Gedankenzusammen¬ hänge fort: Die Wissenschaft wird kaum zu einer andern Erklärung gelangen können, als die ist, die der arme junge Maun für sich bequem gefunden hatte, von der Ihr Nachbar uns eben erzählt hat. Die Dinge wenden ihr bis ans Ende der Zeiten immer nur eine Seite zu, wie uns der Mond, und so gewährt sie keine Weltanschauung, sie nimmt das ihr Sichtbare, zergliedert und ordnet es. Sie sieht, Wie äußere Familienzüge durch Jahrhunderte, äußere Völkerzüge durch Jahrtausende wiederkehren, sie sieht Eigenschaften der Vorväter und Väter in den Kindern wieder auftauchen, sie findet mit ihrer Psychologie keinen freien Willen, und kann es nicht, weil sie bis zu der Tiefe, zu der sie hinabreicht, immer noch sieht, daß der Mensch in seinem Gedankenvorrat und der Richtung seiner Wünsche und der Art seiner Entschließungen von fremden Einflüssen und Vorbedingungen, die zum Teil vor seiner Zeit liegen, schmerzlich abhängig ist, aber die Wissenschaft verfügt nnr bis in eine gewisse Tiefe und Breite über die Durchsuchung des Bodens, gerade wie der Bergmann, und so sagt sie denn für sich und damit für viele Menschen, die von ihr die letzten Antworten erwarten: Der einzelne Mensch ist das Ergebnis vieler erkennbarer Vorbedingungen, man muß ihn aus seinem Milieu verstehen! NxeuZW, Euer Gestrengen, hängt meinen Vater und nicht mich! fuhr die Schwester dazwischen und klapperte entrüstet mit den Nadeln ihres Strickzeugs. Die Erklärung des Charakters, des ganzen Zuges eiuer Persönlichkeit aus Vererbung hat so den Vorzug der Augenscheinlichkeit für sich, daß es schwer fällt, sich von ihr freizumachen, sagte Viktor, aber sie widerspricht den Selbstaussagen unsers Bewußtseins und unsers tiefsten Lebensgefühls, das sich nur als sich selbst weiß. Und dann muß ich sagen: so gern man lieben Voreltern und Eltern jeden ungebornen guten Zug im eignen Wesen verdanken möchte, wie darf man das Gute von ihnen ableiten, wenn man ihnen das angeborne Böse in uns niemals zurechnet? Ja, Herr Zangkel, unterbrach ihn das alte Fräulein, sagen Sie es nur

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/343
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/343>, abgerufen am 23.07.2024.