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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich

kommen der elsüssischen, deutschen und polnischen Juden in verächtlicher Weise
gesprochen wurde.

Der Beschluß der Nationalversammlung vom 27. September 1797 glich
jedoch alle Unterschiede in der Nation zwischen Christen und Juden und
zwischen den Juden unter sich völlig aus. Der Grundsatz der Gleichheit
und Brüderlichkeit war ausgerufen worden, und man hätte füglich erwarten
können, daß damit, wenn auch nicht die Anschauungen und Sitten sofort
umgewandelt sein würden, doch die Aufgabe der Gesetzgebung abgeschlossen
sein würde.

So kam es aber nicht. Die Hoffnung, daß sich die Juden des Elsaß
nach der Gleichstellung mit ihren Mitbürgern einem anderm Erwerb als
dem Schacher und Wucher zuwenden würden, erfüllte sich nicht. Die Ver¬
schuldung der elsüssischen Landwirte, die man 1780 ans zwölf bis fünfzehn
Millionen berechnet hatte, wurde 1807 infolge des Schachers mit Assignaten
auf siebzig Millionen berechnet, durchweg Guthaben jüdischer Gläubiger.
Napoleon I., der eine große Vorliebe für das Elsaß hatte, aus dem er so
tüchtige Soldaten bezog, beschloß der verarmten Provinz aufzuhelfen und zu¬
gleich den elsüssischen Juden eine Aufmahnung zu besseren Verhalten zu erteilen.
Durch Dekret vom 30. Mai 1806 wurde für alle Klagen von Juden gegen
Landwirte in den Departements der Saar, der Ruhr, Donnersberg, Ober- und
Niederrhein, Rhein und Mosel, der Mosel und der Vogesen ein Moratorium
von der Dauer eines Jahres verfügt und auf den 15. Juli eine Versammlung
der hervorragendsten Juden des Reichs nach Paris berufen, denen Fragen zur
Beantwortung vorgelegt wurden, um der Regierung ein Urteil darüber zu ver¬
schaffen, ob nicht die Glaubenssätze der Juden mit den Satzungen der bürger¬
lichen Ordnung in Widerspruch stünden. Für solche Fülle war in den Eingangs¬
worten des Dekrets Unterordnung unter das bürgerliche Gesetz in Aussicht
gestellt. Die Antworten waren im allgemeinen beruhigend. Der Kaiser wollte
noch eine religiöse Garantie sür die Richtigkeit dieser meist von Laien er¬
teilten Antworten in der Form einer authentischen Interpretation; kurz, der
Kaiser wollte noch eine Art von "Gallikanischen Artikeln" feststellen, ähnlich
der katholischen Deklaration von 1682. Der Kaiser berief den "Großen
Sanhvdrin" auf den 4. Februar 1807 uach Paris, um ihm die Antworten
der ÄssöirMös ä'iväiviäu.8 Proliant 1a, rslisswir Mos se Kg-ditant Is tvrri-
toirs lrg.n9s.l8 zur Bestätigung vorzulegen. Befriedigt war der Kaiser durch
die Beschlüsse des Großen Sanhödrin sicher nicht. Durch mehrere Dekrete
vom 17. März 1808 wurde zwar das Moratorium von 1806 aufgehoben,
aber weiter verfügt, daß alle Schuldurkunden von Minderjährigen, von Ehe¬
frauen, die ohne Zustimmung der Ehegatten, von Soldaten und Offizieren,
die ohne Zustimmung ihrer Vorgesetzten Schuldurkunden unterschrieben, null
und nichtig sein sollten; Forderungen, die mehr als zehn Prozent Zinsen ent-


Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich

kommen der elsüssischen, deutschen und polnischen Juden in verächtlicher Weise
gesprochen wurde.

Der Beschluß der Nationalversammlung vom 27. September 1797 glich
jedoch alle Unterschiede in der Nation zwischen Christen und Juden und
zwischen den Juden unter sich völlig aus. Der Grundsatz der Gleichheit
und Brüderlichkeit war ausgerufen worden, und man hätte füglich erwarten
können, daß damit, wenn auch nicht die Anschauungen und Sitten sofort
umgewandelt sein würden, doch die Aufgabe der Gesetzgebung abgeschlossen
sein würde.

So kam es aber nicht. Die Hoffnung, daß sich die Juden des Elsaß
nach der Gleichstellung mit ihren Mitbürgern einem anderm Erwerb als
dem Schacher und Wucher zuwenden würden, erfüllte sich nicht. Die Ver¬
schuldung der elsüssischen Landwirte, die man 1780 ans zwölf bis fünfzehn
Millionen berechnet hatte, wurde 1807 infolge des Schachers mit Assignaten
auf siebzig Millionen berechnet, durchweg Guthaben jüdischer Gläubiger.
Napoleon I., der eine große Vorliebe für das Elsaß hatte, aus dem er so
tüchtige Soldaten bezog, beschloß der verarmten Provinz aufzuhelfen und zu¬
gleich den elsüssischen Juden eine Aufmahnung zu besseren Verhalten zu erteilen.
Durch Dekret vom 30. Mai 1806 wurde für alle Klagen von Juden gegen
Landwirte in den Departements der Saar, der Ruhr, Donnersberg, Ober- und
Niederrhein, Rhein und Mosel, der Mosel und der Vogesen ein Moratorium
von der Dauer eines Jahres verfügt und auf den 15. Juli eine Versammlung
der hervorragendsten Juden des Reichs nach Paris berufen, denen Fragen zur
Beantwortung vorgelegt wurden, um der Regierung ein Urteil darüber zu ver¬
schaffen, ob nicht die Glaubenssätze der Juden mit den Satzungen der bürger¬
lichen Ordnung in Widerspruch stünden. Für solche Fülle war in den Eingangs¬
worten des Dekrets Unterordnung unter das bürgerliche Gesetz in Aussicht
gestellt. Die Antworten waren im allgemeinen beruhigend. Der Kaiser wollte
noch eine religiöse Garantie sür die Richtigkeit dieser meist von Laien er¬
teilten Antworten in der Form einer authentischen Interpretation; kurz, der
Kaiser wollte noch eine Art von „Gallikanischen Artikeln" feststellen, ähnlich
der katholischen Deklaration von 1682. Der Kaiser berief den „Großen
Sanhvdrin" auf den 4. Februar 1807 uach Paris, um ihm die Antworten
der ÄssöirMös ä'iväiviäu.8 Proliant 1a, rslisswir Mos se Kg-ditant Is tvrri-
toirs lrg.n9s.l8 zur Bestätigung vorzulegen. Befriedigt war der Kaiser durch
die Beschlüsse des Großen Sanhödrin sicher nicht. Durch mehrere Dekrete
vom 17. März 1808 wurde zwar das Moratorium von 1806 aufgehoben,
aber weiter verfügt, daß alle Schuldurkunden von Minderjährigen, von Ehe¬
frauen, die ohne Zustimmung der Ehegatten, von Soldaten und Offizieren,
die ohne Zustimmung ihrer Vorgesetzten Schuldurkunden unterschrieben, null
und nichtig sein sollten; Forderungen, die mehr als zehn Prozent Zinsen ent-


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[0286] Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich kommen der elsüssischen, deutschen und polnischen Juden in verächtlicher Weise gesprochen wurde. Der Beschluß der Nationalversammlung vom 27. September 1797 glich jedoch alle Unterschiede in der Nation zwischen Christen und Juden und zwischen den Juden unter sich völlig aus. Der Grundsatz der Gleichheit und Brüderlichkeit war ausgerufen worden, und man hätte füglich erwarten können, daß damit, wenn auch nicht die Anschauungen und Sitten sofort umgewandelt sein würden, doch die Aufgabe der Gesetzgebung abgeschlossen sein würde. So kam es aber nicht. Die Hoffnung, daß sich die Juden des Elsaß nach der Gleichstellung mit ihren Mitbürgern einem anderm Erwerb als dem Schacher und Wucher zuwenden würden, erfüllte sich nicht. Die Ver¬ schuldung der elsüssischen Landwirte, die man 1780 ans zwölf bis fünfzehn Millionen berechnet hatte, wurde 1807 infolge des Schachers mit Assignaten auf siebzig Millionen berechnet, durchweg Guthaben jüdischer Gläubiger. Napoleon I., der eine große Vorliebe für das Elsaß hatte, aus dem er so tüchtige Soldaten bezog, beschloß der verarmten Provinz aufzuhelfen und zu¬ gleich den elsüssischen Juden eine Aufmahnung zu besseren Verhalten zu erteilen. Durch Dekret vom 30. Mai 1806 wurde für alle Klagen von Juden gegen Landwirte in den Departements der Saar, der Ruhr, Donnersberg, Ober- und Niederrhein, Rhein und Mosel, der Mosel und der Vogesen ein Moratorium von der Dauer eines Jahres verfügt und auf den 15. Juli eine Versammlung der hervorragendsten Juden des Reichs nach Paris berufen, denen Fragen zur Beantwortung vorgelegt wurden, um der Regierung ein Urteil darüber zu ver¬ schaffen, ob nicht die Glaubenssätze der Juden mit den Satzungen der bürger¬ lichen Ordnung in Widerspruch stünden. Für solche Fülle war in den Eingangs¬ worten des Dekrets Unterordnung unter das bürgerliche Gesetz in Aussicht gestellt. Die Antworten waren im allgemeinen beruhigend. Der Kaiser wollte noch eine religiöse Garantie sür die Richtigkeit dieser meist von Laien er¬ teilten Antworten in der Form einer authentischen Interpretation; kurz, der Kaiser wollte noch eine Art von „Gallikanischen Artikeln" feststellen, ähnlich der katholischen Deklaration von 1682. Der Kaiser berief den „Großen Sanhvdrin" auf den 4. Februar 1807 uach Paris, um ihm die Antworten der ÄssöirMös ä'iväiviäu.8 Proliant 1a, rslisswir Mos se Kg-ditant Is tvrri- toirs lrg.n9s.l8 zur Bestätigung vorzulegen. Befriedigt war der Kaiser durch die Beschlüsse des Großen Sanhödrin sicher nicht. Durch mehrere Dekrete vom 17. März 1808 wurde zwar das Moratorium von 1806 aufgehoben, aber weiter verfügt, daß alle Schuldurkunden von Minderjährigen, von Ehe¬ frauen, die ohne Zustimmung der Ehegatten, von Soldaten und Offizieren, die ohne Zustimmung ihrer Vorgesetzten Schuldurkunden unterschrieben, null und nichtig sein sollten; Forderungen, die mehr als zehn Prozent Zinsen ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/286>, abgerufen am 23.07.2024.