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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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München und Konstanz

gänzlich bedeutungsloser, weil im realen Leben gar nicht vorhandner Gegen¬
stand, mit dem sich nur die Gelehrten zu befassen hätten. Dagegen war der
Papst, dem kein Katholik zu widersprechen wagte, dem man fünfundzwanzig
Jahre lang halbgöttliche Ehren erwiesen hatte, aus dessen Munde man eine
Unzahl von Ablassen und dogmatischen Erklärungen devotest angenommen hatte,
eine sehr reale Große. Die römisch-katholische Christenheit behandelte ihren
Pius zwei Jahrzehnte hindurch wirklich als ihren unfehlbaren Lehrer und un¬
beschränkten Herrn, und als Montalembert und seine Freunde, die das Werk
der absoluten Papstherrschaft redlich gefördert hatten, nun endlich sahen, was
sie angerichtet hatten, und zu widersprechen anfingen -- nun, da war das Werk
eben fertig und zu solid, als daß Proteste es hätten einreißen können. Pius
sprach eben anch bloß die thatsächliche Lage aus, als er seine Unfehlbarkeit
verkündete. Neue Verhältnisse schaffen, das ist unsre Aufgabe; das Para¬
graphiren derselben wird seinerzeit schon besorgt werden."

"Nachdem wir uns mit denen auseinandergesetzt haben, die reformiren
wollen, nur "um die Sache vorwärts zu bringen," erlauben wir uns noch ein
Wort an die zu richten, die aus Gcwissensgründen reformiren wollen. Erst
im Verlauf der Bewegung ist manchen die Größe des Unterschieds zwischen
der Kirche der Gegenwart und der Kirche der Apostel klar geworden, über
den man in protestantischen Kreisen längst klar ist. Sie halten sich nun im
Gewissen verbunden, in Verfassung und Kultus alles abzuschaffen, was nicht
in der Schrift begründet ist. Abgesehen von der Frage, ob bei Reform¬
bestrebungen der Zustand der Apostelkirche nur als Ausgangspunkt und
Regulator oder als Ziel aufgefaßt werden soll, möchten wir diese unsre Freunde
auf Johann Gottlieb Fichte verweisen. Dieser Apostel deutscher Überzcugungs-
treue sagt in seinem System der Sittenlehre ^es folgten nun zwei Stellen, in
denen ausgeführt wird, daß der Geistliche als Gelehrter zwar seiner Gemeinde
in der Erkenntnis vorauseilen und die gewonnene Privatüberzeugung in ge¬
lehrten Schriften aussprechen darf, daß er aber als Geistlicher nur deu Glauben
seiner Gemeinde zu verkündigen hat, und daß. wenn er auf der Kanzel Privat¬
meinungen einmischt, sofern er Staatsbeamter ist, der Staat das Recht hat,
es ihm zu verbieten^. Wir müssen es aus Mangel an Raum den Lesern über¬
lassen, die Mißverständnisse, die diese ausgehöhlten Sätze veranlassen können,
durch eignes Nachdenken oder durch Nachschlagen des Zusammenhangs zu be¬
seitigen, und bemerken nur eins dazu: Privatüberzeugung ist keine Kirchen,
überhaupt keine Gemeinschaft bildende Kraft, denn jeder hat eine andre Über¬
zeugung. Kirchen entstehen und erhalten sich nur, wo Glaubenssätze und
Kulte als selbstverständliche Grundlage von vielen zugleich angenommen werden,
die sich auf diese Grundlage stellen, ohne sie einer Diskussion zu unterwerfen.
Die Kirche, der man angehört, kann eine Richtung einschlagen, die so ver¬
derblich ist, daß sich viele durch ihre Privatüberzcugung im Gewissen verbunden


München und Konstanz

gänzlich bedeutungsloser, weil im realen Leben gar nicht vorhandner Gegen¬
stand, mit dem sich nur die Gelehrten zu befassen hätten. Dagegen war der
Papst, dem kein Katholik zu widersprechen wagte, dem man fünfundzwanzig
Jahre lang halbgöttliche Ehren erwiesen hatte, aus dessen Munde man eine
Unzahl von Ablassen und dogmatischen Erklärungen devotest angenommen hatte,
eine sehr reale Große. Die römisch-katholische Christenheit behandelte ihren
Pius zwei Jahrzehnte hindurch wirklich als ihren unfehlbaren Lehrer und un¬
beschränkten Herrn, und als Montalembert und seine Freunde, die das Werk
der absoluten Papstherrschaft redlich gefördert hatten, nun endlich sahen, was
sie angerichtet hatten, und zu widersprechen anfingen — nun, da war das Werk
eben fertig und zu solid, als daß Proteste es hätten einreißen können. Pius
sprach eben anch bloß die thatsächliche Lage aus, als er seine Unfehlbarkeit
verkündete. Neue Verhältnisse schaffen, das ist unsre Aufgabe; das Para¬
graphiren derselben wird seinerzeit schon besorgt werden."

„Nachdem wir uns mit denen auseinandergesetzt haben, die reformiren
wollen, nur »um die Sache vorwärts zu bringen,« erlauben wir uns noch ein
Wort an die zu richten, die aus Gcwissensgründen reformiren wollen. Erst
im Verlauf der Bewegung ist manchen die Größe des Unterschieds zwischen
der Kirche der Gegenwart und der Kirche der Apostel klar geworden, über
den man in protestantischen Kreisen längst klar ist. Sie halten sich nun im
Gewissen verbunden, in Verfassung und Kultus alles abzuschaffen, was nicht
in der Schrift begründet ist. Abgesehen von der Frage, ob bei Reform¬
bestrebungen der Zustand der Apostelkirche nur als Ausgangspunkt und
Regulator oder als Ziel aufgefaßt werden soll, möchten wir diese unsre Freunde
auf Johann Gottlieb Fichte verweisen. Dieser Apostel deutscher Überzcugungs-
treue sagt in seinem System der Sittenlehre ^es folgten nun zwei Stellen, in
denen ausgeführt wird, daß der Geistliche als Gelehrter zwar seiner Gemeinde
in der Erkenntnis vorauseilen und die gewonnene Privatüberzeugung in ge¬
lehrten Schriften aussprechen darf, daß er aber als Geistlicher nur deu Glauben
seiner Gemeinde zu verkündigen hat, und daß. wenn er auf der Kanzel Privat¬
meinungen einmischt, sofern er Staatsbeamter ist, der Staat das Recht hat,
es ihm zu verbieten^. Wir müssen es aus Mangel an Raum den Lesern über¬
lassen, die Mißverständnisse, die diese ausgehöhlten Sätze veranlassen können,
durch eignes Nachdenken oder durch Nachschlagen des Zusammenhangs zu be¬
seitigen, und bemerken nur eins dazu: Privatüberzeugung ist keine Kirchen,
überhaupt keine Gemeinschaft bildende Kraft, denn jeder hat eine andre Über¬
zeugung. Kirchen entstehen und erhalten sich nur, wo Glaubenssätze und
Kulte als selbstverständliche Grundlage von vielen zugleich angenommen werden,
die sich auf diese Grundlage stellen, ohne sie einer Diskussion zu unterwerfen.
Die Kirche, der man angehört, kann eine Richtung einschlagen, die so ver¬
derblich ist, daß sich viele durch ihre Privatüberzcugung im Gewissen verbunden


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[0240] München und Konstanz gänzlich bedeutungsloser, weil im realen Leben gar nicht vorhandner Gegen¬ stand, mit dem sich nur die Gelehrten zu befassen hätten. Dagegen war der Papst, dem kein Katholik zu widersprechen wagte, dem man fünfundzwanzig Jahre lang halbgöttliche Ehren erwiesen hatte, aus dessen Munde man eine Unzahl von Ablassen und dogmatischen Erklärungen devotest angenommen hatte, eine sehr reale Große. Die römisch-katholische Christenheit behandelte ihren Pius zwei Jahrzehnte hindurch wirklich als ihren unfehlbaren Lehrer und un¬ beschränkten Herrn, und als Montalembert und seine Freunde, die das Werk der absoluten Papstherrschaft redlich gefördert hatten, nun endlich sahen, was sie angerichtet hatten, und zu widersprechen anfingen — nun, da war das Werk eben fertig und zu solid, als daß Proteste es hätten einreißen können. Pius sprach eben anch bloß die thatsächliche Lage aus, als er seine Unfehlbarkeit verkündete. Neue Verhältnisse schaffen, das ist unsre Aufgabe; das Para¬ graphiren derselben wird seinerzeit schon besorgt werden." „Nachdem wir uns mit denen auseinandergesetzt haben, die reformiren wollen, nur »um die Sache vorwärts zu bringen,« erlauben wir uns noch ein Wort an die zu richten, die aus Gcwissensgründen reformiren wollen. Erst im Verlauf der Bewegung ist manchen die Größe des Unterschieds zwischen der Kirche der Gegenwart und der Kirche der Apostel klar geworden, über den man in protestantischen Kreisen längst klar ist. Sie halten sich nun im Gewissen verbunden, in Verfassung und Kultus alles abzuschaffen, was nicht in der Schrift begründet ist. Abgesehen von der Frage, ob bei Reform¬ bestrebungen der Zustand der Apostelkirche nur als Ausgangspunkt und Regulator oder als Ziel aufgefaßt werden soll, möchten wir diese unsre Freunde auf Johann Gottlieb Fichte verweisen. Dieser Apostel deutscher Überzcugungs- treue sagt in seinem System der Sittenlehre ^es folgten nun zwei Stellen, in denen ausgeführt wird, daß der Geistliche als Gelehrter zwar seiner Gemeinde in der Erkenntnis vorauseilen und die gewonnene Privatüberzeugung in ge¬ lehrten Schriften aussprechen darf, daß er aber als Geistlicher nur deu Glauben seiner Gemeinde zu verkündigen hat, und daß. wenn er auf der Kanzel Privat¬ meinungen einmischt, sofern er Staatsbeamter ist, der Staat das Recht hat, es ihm zu verbieten^. Wir müssen es aus Mangel an Raum den Lesern über¬ lassen, die Mißverständnisse, die diese ausgehöhlten Sätze veranlassen können, durch eignes Nachdenken oder durch Nachschlagen des Zusammenhangs zu be¬ seitigen, und bemerken nur eins dazu: Privatüberzeugung ist keine Kirchen, überhaupt keine Gemeinschaft bildende Kraft, denn jeder hat eine andre Über¬ zeugung. Kirchen entstehen und erhalten sich nur, wo Glaubenssätze und Kulte als selbstverständliche Grundlage von vielen zugleich angenommen werden, die sich auf diese Grundlage stellen, ohne sie einer Diskussion zu unterwerfen. Die Kirche, der man angehört, kann eine Richtung einschlagen, die so ver¬ derblich ist, daß sich viele durch ihre Privatüberzcugung im Gewissen verbunden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/240>, abgerufen am 23.07.2024.