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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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München und Konstanz

erstenmale in München aufgeführt. Sie hatte also die maßgebenden Behörden
ersucht, ihr zu erlauben, daß sie die Vorstellung mit ihrem Säuglinge besuche
und ihn dabei stille. Und die Grausamen hatten es ihr abgeschlagen mit
Rücksicht auf unsre heutigen Sitten, die die Erfüllung heiliger Mutterpflichten
für etwas Lächerliches oder gar Unanständiges erklären! Und so war ihr
heißer Wunsch, das größte Werk des göttlichen Meisters kennen zu lernen und
zu genießen, vorläufig unerfüllt geblieben.

Wenn die gute Frau Müller noch leben und dieses lesen sollte, wird sie
mich hoffentlich nicht anklagen, daß ich sie lächerlich machen wolle. Das
Komische, worüber wir lachen, liegt ja nur in der Kontrastwirkung, und diese
ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der großen Tragikomödie des Lebens. Wir
finden keine Dame lächerlich, die sich für Musik und Litteratur, für den Fort¬
schritt der Wissenschaften und für die großen Dascinsfragen lebhaft interessirt.
Also daß die Frau, die doch so zu sagen auch ein Mensch ist, an den höchsten
Interessen des Menschen teilnimmt, kann an sich nichts lächerliches sein. Wenn
nun aber die Verbindung von Waschschaff und Philosophie, von Kochtopf und
Musiktheorie (Kinderstillen und Ästhetik sind so wenig unverträglich mit ein¬
ander, daß vielmehr eine stillende Mutter einen der schönsten und edelsten
Gegenstände der bildenden Künste abgiebt; auch dem lehrenden Heiland lassen
die Maler gern solche zuhören), wenn diese Verbindung komisch wirkt, verliert
dadurch etwa das Opfer dieser Komik an Achtungswürdigkeit? Steht die
üsthctisirende Dame deswegen über der unbemittelten ästhetisirenden Familien¬
mutter, weil sie es nicht nötig hat, schmutzige Wäsche zu waschen, am Kochofen
zu schwitzen und ihren Jungen die Hosen zu flicken? Das Gegenteil wird doch
wohl das richtigere sein, vorausgesetzt, daß unter der Ästhetik die Wirtschaft
nicht leidet. Oder will man die Arbeitsteilung so weit durchführen, daß man
den mit grober Arbeit beschäftigten die Beschäftigung mit den höhern Dingen
grundsätzlich verwehrt, d. h. ihnen grundsätzlich verwehrt, ganze Menschen zu
sein? Thatsächlich ist es ihnen ja meistens verwehrt, und sofern sie das inne
werden, liegt eben darin die Tragik des Menschendaseins. Versuchen sie nun,
das Entgegengesetzte zu verbinden, so giebt das allerdings zu lachen. Aber
daran dürfen sie sich nicht kehren. Ist es doch sogar ein verdienstliches
Werk, seinen Mitmenschen zu lachen zu geben, da Lachen die gesündeste aller
Muskelbewegungen und Seelenerschütterungen und eine unentbehrliche Medizin
in dieser an Gift und Galle so reichen Welt ist. Zudem ist ein Mensch, der
seinen Mitmenschen keinen Anlaß zum Lachen giebt, entweder ein Unhold oder
ein ganz unbedeutender Philister ohne geistigen Inhalt und ohne charakteristische
Eigentümlichkeiten. Zwar preist man uns auch Heilige und Helden an, über
die zu lachen eine Ehrsurchtsverletzung sein soll (von den unglückseligen modernen
Majestäten, die der Staatsanwalt vorm Belachtwerden schützt, und denen
dadurch die grausame Zumutung gestellt wird, keine Menschen mehr sein zu


Grenzboten II 1897 29
München und Konstanz

erstenmale in München aufgeführt. Sie hatte also die maßgebenden Behörden
ersucht, ihr zu erlauben, daß sie die Vorstellung mit ihrem Säuglinge besuche
und ihn dabei stille. Und die Grausamen hatten es ihr abgeschlagen mit
Rücksicht auf unsre heutigen Sitten, die die Erfüllung heiliger Mutterpflichten
für etwas Lächerliches oder gar Unanständiges erklären! Und so war ihr
heißer Wunsch, das größte Werk des göttlichen Meisters kennen zu lernen und
zu genießen, vorläufig unerfüllt geblieben.

Wenn die gute Frau Müller noch leben und dieses lesen sollte, wird sie
mich hoffentlich nicht anklagen, daß ich sie lächerlich machen wolle. Das
Komische, worüber wir lachen, liegt ja nur in der Kontrastwirkung, und diese
ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der großen Tragikomödie des Lebens. Wir
finden keine Dame lächerlich, die sich für Musik und Litteratur, für den Fort¬
schritt der Wissenschaften und für die großen Dascinsfragen lebhaft interessirt.
Also daß die Frau, die doch so zu sagen auch ein Mensch ist, an den höchsten
Interessen des Menschen teilnimmt, kann an sich nichts lächerliches sein. Wenn
nun aber die Verbindung von Waschschaff und Philosophie, von Kochtopf und
Musiktheorie (Kinderstillen und Ästhetik sind so wenig unverträglich mit ein¬
ander, daß vielmehr eine stillende Mutter einen der schönsten und edelsten
Gegenstände der bildenden Künste abgiebt; auch dem lehrenden Heiland lassen
die Maler gern solche zuhören), wenn diese Verbindung komisch wirkt, verliert
dadurch etwa das Opfer dieser Komik an Achtungswürdigkeit? Steht die
üsthctisirende Dame deswegen über der unbemittelten ästhetisirenden Familien¬
mutter, weil sie es nicht nötig hat, schmutzige Wäsche zu waschen, am Kochofen
zu schwitzen und ihren Jungen die Hosen zu flicken? Das Gegenteil wird doch
wohl das richtigere sein, vorausgesetzt, daß unter der Ästhetik die Wirtschaft
nicht leidet. Oder will man die Arbeitsteilung so weit durchführen, daß man
den mit grober Arbeit beschäftigten die Beschäftigung mit den höhern Dingen
grundsätzlich verwehrt, d. h. ihnen grundsätzlich verwehrt, ganze Menschen zu
sein? Thatsächlich ist es ihnen ja meistens verwehrt, und sofern sie das inne
werden, liegt eben darin die Tragik des Menschendaseins. Versuchen sie nun,
das Entgegengesetzte zu verbinden, so giebt das allerdings zu lachen. Aber
daran dürfen sie sich nicht kehren. Ist es doch sogar ein verdienstliches
Werk, seinen Mitmenschen zu lachen zu geben, da Lachen die gesündeste aller
Muskelbewegungen und Seelenerschütterungen und eine unentbehrliche Medizin
in dieser an Gift und Galle so reichen Welt ist. Zudem ist ein Mensch, der
seinen Mitmenschen keinen Anlaß zum Lachen giebt, entweder ein Unhold oder
ein ganz unbedeutender Philister ohne geistigen Inhalt und ohne charakteristische
Eigentümlichkeiten. Zwar preist man uns auch Heilige und Helden an, über
die zu lachen eine Ehrsurchtsverletzung sein soll (von den unglückseligen modernen
Majestäten, die der Staatsanwalt vorm Belachtwerden schützt, und denen
dadurch die grausame Zumutung gestellt wird, keine Menschen mehr sein zu


Grenzboten II 1897 29
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[0233] München und Konstanz erstenmale in München aufgeführt. Sie hatte also die maßgebenden Behörden ersucht, ihr zu erlauben, daß sie die Vorstellung mit ihrem Säuglinge besuche und ihn dabei stille. Und die Grausamen hatten es ihr abgeschlagen mit Rücksicht auf unsre heutigen Sitten, die die Erfüllung heiliger Mutterpflichten für etwas Lächerliches oder gar Unanständiges erklären! Und so war ihr heißer Wunsch, das größte Werk des göttlichen Meisters kennen zu lernen und zu genießen, vorläufig unerfüllt geblieben. Wenn die gute Frau Müller noch leben und dieses lesen sollte, wird sie mich hoffentlich nicht anklagen, daß ich sie lächerlich machen wolle. Das Komische, worüber wir lachen, liegt ja nur in der Kontrastwirkung, und diese ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der großen Tragikomödie des Lebens. Wir finden keine Dame lächerlich, die sich für Musik und Litteratur, für den Fort¬ schritt der Wissenschaften und für die großen Dascinsfragen lebhaft interessirt. Also daß die Frau, die doch so zu sagen auch ein Mensch ist, an den höchsten Interessen des Menschen teilnimmt, kann an sich nichts lächerliches sein. Wenn nun aber die Verbindung von Waschschaff und Philosophie, von Kochtopf und Musiktheorie (Kinderstillen und Ästhetik sind so wenig unverträglich mit ein¬ ander, daß vielmehr eine stillende Mutter einen der schönsten und edelsten Gegenstände der bildenden Künste abgiebt; auch dem lehrenden Heiland lassen die Maler gern solche zuhören), wenn diese Verbindung komisch wirkt, verliert dadurch etwa das Opfer dieser Komik an Achtungswürdigkeit? Steht die üsthctisirende Dame deswegen über der unbemittelten ästhetisirenden Familien¬ mutter, weil sie es nicht nötig hat, schmutzige Wäsche zu waschen, am Kochofen zu schwitzen und ihren Jungen die Hosen zu flicken? Das Gegenteil wird doch wohl das richtigere sein, vorausgesetzt, daß unter der Ästhetik die Wirtschaft nicht leidet. Oder will man die Arbeitsteilung so weit durchführen, daß man den mit grober Arbeit beschäftigten die Beschäftigung mit den höhern Dingen grundsätzlich verwehrt, d. h. ihnen grundsätzlich verwehrt, ganze Menschen zu sein? Thatsächlich ist es ihnen ja meistens verwehrt, und sofern sie das inne werden, liegt eben darin die Tragik des Menschendaseins. Versuchen sie nun, das Entgegengesetzte zu verbinden, so giebt das allerdings zu lachen. Aber daran dürfen sie sich nicht kehren. Ist es doch sogar ein verdienstliches Werk, seinen Mitmenschen zu lachen zu geben, da Lachen die gesündeste aller Muskelbewegungen und Seelenerschütterungen und eine unentbehrliche Medizin in dieser an Gift und Galle so reichen Welt ist. Zudem ist ein Mensch, der seinen Mitmenschen keinen Anlaß zum Lachen giebt, entweder ein Unhold oder ein ganz unbedeutender Philister ohne geistigen Inhalt und ohne charakteristische Eigentümlichkeiten. Zwar preist man uns auch Heilige und Helden an, über die zu lachen eine Ehrsurchtsverletzung sein soll (von den unglückseligen modernen Majestäten, die der Staatsanwalt vorm Belachtwerden schützt, und denen dadurch die grausame Zumutung gestellt wird, keine Menschen mehr sein zu Grenzboten II 1897 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/233>, abgerufen am 23.07.2024.