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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Gewerbecuifsicht und Grtspolizei

bewußt, in den Augen vieler noch immer eine arge Ketzerei, und doch muß
es gesagt werden gerade angesichts der gewaltigen sozialpolitischen Aufgaben,
die die Gegenwart den Trägern der Ortspolizei aufbürdet. Es ist uns immer
ziemlich unbegreiflich gewesen, daß man in Deutschland und namentlich in
Preußen, dessen Verhältnisse uns am nächsten liegen, selbst in Kreisen, wo
die Doktrinen des extremen Liberalismus nicht herrschend waren, sur das
englische Selfgovernment. wie Gneist es importirt hat. und solcher Zuversicht
schwärmte. Gneist selbst hat das englische Selfgovernment in diesem Jahr¬
hundert mehrfach als i.n Verfall begriffen geschildert. Er berichtet, daß in
großen Städten und in dicht angebauten Fabrikbezirken die Geschäftslast, der
Geist der neuen städtischen 8^ und die Kollision der Interessen vou Kapital
und Arbeit die Anstellung ..beamteter" Richter ratsam habe erscheinen lasse",
daß mehr Polizei, und bezahlte Polizei zu fordern in England als Zeichen
fortgeschrittener Gesinnung gelte, daß das Gendarmeriesystem, in zehnfach
stärkerer Ausbildung als in Preußen. an dem entscheidenden Punkte über das
alte Selfgovernment vollständig gesiegt habe. Für die mangelhafte Besetzung
der polizeilichen Ämter durch die gewählten Boards spreche unter anderm auch
die Thatsache, daß fünfundzwanzig Städte die Anstellung ihrer Bauinspektoren
freiwillig der Staatsbehörde überlassen hätten, um das Cliquenwesen in den
Boards loszuwerden. Es zeige sich, daß sich gewühlte Körper, die über
andre kleine Wahlkörper gesetzt seien, als größere Autorität in allen Dingen
ansähen, alle Verwaltung der einzelnen Kirchspiele immer mehr an sich rissen
und damit die Selbständigkeit der Ortsgemeindeu in nicht geringerm Maße
vernichteten als die Beamten des büreaukratischen Systems. Alle herrschenden
Vorstellungen von der ..Wohlfeilheit." natürlichen "Einfachheit," patriarchalischen
.Naturwüchsigkeit" des Selfgovernment seien Irrtümer, die, absichtlich oder un-
absichtlich seit Menschenaltern gehegt und genährt, neue Irrtümer erzeugt hätten.
Es wolle mich in der That niemand auf dem Kontinent patriarchalisch regiert
werden, sondern mir andre so regieren. Die moderne Gesellschaft sei von dem
einen Gedanken beseelt, durch gewühlte Verwaltungsrate einen Einfluß auf die
örtlichen Interessen zu gewinnen. Darin seien beide Teile einig über "Selbst¬
verwaltung," immer nur an ihre Interessen zu denken, nicht aber an die An¬
forderungen des heutigen Staates. Wir haben, in Deutschland diese Wahr¬
nehmungen seit Jahrzehnten am eignen Leibe zu erfahren reichlich Gelegen¬
heit gehabt, und die Schwärmerei für das polizeiliche iselfgvvernmeut sollte
eigentlich zu Ende sein bei vernünftigen Menschen, namentlich ans sozialem
Gebiete. Mit dem Beruf unsrer Zeit zur Selbstverwaltung steht es kläglich.
Für uns besteht darüber kein Zweifel, daß gerade die unerläßliche Aufgabe,
die der Arbeiterschutz der Gegenwart stellt, zu einer durchgreifenden Verstaat¬
lichung der Polizei sühren wird. Die stärkere Beteiligung der arbeitenden
Klassen an den Wahlkörpern der Selbstverwaltung ist keine Hilfe, die Ent-


Gewerbecuifsicht und Grtspolizei

bewußt, in den Augen vieler noch immer eine arge Ketzerei, und doch muß
es gesagt werden gerade angesichts der gewaltigen sozialpolitischen Aufgaben,
die die Gegenwart den Trägern der Ortspolizei aufbürdet. Es ist uns immer
ziemlich unbegreiflich gewesen, daß man in Deutschland und namentlich in
Preußen, dessen Verhältnisse uns am nächsten liegen, selbst in Kreisen, wo
die Doktrinen des extremen Liberalismus nicht herrschend waren, sur das
englische Selfgovernment. wie Gneist es importirt hat. und solcher Zuversicht
schwärmte. Gneist selbst hat das englische Selfgovernment in diesem Jahr¬
hundert mehrfach als i.n Verfall begriffen geschildert. Er berichtet, daß in
großen Städten und in dicht angebauten Fabrikbezirken die Geschäftslast, der
Geist der neuen städtischen 8^ und die Kollision der Interessen vou Kapital
und Arbeit die Anstellung ..beamteter" Richter ratsam habe erscheinen lasse»,
daß mehr Polizei, und bezahlte Polizei zu fordern in England als Zeichen
fortgeschrittener Gesinnung gelte, daß das Gendarmeriesystem, in zehnfach
stärkerer Ausbildung als in Preußen. an dem entscheidenden Punkte über das
alte Selfgovernment vollständig gesiegt habe. Für die mangelhafte Besetzung
der polizeilichen Ämter durch die gewählten Boards spreche unter anderm auch
die Thatsache, daß fünfundzwanzig Städte die Anstellung ihrer Bauinspektoren
freiwillig der Staatsbehörde überlassen hätten, um das Cliquenwesen in den
Boards loszuwerden. Es zeige sich, daß sich gewühlte Körper, die über
andre kleine Wahlkörper gesetzt seien, als größere Autorität in allen Dingen
ansähen, alle Verwaltung der einzelnen Kirchspiele immer mehr an sich rissen
und damit die Selbständigkeit der Ortsgemeindeu in nicht geringerm Maße
vernichteten als die Beamten des büreaukratischen Systems. Alle herrschenden
Vorstellungen von der ..Wohlfeilheit." natürlichen „Einfachheit," patriarchalischen
.Naturwüchsigkeit" des Selfgovernment seien Irrtümer, die, absichtlich oder un-
absichtlich seit Menschenaltern gehegt und genährt, neue Irrtümer erzeugt hätten.
Es wolle mich in der That niemand auf dem Kontinent patriarchalisch regiert
werden, sondern mir andre so regieren. Die moderne Gesellschaft sei von dem
einen Gedanken beseelt, durch gewühlte Verwaltungsrate einen Einfluß auf die
örtlichen Interessen zu gewinnen. Darin seien beide Teile einig über „Selbst¬
verwaltung," immer nur an ihre Interessen zu denken, nicht aber an die An¬
forderungen des heutigen Staates. Wir haben, in Deutschland diese Wahr¬
nehmungen seit Jahrzehnten am eignen Leibe zu erfahren reichlich Gelegen¬
heit gehabt, und die Schwärmerei für das polizeiliche iselfgvvernmeut sollte
eigentlich zu Ende sein bei vernünftigen Menschen, namentlich ans sozialem
Gebiete. Mit dem Beruf unsrer Zeit zur Selbstverwaltung steht es kläglich.
Für uns besteht darüber kein Zweifel, daß gerade die unerläßliche Aufgabe,
die der Arbeiterschutz der Gegenwart stellt, zu einer durchgreifenden Verstaat¬
lichung der Polizei sühren wird. Die stärkere Beteiligung der arbeitenden
Klassen an den Wahlkörpern der Selbstverwaltung ist keine Hilfe, die Ent-


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[0023] Gewerbecuifsicht und Grtspolizei bewußt, in den Augen vieler noch immer eine arge Ketzerei, und doch muß es gesagt werden gerade angesichts der gewaltigen sozialpolitischen Aufgaben, die die Gegenwart den Trägern der Ortspolizei aufbürdet. Es ist uns immer ziemlich unbegreiflich gewesen, daß man in Deutschland und namentlich in Preußen, dessen Verhältnisse uns am nächsten liegen, selbst in Kreisen, wo die Doktrinen des extremen Liberalismus nicht herrschend waren, sur das englische Selfgovernment. wie Gneist es importirt hat. und solcher Zuversicht schwärmte. Gneist selbst hat das englische Selfgovernment in diesem Jahr¬ hundert mehrfach als i.n Verfall begriffen geschildert. Er berichtet, daß in großen Städten und in dicht angebauten Fabrikbezirken die Geschäftslast, der Geist der neuen städtischen 8^ und die Kollision der Interessen vou Kapital und Arbeit die Anstellung ..beamteter" Richter ratsam habe erscheinen lasse», daß mehr Polizei, und bezahlte Polizei zu fordern in England als Zeichen fortgeschrittener Gesinnung gelte, daß das Gendarmeriesystem, in zehnfach stärkerer Ausbildung als in Preußen. an dem entscheidenden Punkte über das alte Selfgovernment vollständig gesiegt habe. Für die mangelhafte Besetzung der polizeilichen Ämter durch die gewählten Boards spreche unter anderm auch die Thatsache, daß fünfundzwanzig Städte die Anstellung ihrer Bauinspektoren freiwillig der Staatsbehörde überlassen hätten, um das Cliquenwesen in den Boards loszuwerden. Es zeige sich, daß sich gewühlte Körper, die über andre kleine Wahlkörper gesetzt seien, als größere Autorität in allen Dingen ansähen, alle Verwaltung der einzelnen Kirchspiele immer mehr an sich rissen und damit die Selbständigkeit der Ortsgemeindeu in nicht geringerm Maße vernichteten als die Beamten des büreaukratischen Systems. Alle herrschenden Vorstellungen von der ..Wohlfeilheit." natürlichen „Einfachheit," patriarchalischen .Naturwüchsigkeit" des Selfgovernment seien Irrtümer, die, absichtlich oder un- absichtlich seit Menschenaltern gehegt und genährt, neue Irrtümer erzeugt hätten. Es wolle mich in der That niemand auf dem Kontinent patriarchalisch regiert werden, sondern mir andre so regieren. Die moderne Gesellschaft sei von dem einen Gedanken beseelt, durch gewühlte Verwaltungsrate einen Einfluß auf die örtlichen Interessen zu gewinnen. Darin seien beide Teile einig über „Selbst¬ verwaltung," immer nur an ihre Interessen zu denken, nicht aber an die An¬ forderungen des heutigen Staates. Wir haben, in Deutschland diese Wahr¬ nehmungen seit Jahrzehnten am eignen Leibe zu erfahren reichlich Gelegen¬ heit gehabt, und die Schwärmerei für das polizeiliche iselfgvvernmeut sollte eigentlich zu Ende sein bei vernünftigen Menschen, namentlich ans sozialem Gebiete. Mit dem Beruf unsrer Zeit zur Selbstverwaltung steht es kläglich. Für uns besteht darüber kein Zweifel, daß gerade die unerläßliche Aufgabe, die der Arbeiterschutz der Gegenwart stellt, zu einer durchgreifenden Verstaat¬ lichung der Polizei sühren wird. Die stärkere Beteiligung der arbeitenden Klassen an den Wahlkörpern der Selbstverwaltung ist keine Hilfe, die Ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/23>, abgerufen am 23.07.2024.