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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Kolonisation

an andre Völker abgegeben. Als Grund der Auswanderung hat Röscher hervor¬
gehoben: Übervölkerung, Überfüllung mit Kapital, Überfüllung mit geistigen
Kräften, endlich politische oder religiöse Unzufriedenheit. Was die Über¬
völkerung anlangt, so haben wir in Deutschland, wie jetzt wohl ziemlich
allgemein bekannt ist, einen jährlichen Geburtenüberschuß von etwa 600000
Köpfen, der natürlich fortwährend steigt. Die materielle Seite der sozialen Frage
liegt in ihrem Kernpunkt zum großen Teil in der Veränderung des Verhält¬
nisses zwischen der Bevölkerungszahl und den Ernührungsqnellen. Wie sich in
der organischen Natur die zuerst gekommnen nach Gefallen und Vermögen aus¬
dehnen, so auch in der menschlichen Gesellschaft. Solange Land in Menge dawar,
konnte jeder zugreifen und sich nehmen, soviel er brauchen konnte; der Mächtige
suchte sich vor allen Dingen Hände zu verschaffen. Solange jeder Familie eine
volle Hilfe zugewiesen werden konnte, war von Not keine Rede; so war es in
Deutschland bis etwa 1400. Dann begann der auf den Einzelnen fallende Teil
kleiner zu werden, verschiedne Umstünde, besonders große Kriege, haben im sech¬
zehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die natürliche Vermehrung der
Bevölkerung aufgehalten. Daß in der Gegenwart die Bevölkeruugsspaunung
und die Zunahme ungehinderter Existenzen in allen Klaffen in Deutschland
hochgradig und besorgniserregend ist, wird niemand leugnen können.

Über die Überproduktion akademischer Bildung, das Anwachsen eines
geistigen Proletariats hat sich Fürst Bismarck ost geäußert, als über einen
bedenklichen Punkt unsrer nationale" Entwicklung. Wir erkennen die Thatsache
ohne weiteres an; es ist ein Mißverhältnis zwischen der Menge der geistigen
Kräfte und der Möglichkeit, daß sie sich alle auf nationalem Boden nützlich
bethätigen könnten. Wir finden aber das Falsche nicht in dem Thätigkeits¬
orange des deutschen Volkes, sondern in der Enge des Feldes seiner Thätig¬
keit -- mit einem Wort: Macedonien ist zu klein für die Kräfte des Volkes
geworden, wir wollen und müssen uns ein größeres Reich suchen!^)

Um noch ein Wort über die politische Unzufriedenheit zu sagen, so genügt
es, darauf hinzuweisen, daß die deutsche Auswanderung in den Jahren um
1848 am größten gewesen ist; die Unzufriedenheit wirkt als Grund zur Aus¬
wanderung am stärksten, wenn eine kräftige, über allen Parteien stehende
Staatsregierung fehlt, und die Regierung in Klassenherrschaft ausartet.

Wir fasten nun unsre Wünsche für die Auswanderung und Kolonisation
dahin zusammen, daß der auswandernde Teil des deutschen Volkes mit dem
zurückgebliebnen in Sprache, Politik und Wirtschaft in Zusammenhang bleibt,
daß sich beide Teile gegenseitig in jeder Beziehung fördern und unterstützen. So



In England wird als ein Hauptgrund, weshalb man den politischen Zusammenhang
"ut den Kolonien nicht aufgeben dürfe, ihre Bedeutung als Bersorgungscmstalten für den ge¬
bildeten aber armen Mittelstand angegeben. "Das Aufhören des Abflusses würde eine furcht¬
bare Armee von Unzufriednen anhäufen."
Deutsche Kolonisation

an andre Völker abgegeben. Als Grund der Auswanderung hat Röscher hervor¬
gehoben: Übervölkerung, Überfüllung mit Kapital, Überfüllung mit geistigen
Kräften, endlich politische oder religiöse Unzufriedenheit. Was die Über¬
völkerung anlangt, so haben wir in Deutschland, wie jetzt wohl ziemlich
allgemein bekannt ist, einen jährlichen Geburtenüberschuß von etwa 600000
Köpfen, der natürlich fortwährend steigt. Die materielle Seite der sozialen Frage
liegt in ihrem Kernpunkt zum großen Teil in der Veränderung des Verhält¬
nisses zwischen der Bevölkerungszahl und den Ernührungsqnellen. Wie sich in
der organischen Natur die zuerst gekommnen nach Gefallen und Vermögen aus¬
dehnen, so auch in der menschlichen Gesellschaft. Solange Land in Menge dawar,
konnte jeder zugreifen und sich nehmen, soviel er brauchen konnte; der Mächtige
suchte sich vor allen Dingen Hände zu verschaffen. Solange jeder Familie eine
volle Hilfe zugewiesen werden konnte, war von Not keine Rede; so war es in
Deutschland bis etwa 1400. Dann begann der auf den Einzelnen fallende Teil
kleiner zu werden, verschiedne Umstünde, besonders große Kriege, haben im sech¬
zehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die natürliche Vermehrung der
Bevölkerung aufgehalten. Daß in der Gegenwart die Bevölkeruugsspaunung
und die Zunahme ungehinderter Existenzen in allen Klaffen in Deutschland
hochgradig und besorgniserregend ist, wird niemand leugnen können.

Über die Überproduktion akademischer Bildung, das Anwachsen eines
geistigen Proletariats hat sich Fürst Bismarck ost geäußert, als über einen
bedenklichen Punkt unsrer nationale» Entwicklung. Wir erkennen die Thatsache
ohne weiteres an; es ist ein Mißverhältnis zwischen der Menge der geistigen
Kräfte und der Möglichkeit, daß sie sich alle auf nationalem Boden nützlich
bethätigen könnten. Wir finden aber das Falsche nicht in dem Thätigkeits¬
orange des deutschen Volkes, sondern in der Enge des Feldes seiner Thätig¬
keit — mit einem Wort: Macedonien ist zu klein für die Kräfte des Volkes
geworden, wir wollen und müssen uns ein größeres Reich suchen!^)

Um noch ein Wort über die politische Unzufriedenheit zu sagen, so genügt
es, darauf hinzuweisen, daß die deutsche Auswanderung in den Jahren um
1848 am größten gewesen ist; die Unzufriedenheit wirkt als Grund zur Aus¬
wanderung am stärksten, wenn eine kräftige, über allen Parteien stehende
Staatsregierung fehlt, und die Regierung in Klassenherrschaft ausartet.

Wir fasten nun unsre Wünsche für die Auswanderung und Kolonisation
dahin zusammen, daß der auswandernde Teil des deutschen Volkes mit dem
zurückgebliebnen in Sprache, Politik und Wirtschaft in Zusammenhang bleibt,
daß sich beide Teile gegenseitig in jeder Beziehung fördern und unterstützen. So



In England wird als ein Hauptgrund, weshalb man den politischen Zusammenhang
»ut den Kolonien nicht aufgeben dürfe, ihre Bedeutung als Bersorgungscmstalten für den ge¬
bildeten aber armen Mittelstand angegeben. „Das Aufhören des Abflusses würde eine furcht¬
bare Armee von Unzufriednen anhäufen."
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[0011] Deutsche Kolonisation an andre Völker abgegeben. Als Grund der Auswanderung hat Röscher hervor¬ gehoben: Übervölkerung, Überfüllung mit Kapital, Überfüllung mit geistigen Kräften, endlich politische oder religiöse Unzufriedenheit. Was die Über¬ völkerung anlangt, so haben wir in Deutschland, wie jetzt wohl ziemlich allgemein bekannt ist, einen jährlichen Geburtenüberschuß von etwa 600000 Köpfen, der natürlich fortwährend steigt. Die materielle Seite der sozialen Frage liegt in ihrem Kernpunkt zum großen Teil in der Veränderung des Verhält¬ nisses zwischen der Bevölkerungszahl und den Ernührungsqnellen. Wie sich in der organischen Natur die zuerst gekommnen nach Gefallen und Vermögen aus¬ dehnen, so auch in der menschlichen Gesellschaft. Solange Land in Menge dawar, konnte jeder zugreifen und sich nehmen, soviel er brauchen konnte; der Mächtige suchte sich vor allen Dingen Hände zu verschaffen. Solange jeder Familie eine volle Hilfe zugewiesen werden konnte, war von Not keine Rede; so war es in Deutschland bis etwa 1400. Dann begann der auf den Einzelnen fallende Teil kleiner zu werden, verschiedne Umstünde, besonders große Kriege, haben im sech¬ zehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die natürliche Vermehrung der Bevölkerung aufgehalten. Daß in der Gegenwart die Bevölkeruugsspaunung und die Zunahme ungehinderter Existenzen in allen Klaffen in Deutschland hochgradig und besorgniserregend ist, wird niemand leugnen können. Über die Überproduktion akademischer Bildung, das Anwachsen eines geistigen Proletariats hat sich Fürst Bismarck ost geäußert, als über einen bedenklichen Punkt unsrer nationale» Entwicklung. Wir erkennen die Thatsache ohne weiteres an; es ist ein Mißverhältnis zwischen der Menge der geistigen Kräfte und der Möglichkeit, daß sie sich alle auf nationalem Boden nützlich bethätigen könnten. Wir finden aber das Falsche nicht in dem Thätigkeits¬ orange des deutschen Volkes, sondern in der Enge des Feldes seiner Thätig¬ keit — mit einem Wort: Macedonien ist zu klein für die Kräfte des Volkes geworden, wir wollen und müssen uns ein größeres Reich suchen!^) Um noch ein Wort über die politische Unzufriedenheit zu sagen, so genügt es, darauf hinzuweisen, daß die deutsche Auswanderung in den Jahren um 1848 am größten gewesen ist; die Unzufriedenheit wirkt als Grund zur Aus¬ wanderung am stärksten, wenn eine kräftige, über allen Parteien stehende Staatsregierung fehlt, und die Regierung in Klassenherrschaft ausartet. Wir fasten nun unsre Wünsche für die Auswanderung und Kolonisation dahin zusammen, daß der auswandernde Teil des deutschen Volkes mit dem zurückgebliebnen in Sprache, Politik und Wirtschaft in Zusammenhang bleibt, daß sich beide Teile gegenseitig in jeder Beziehung fördern und unterstützen. So In England wird als ein Hauptgrund, weshalb man den politischen Zusammenhang »ut den Kolonien nicht aufgeben dürfe, ihre Bedeutung als Bersorgungscmstalten für den ge¬ bildeten aber armen Mittelstand angegeben. „Das Aufhören des Abflusses würde eine furcht¬ bare Armee von Unzufriednen anhäufen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/11>, abgerufen am 23.07.2024.