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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Kolonisation

Auswanderern gingen nach den Vereinigten Staaten 34210, nach Kanada 1490,
nach Brasilien 1283, nach andern Teilen von Amerika 1059, nach Afrika 760,
Asien 151, Australien 225. In den letzten fünfzehn Jahren weist das Jahr
1881 die größte Auswanderungszahl aus Deutschland mit 220902 auf.

Wenn wir nach diesen gewaltigen Zahlen erfahren, daß in allen deutschen
Kolonien zusammen wohl noch nicht 3000 Europäer wohnen, so wird man kaum
ein andres Urteil fällen können, als daß unsre bisherigen Kolonien für
die Auswanderungsfrage völlig wertlos sind.*) Es sind eben nur Pflanzungs-
kolonieu und Handelsniederlassungen, sie sind somit nur von Wert für
Handel und Handelsinteressentcn. Wollen wir Kolonien haben, nach denen
eine organisirte Auswanderung möglich ist, so müssen das in erster Linie
Ackerbaukolouien sein. Das zeigen ganz zweifellos auch die angeführten
Zahlen: von den 41000 Auswandrern des Jahres 1894 haben sich über
37000 nach Ackerbauländern gewendet. Auch für unsre Industrie haben unsre
Kolonien zunächst nur einen geringen Wert: es ist doch mehr als fraglich,
ob sich die Eingebornen zu kaufkräftigen Abnehmern unsrer Jndustrieerzeugnisse
entwickeln werden; ein zahlreicher, gedeihender Bauernstand würde dafür ganz
andre Bedeutung haben. Nationale überseeische Wirtschaftsgebiete sind in jeder
Beziehung die besten Kunden nationaler Produktion.

Man hat berechnet, daß unter der Voraussetzung einer Fortentwicklung,
wie sie im letzten halben Jahrhundert gewesen ist, im Jahre 1980 die Angel¬
sachsen auf etwa 927 Millionen, die Russen auf 275 Millionen, die Deutschen
auf 146 Millionen angewachsen sein werden. Können wir bei diesen Aus¬
sichten in einem Zustande verharren, wo uns alljährlich durch die unorganisirte
Auswanderung ein Heer von einem bis zwei Armeekorps kräftiger Männer mit
Familien und Vermögen nicht nur verloren geht, sondern in die Reihen unsrer
wirtschaftlichen Gegner übertritt? Wir glauben, daß diese Fragen nur aus¬
stellen sie auch beantworten heißt. Damit ist noch nicht einmal der ganze
Schaden genannt, den wir durch diese Art der Auswanderung erleiden. Indem
uns die willenskräftigsten Elemente in den besten Altersklassen, die mit Bar¬
mitteln ausgerüstet sind, verloren gehen, muß sich der zurückbleibende Rest
uoch mehr, als es schon durch andre Umstände bewirkt wird, in Reiche und
Proletarier scheiden. Gerade die Elemente, die den meisten Auftrieb und damit
die größte Bedeutung für ein gesundes nationales und soziales Leben haben,
werden am meisten geschwächt.

In den Jahren von 1851 bis 1883, also in einem Menschenalter, haben
wir durch die Auswanderung 3^ Millionen Menschen durch Auswanderung



") Damit wollen wir den Kolonialgegnern kein Zugeständnis machen. Es kann anders
werden, und jedenfalls hat Südwestafrika das Zeug dazu, eine wirkliche Auswanderungskolonie
zu werden, so gut wie es das Kapland geworden ist, dessen natürliche Verhältnisse sehr ähnlich
sind. Daß es langsam damit geht, ist richtig, aber vielleicht ist das nur nützlich.
Deutsche Kolonisation

Auswanderern gingen nach den Vereinigten Staaten 34210, nach Kanada 1490,
nach Brasilien 1283, nach andern Teilen von Amerika 1059, nach Afrika 760,
Asien 151, Australien 225. In den letzten fünfzehn Jahren weist das Jahr
1881 die größte Auswanderungszahl aus Deutschland mit 220902 auf.

Wenn wir nach diesen gewaltigen Zahlen erfahren, daß in allen deutschen
Kolonien zusammen wohl noch nicht 3000 Europäer wohnen, so wird man kaum
ein andres Urteil fällen können, als daß unsre bisherigen Kolonien für
die Auswanderungsfrage völlig wertlos sind.*) Es sind eben nur Pflanzungs-
kolonieu und Handelsniederlassungen, sie sind somit nur von Wert für
Handel und Handelsinteressentcn. Wollen wir Kolonien haben, nach denen
eine organisirte Auswanderung möglich ist, so müssen das in erster Linie
Ackerbaukolouien sein. Das zeigen ganz zweifellos auch die angeführten
Zahlen: von den 41000 Auswandrern des Jahres 1894 haben sich über
37000 nach Ackerbauländern gewendet. Auch für unsre Industrie haben unsre
Kolonien zunächst nur einen geringen Wert: es ist doch mehr als fraglich,
ob sich die Eingebornen zu kaufkräftigen Abnehmern unsrer Jndustrieerzeugnisse
entwickeln werden; ein zahlreicher, gedeihender Bauernstand würde dafür ganz
andre Bedeutung haben. Nationale überseeische Wirtschaftsgebiete sind in jeder
Beziehung die besten Kunden nationaler Produktion.

Man hat berechnet, daß unter der Voraussetzung einer Fortentwicklung,
wie sie im letzten halben Jahrhundert gewesen ist, im Jahre 1980 die Angel¬
sachsen auf etwa 927 Millionen, die Russen auf 275 Millionen, die Deutschen
auf 146 Millionen angewachsen sein werden. Können wir bei diesen Aus¬
sichten in einem Zustande verharren, wo uns alljährlich durch die unorganisirte
Auswanderung ein Heer von einem bis zwei Armeekorps kräftiger Männer mit
Familien und Vermögen nicht nur verloren geht, sondern in die Reihen unsrer
wirtschaftlichen Gegner übertritt? Wir glauben, daß diese Fragen nur aus¬
stellen sie auch beantworten heißt. Damit ist noch nicht einmal der ganze
Schaden genannt, den wir durch diese Art der Auswanderung erleiden. Indem
uns die willenskräftigsten Elemente in den besten Altersklassen, die mit Bar¬
mitteln ausgerüstet sind, verloren gehen, muß sich der zurückbleibende Rest
uoch mehr, als es schon durch andre Umstände bewirkt wird, in Reiche und
Proletarier scheiden. Gerade die Elemente, die den meisten Auftrieb und damit
die größte Bedeutung für ein gesundes nationales und soziales Leben haben,
werden am meisten geschwächt.

In den Jahren von 1851 bis 1883, also in einem Menschenalter, haben
wir durch die Auswanderung 3^ Millionen Menschen durch Auswanderung



") Damit wollen wir den Kolonialgegnern kein Zugeständnis machen. Es kann anders
werden, und jedenfalls hat Südwestafrika das Zeug dazu, eine wirkliche Auswanderungskolonie
zu werden, so gut wie es das Kapland geworden ist, dessen natürliche Verhältnisse sehr ähnlich
sind. Daß es langsam damit geht, ist richtig, aber vielleicht ist das nur nützlich.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/10>, abgerufen am 23.07.2024.