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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Midaskinder

die Sonne im Mittagsstande und ihr Bild mitten auf dem Spiegel des Teiches.
Ein mehrfach gewelltes Spruchband schwebte über dem Ganzen nud trug in lateinischer
Sprache die Aufschrift: "Über allen Fluten dein Licht, auf allen Fluten dein An¬
gesicht."

Deine Väter meinten, sagte die Großmutter, ohne den Blick von der Zeich¬
nung zu erheben, das mit dem Wasser beruhe auf einem traurigen Erlebnis, der
Urgroßvater hatte etwas in: Elternhause gehört, aber schon sein eigner Vater
und Vorväter wohnten so weit von dem Stammlande ihrer Freundschaft entfernt,
daß sie keine rechte Nachfrage thun konnten -- nun, Dorothee, die Leute deines
Namens haben alle ans der Tiefe geschöpft, darum liegt der Stein da unter, und
seine Wahrheit ruht in euern Herzen, auch in dein deinen, du liebes Großkind.

Dorothee trat von der Großmutter weg zu dem Ölbilde hin, das den Ur¬
großvater Hektor Narzissns darstellte, und sah sinnend in das alte, feste Gesicht.
Es war bartlos, wie es die Sitte der Zeit mit sich brachte, ein Zöpflein schwebte
dafür im Nacken, das Oval des energisch geformten Gesichtes war halb dem Zu¬
schauer zugewendet, kühne, dunkle Augen schauten heraus -- alles mehr einem Sol¬
daten als einem Landwirt ähnlich.

Nicht wahr, der Großvater glich dem Urgroßvater sehr? fragte Dorothee mit
dem Nachdruck, der die Frage schon selbst beantwortete, und dann feste sie halb
verlegen, aber doch mit fester Stimme hinzu: das waren beide gewiß rechte Midns-
söhne?

Die Greisin sagte mit Nachdruck: Ja, das war ein Guß. Aber dazumal
nannte man diesen Menschenschlag anders, ich wenigstens nannte deinen Großvater,
als er noch jung war, im stillen Titan, das kam ans den Büchern, die ich als
Mädchen um liebsten las.

Erzähle mir davon, wie du den Großvater kennen lerntest, bat Dorothee
dringlich.

Die alte Frau ließ das Blatt in den Schoß sinken und sah hinaus in den
Garten und über ihn hinweg in die Waldwipfel hinein und über diese hinaus in
vergangne Tage. Die Akazien blühten, ihr Duft wehte in das Zimmer, und von
ihren weißen Blüten fielen Wohl dann und wann auch einmal eine auf das Fenster¬
brett; Dorothea sah es wohl, aber die Greisin beachtete es nicht.

Gieb mir aus der Lade aus dem offnen Kästchen dort das schuldest, das zu¬
oberst liegt.

Dorothee brachte es; die Großmutter blätterte schweigend in dem Hefte, es
zeigte die Schriftzüge, wie sie unsre Großmütter im Anfange dieses Jahrhunderts
und noch zwei, drei Jahrzehnte länger einübten; es waren Aufsätze und Gedichte,
bunt gemengt, von der Hand dort eingetragen, die nun welk geworden war, aber
immer noch die feinen und beredten Formen hatte, die die junge Hand einst aus¬
gezeichnet hatten. In diesem Hefte lag ein einzelnes Blatt, die Großmutter nahm
es heraus, gab es Dorothee und sagte: Lies es mir vor. Dorothee las:

Den sie im Scherz Achill genannt,
Ich muß ihn Titan nennen.
Ich seh der Flammen hellen Brand,
Wo nur erst Funken brennen.
Doch hör ich schon das wilde Wehn,
Da sie dich seis, umlodern
Und freien Tod und Neuerstehn
Von dir gebictrisch fodern.

Grenzboten II 1897 l3
Midaskinder

die Sonne im Mittagsstande und ihr Bild mitten auf dem Spiegel des Teiches.
Ein mehrfach gewelltes Spruchband schwebte über dem Ganzen nud trug in lateinischer
Sprache die Aufschrift: „Über allen Fluten dein Licht, auf allen Fluten dein An¬
gesicht."

Deine Väter meinten, sagte die Großmutter, ohne den Blick von der Zeich¬
nung zu erheben, das mit dem Wasser beruhe auf einem traurigen Erlebnis, der
Urgroßvater hatte etwas in: Elternhause gehört, aber schon sein eigner Vater
und Vorväter wohnten so weit von dem Stammlande ihrer Freundschaft entfernt,
daß sie keine rechte Nachfrage thun konnten — nun, Dorothee, die Leute deines
Namens haben alle ans der Tiefe geschöpft, darum liegt der Stein da unter, und
seine Wahrheit ruht in euern Herzen, auch in dein deinen, du liebes Großkind.

Dorothee trat von der Großmutter weg zu dem Ölbilde hin, das den Ur¬
großvater Hektor Narzissns darstellte, und sah sinnend in das alte, feste Gesicht.
Es war bartlos, wie es die Sitte der Zeit mit sich brachte, ein Zöpflein schwebte
dafür im Nacken, das Oval des energisch geformten Gesichtes war halb dem Zu¬
schauer zugewendet, kühne, dunkle Augen schauten heraus — alles mehr einem Sol¬
daten als einem Landwirt ähnlich.

Nicht wahr, der Großvater glich dem Urgroßvater sehr? fragte Dorothee mit
dem Nachdruck, der die Frage schon selbst beantwortete, und dann feste sie halb
verlegen, aber doch mit fester Stimme hinzu: das waren beide gewiß rechte Midns-
söhne?

Die Greisin sagte mit Nachdruck: Ja, das war ein Guß. Aber dazumal
nannte man diesen Menschenschlag anders, ich wenigstens nannte deinen Großvater,
als er noch jung war, im stillen Titan, das kam ans den Büchern, die ich als
Mädchen um liebsten las.

Erzähle mir davon, wie du den Großvater kennen lerntest, bat Dorothee
dringlich.

Die alte Frau ließ das Blatt in den Schoß sinken und sah hinaus in den
Garten und über ihn hinweg in die Waldwipfel hinein und über diese hinaus in
vergangne Tage. Die Akazien blühten, ihr Duft wehte in das Zimmer, und von
ihren weißen Blüten fielen Wohl dann und wann auch einmal eine auf das Fenster¬
brett; Dorothea sah es wohl, aber die Greisin beachtete es nicht.

Gieb mir aus der Lade aus dem offnen Kästchen dort das schuldest, das zu¬
oberst liegt.

Dorothee brachte es; die Großmutter blätterte schweigend in dem Hefte, es
zeigte die Schriftzüge, wie sie unsre Großmütter im Anfange dieses Jahrhunderts
und noch zwei, drei Jahrzehnte länger einübten; es waren Aufsätze und Gedichte,
bunt gemengt, von der Hand dort eingetragen, die nun welk geworden war, aber
immer noch die feinen und beredten Formen hatte, die die junge Hand einst aus¬
gezeichnet hatten. In diesem Hefte lag ein einzelnes Blatt, die Großmutter nahm
es heraus, gab es Dorothee und sagte: Lies es mir vor. Dorothee las:

Den sie im Scherz Achill genannt,
Ich muß ihn Titan nennen.
Ich seh der Flammen hellen Brand,
Wo nur erst Funken brennen.
Doch hör ich schon das wilde Wehn,
Da sie dich seis, umlodern
Und freien Tod und Neuerstehn
Von dir gebictrisch fodern.

Grenzboten II 1897 l3
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/105>, abgerufen am 23.07.2024.