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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der juristische Zopf

vollkommen ausreichende Sicherheit in der Beurteilung der rechtlichen Ver¬
hältnisse dnrch thätige Teilnahme an dem praktischen Leben mit seinen mannich-
fachen Bedürfnissen ganz von selbst gewinnt.

Was die großen Gemeinden über die kleinen hinaushebt, das ist also die
Zahl der Fülle, wo es auf klare und sichre Beurteilung der Rechtsverhältnisse
ankommt. Aber dieser Umstand wird immer dadurch genügende Berücksichtigung
finden können, daß eine große Gemeinde einen oder mehrere Fachmänner anstellt,
denen sie die besondre Bearbeitung solcher Fragen überträgt, geradeso wie große
Gemeinden ihre besonder" Schulräte und Banräte haben, während doch Schul-
sachen und Bausachen fortwährend auch in den kleinsten Gemeinden eine Rolle
spielen, ohne daß dafür besondre Techniker in der Stadtverwaltung angestellt
wären. Gerade für eine sachgemäße Beurteilung der Schul- und Bauverhält-
uisse aber ist meist ein viel größeres Maß von besondrer Sachkenntnis erforder¬
lich, als für die richtige Beurteilung der Rechtsverhältnisse, bei denen der
gesunde Menschenverstand stets die Hauptrolle spielt oder wenigstens -- spielen
sollte. Daß die juristische Auffassung der Dinge nicht immer den Forderungen
des gesunden Menschenverstands entspricht, ist aber auch eine Folge der
herrschenden Überschätzung der -- vielfach rein formalistischen -- juristischen
Bildung.

Also die Berücksichtigung der wirklichen Rechtsfragen, die ohne besondre
juristische Fachkenntnisse nicht genügend erledigt werden können, erfordert nicht,
daß die oberste Leitung der Stadtverwaltung einem Juristen übertragen wird.
Größere Verwaltungen werden überhaupt eine dem Bedürfnis entsprechende
Anzahl von rechtskundigen Natsmitgliedern anstellen, kleinere die Erledigung
von Rechtssachen in jedem einzelnen Falle einem rechtskundigen Vertreter
übertragen, wie es ja auch jetzt schon selbst da geschieht, wo das Stadt¬
oberhaupt ein ehemaliger Assessor ist -- denn die besondre Rechtskenntnis
verblaßt immer auch an solchen Stellen unter dem natürlichen Einfluß der
Beschäftigung mit den praktischen Aufgaben des Stadtregiments. Im übrigen
wird gegen jede Versäumnis in dieser Richtung auch dadurch immer ein Schutz
geboten werden, daß in jeder Stadt, die ein Amtsgericht hat, also schon in
verhältnismäßig recht kleinen Städten, einer oder mehrere der dort ansässigen
Rechtsanwälte deu Stadtverordnetenversammlungen anzugehören Pflegen.

Der wichtigste Unterschied aber zwischen den größern und den kleinern
Gemeinden liegt in der Größe der Aufgaben, die im Interesse der öffentlichen
Wohlfahrt zu lösen sind. Da handelt es sich um hygienische Veranstaltungen
aller Art, um Krankenhausbanten, Schlachthausbauten, Kanalisation, Wasser¬
leitung u. tgi., um Schulfragen der mannichfachsten Art, um zahlreiche Bau¬
projekte im Hochbau wie im Tiefbau, um Erfüllung der jetzt so in den Border¬
grund tretende" Forderungen auf sozialem Gebiete -- lauter Dinge, zu deren
sachgemäßer Förderung neben der allgemeinen Klarheit des Urteils noch einige


Der juristische Zopf

vollkommen ausreichende Sicherheit in der Beurteilung der rechtlichen Ver¬
hältnisse dnrch thätige Teilnahme an dem praktischen Leben mit seinen mannich-
fachen Bedürfnissen ganz von selbst gewinnt.

Was die großen Gemeinden über die kleinen hinaushebt, das ist also die
Zahl der Fülle, wo es auf klare und sichre Beurteilung der Rechtsverhältnisse
ankommt. Aber dieser Umstand wird immer dadurch genügende Berücksichtigung
finden können, daß eine große Gemeinde einen oder mehrere Fachmänner anstellt,
denen sie die besondre Bearbeitung solcher Fragen überträgt, geradeso wie große
Gemeinden ihre besonder» Schulräte und Banräte haben, während doch Schul-
sachen und Bausachen fortwährend auch in den kleinsten Gemeinden eine Rolle
spielen, ohne daß dafür besondre Techniker in der Stadtverwaltung angestellt
wären. Gerade für eine sachgemäße Beurteilung der Schul- und Bauverhält-
uisse aber ist meist ein viel größeres Maß von besondrer Sachkenntnis erforder¬
lich, als für die richtige Beurteilung der Rechtsverhältnisse, bei denen der
gesunde Menschenverstand stets die Hauptrolle spielt oder wenigstens — spielen
sollte. Daß die juristische Auffassung der Dinge nicht immer den Forderungen
des gesunden Menschenverstands entspricht, ist aber auch eine Folge der
herrschenden Überschätzung der — vielfach rein formalistischen — juristischen
Bildung.

Also die Berücksichtigung der wirklichen Rechtsfragen, die ohne besondre
juristische Fachkenntnisse nicht genügend erledigt werden können, erfordert nicht,
daß die oberste Leitung der Stadtverwaltung einem Juristen übertragen wird.
Größere Verwaltungen werden überhaupt eine dem Bedürfnis entsprechende
Anzahl von rechtskundigen Natsmitgliedern anstellen, kleinere die Erledigung
von Rechtssachen in jedem einzelnen Falle einem rechtskundigen Vertreter
übertragen, wie es ja auch jetzt schon selbst da geschieht, wo das Stadt¬
oberhaupt ein ehemaliger Assessor ist — denn die besondre Rechtskenntnis
verblaßt immer auch an solchen Stellen unter dem natürlichen Einfluß der
Beschäftigung mit den praktischen Aufgaben des Stadtregiments. Im übrigen
wird gegen jede Versäumnis in dieser Richtung auch dadurch immer ein Schutz
geboten werden, daß in jeder Stadt, die ein Amtsgericht hat, also schon in
verhältnismäßig recht kleinen Städten, einer oder mehrere der dort ansässigen
Rechtsanwälte deu Stadtverordnetenversammlungen anzugehören Pflegen.

Der wichtigste Unterschied aber zwischen den größern und den kleinern
Gemeinden liegt in der Größe der Aufgaben, die im Interesse der öffentlichen
Wohlfahrt zu lösen sind. Da handelt es sich um hygienische Veranstaltungen
aller Art, um Krankenhausbanten, Schlachthausbauten, Kanalisation, Wasser¬
leitung u. tgi., um Schulfragen der mannichfachsten Art, um zahlreiche Bau¬
projekte im Hochbau wie im Tiefbau, um Erfüllung der jetzt so in den Border¬
grund tretende» Forderungen auf sozialem Gebiete — lauter Dinge, zu deren
sachgemäßer Förderung neben der allgemeinen Klarheit des Urteils noch einige


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[0076] Der juristische Zopf vollkommen ausreichende Sicherheit in der Beurteilung der rechtlichen Ver¬ hältnisse dnrch thätige Teilnahme an dem praktischen Leben mit seinen mannich- fachen Bedürfnissen ganz von selbst gewinnt. Was die großen Gemeinden über die kleinen hinaushebt, das ist also die Zahl der Fülle, wo es auf klare und sichre Beurteilung der Rechtsverhältnisse ankommt. Aber dieser Umstand wird immer dadurch genügende Berücksichtigung finden können, daß eine große Gemeinde einen oder mehrere Fachmänner anstellt, denen sie die besondre Bearbeitung solcher Fragen überträgt, geradeso wie große Gemeinden ihre besonder» Schulräte und Banräte haben, während doch Schul- sachen und Bausachen fortwährend auch in den kleinsten Gemeinden eine Rolle spielen, ohne daß dafür besondre Techniker in der Stadtverwaltung angestellt wären. Gerade für eine sachgemäße Beurteilung der Schul- und Bauverhält- uisse aber ist meist ein viel größeres Maß von besondrer Sachkenntnis erforder¬ lich, als für die richtige Beurteilung der Rechtsverhältnisse, bei denen der gesunde Menschenverstand stets die Hauptrolle spielt oder wenigstens — spielen sollte. Daß die juristische Auffassung der Dinge nicht immer den Forderungen des gesunden Menschenverstands entspricht, ist aber auch eine Folge der herrschenden Überschätzung der — vielfach rein formalistischen — juristischen Bildung. Also die Berücksichtigung der wirklichen Rechtsfragen, die ohne besondre juristische Fachkenntnisse nicht genügend erledigt werden können, erfordert nicht, daß die oberste Leitung der Stadtverwaltung einem Juristen übertragen wird. Größere Verwaltungen werden überhaupt eine dem Bedürfnis entsprechende Anzahl von rechtskundigen Natsmitgliedern anstellen, kleinere die Erledigung von Rechtssachen in jedem einzelnen Falle einem rechtskundigen Vertreter übertragen, wie es ja auch jetzt schon selbst da geschieht, wo das Stadt¬ oberhaupt ein ehemaliger Assessor ist — denn die besondre Rechtskenntnis verblaßt immer auch an solchen Stellen unter dem natürlichen Einfluß der Beschäftigung mit den praktischen Aufgaben des Stadtregiments. Im übrigen wird gegen jede Versäumnis in dieser Richtung auch dadurch immer ein Schutz geboten werden, daß in jeder Stadt, die ein Amtsgericht hat, also schon in verhältnismäßig recht kleinen Städten, einer oder mehrere der dort ansässigen Rechtsanwälte deu Stadtverordnetenversammlungen anzugehören Pflegen. Der wichtigste Unterschied aber zwischen den größern und den kleinern Gemeinden liegt in der Größe der Aufgaben, die im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt zu lösen sind. Da handelt es sich um hygienische Veranstaltungen aller Art, um Krankenhausbanten, Schlachthausbauten, Kanalisation, Wasser¬ leitung u. tgi., um Schulfragen der mannichfachsten Art, um zahlreiche Bau¬ projekte im Hochbau wie im Tiefbau, um Erfüllung der jetzt so in den Border¬ grund tretende» Forderungen auf sozialem Gebiete — lauter Dinge, zu deren sachgemäßer Förderung neben der allgemeinen Klarheit des Urteils noch einige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/76>, abgerufen am 20.10.2024.