Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches in Ur. 71 des "Vorwärts" vertritt, nichts mehr nutzen. Er mag Recht haben, wenn Die freiwilligen Zwangsinnungen. Der Gesetzentwurf über die Orga¬ Der preußische Entwurf schrieb bekanntlich die Errichtung von Zwangsinnnngen Maßgebliches und Unmaßgebliches in Ur. 71 des „Vorwärts" vertritt, nichts mehr nutzen. Er mag Recht haben, wenn Die freiwilligen Zwangsinnungen. Der Gesetzentwurf über die Orga¬ Der preußische Entwurf schrieb bekanntlich die Errichtung von Zwangsinnnngen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0664" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224910"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2172" prev="#ID_2171"> in Ur. 71 des „Vorwärts" vertritt, nichts mehr nutzen. Er mag Recht haben, wenn<lb/> er meint, daß es sich in der Türkei weit angenehmer lebe als in Rußland, aber<lb/> Rußland ist es eben, das in diesem Augenblick die Türkei schützt. Um diesen<lb/> Schwierigkeiten zu entgehen, schließt sich Hyndman der Politik der Engländer an,<lb/> „die das Fiasko der curopäisirteu Regierung Indiens kennen, die Besetzung Ägyptens<lb/> durch unsre Truppen mißbilligen, alle tropischen Kolonien für unverträglich mit<lb/> einem demokratischen Regierungssystem halten und fordern, England solle sich, gleich<lb/> den Vereinigten Staaten von Nordamerika, von allen europäischen Verwicklungen<lb/> zurückziehen und seine ganze Kraft darauf konzentriren, daß unsre übrigen, von<lb/> unsrer eignen Rasse bevölkerten Kolonien konsolidirt und zu einem großen Ganzen<lb/> zusammengefügt werden." Kein übler Gedanke, aber es wird noch ein Weilchen<lb/> dauern, ehe Hyndman die Lords überreden wird, Indien aufzugeben. — Der zu¬<lb/> künftige Kurs des seekrank einherschwankenden europäischen Konzerts dürfte nicht<lb/> wenig durch die Erfolge oder Mißerfolge des neuesten russischen Anleihevcrsnchs<lb/> bestimmt werden; Frankreich ist mit russischen Werten übersättigt, und wenn es<lb/> wahr sein sollte, daß London vier und Berlin elf Millionen Pfund von der neuen<lb/> Anleihe übernehmen will, so würde die Freundschaft des offiziellen Englands für<lb/> den teuern Freund an der Newa um vier und die des offiziellen Deutschlands um<lb/> elf Grad wärmer werden.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Die freiwilligen Zwangsinnungen. </head> <p xml:id="ID_2173"> Der Gesetzentwurf über die Orga¬<lb/> nisation des Handwerks, den Preußen im Herbst vorigen Jahres dem Bundesrat<lb/> vorgelegt hat, ist unes einigen wesentlichen Abänderungen an den Reichstag gelangt<lb/> und wird dort voraussichtlich ziemlich ausgiebige Ausschußberatnngen mit noch¬<lb/> maligen Abänderungen durchzumachen haben. Unsre Handwerkspolitik hat in be¬<lb/> sondern! Maße unter der Unfruchtbarkeit der parlamentarischen Arbeiten, wie sie<lb/> durch die ungesunden Parteiverhältnisse hervorgerufen wird, zu leiden. Gerade<lb/> auf diesem Gebiete wäre deshalb eine feste, klare, führende Stellung der Regierung<lb/> nötig. Aber der neue Gesetzentwurf ist das Gegenteil davon, er zwingt uns zu<lb/> glauben, daß in den beteiligten Regierungskrisen das Bewußtsein der Pflicht des<lb/> Besserwissens fast ganz verloren gegangen ist. Es ist nicht unsre Absicht, an<lb/> dieser Stelle die in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung gerade von<lb/> den sogenannten Gebildeten vielfach unterschätzten Hnndwerkerfrage und die Ver¬<lb/> suche zu ihrer Losung eingehender zu besprechen; es wird sich dazu wohl später<lb/> Gelegenheit bieten. Nur über deu wesentlichsten Unterschied des Bundesrats¬<lb/> entwurfs vom preußischen möchten wir schon jetzt einiges sagen, über die frei¬<lb/> willigen Zwangsinnnngen, diese ganz besondre Leistung unsrer bürokratischen Gesetz-<lb/> macherei.</p><lb/> <p xml:id="ID_2174" next="#ID_2175"> Der preußische Entwurf schrieb bekanntlich die Errichtung von Zwangsinnnngen<lb/> allgemein vor. Sie sollten für Bezirke errichtet werden, die in der Regel so ab¬<lb/> zugrenzen wären, daß kein Mitglied durch die Entfernung seines Wohnorts vom<lb/> Sitz der Innung behindert würde, um Genvssenschaftsleben teilzunehmen und die<lb/> Jnnuugseiurichtuugeu zu benutzen. Ebenso sollten in der Regel die Innungen<lb/> uur je ein einziges Gewerbe, nur ausnahmsweise mehrere verwandte umfassen.<lb/> Für Gewerbtreibende, die nnter diesen Voraussetzungen keiner Innung zugewiesen<lb/> werden könnte», sollte die Errichtung einer Innung unterbleiben, und endlich sollte<lb/> der Zwang für alle wegfallen, die das Gewerbe fabrikmäßig betreiben. Nach<lb/> dem Entwurf des Bundesrath sollen unter denselben Voraussetzungen „Zwangs-<lb/> mnungen" nur dann errichtet werden, „wenn die Mehrheit der beteiligten Gelverb-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0664]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
in Ur. 71 des „Vorwärts" vertritt, nichts mehr nutzen. Er mag Recht haben, wenn
er meint, daß es sich in der Türkei weit angenehmer lebe als in Rußland, aber
Rußland ist es eben, das in diesem Augenblick die Türkei schützt. Um diesen
Schwierigkeiten zu entgehen, schließt sich Hyndman der Politik der Engländer an,
„die das Fiasko der curopäisirteu Regierung Indiens kennen, die Besetzung Ägyptens
durch unsre Truppen mißbilligen, alle tropischen Kolonien für unverträglich mit
einem demokratischen Regierungssystem halten und fordern, England solle sich, gleich
den Vereinigten Staaten von Nordamerika, von allen europäischen Verwicklungen
zurückziehen und seine ganze Kraft darauf konzentriren, daß unsre übrigen, von
unsrer eignen Rasse bevölkerten Kolonien konsolidirt und zu einem großen Ganzen
zusammengefügt werden." Kein übler Gedanke, aber es wird noch ein Weilchen
dauern, ehe Hyndman die Lords überreden wird, Indien aufzugeben. — Der zu¬
künftige Kurs des seekrank einherschwankenden europäischen Konzerts dürfte nicht
wenig durch die Erfolge oder Mißerfolge des neuesten russischen Anleihevcrsnchs
bestimmt werden; Frankreich ist mit russischen Werten übersättigt, und wenn es
wahr sein sollte, daß London vier und Berlin elf Millionen Pfund von der neuen
Anleihe übernehmen will, so würde die Freundschaft des offiziellen Englands für
den teuern Freund an der Newa um vier und die des offiziellen Deutschlands um
elf Grad wärmer werden.
Die freiwilligen Zwangsinnungen. Der Gesetzentwurf über die Orga¬
nisation des Handwerks, den Preußen im Herbst vorigen Jahres dem Bundesrat
vorgelegt hat, ist unes einigen wesentlichen Abänderungen an den Reichstag gelangt
und wird dort voraussichtlich ziemlich ausgiebige Ausschußberatnngen mit noch¬
maligen Abänderungen durchzumachen haben. Unsre Handwerkspolitik hat in be¬
sondern! Maße unter der Unfruchtbarkeit der parlamentarischen Arbeiten, wie sie
durch die ungesunden Parteiverhältnisse hervorgerufen wird, zu leiden. Gerade
auf diesem Gebiete wäre deshalb eine feste, klare, führende Stellung der Regierung
nötig. Aber der neue Gesetzentwurf ist das Gegenteil davon, er zwingt uns zu
glauben, daß in den beteiligten Regierungskrisen das Bewußtsein der Pflicht des
Besserwissens fast ganz verloren gegangen ist. Es ist nicht unsre Absicht, an
dieser Stelle die in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung gerade von
den sogenannten Gebildeten vielfach unterschätzten Hnndwerkerfrage und die Ver¬
suche zu ihrer Losung eingehender zu besprechen; es wird sich dazu wohl später
Gelegenheit bieten. Nur über deu wesentlichsten Unterschied des Bundesrats¬
entwurfs vom preußischen möchten wir schon jetzt einiges sagen, über die frei¬
willigen Zwangsinnnngen, diese ganz besondre Leistung unsrer bürokratischen Gesetz-
macherei.
Der preußische Entwurf schrieb bekanntlich die Errichtung von Zwangsinnnngen
allgemein vor. Sie sollten für Bezirke errichtet werden, die in der Regel so ab¬
zugrenzen wären, daß kein Mitglied durch die Entfernung seines Wohnorts vom
Sitz der Innung behindert würde, um Genvssenschaftsleben teilzunehmen und die
Jnnuugseiurichtuugeu zu benutzen. Ebenso sollten in der Regel die Innungen
uur je ein einziges Gewerbe, nur ausnahmsweise mehrere verwandte umfassen.
Für Gewerbtreibende, die nnter diesen Voraussetzungen keiner Innung zugewiesen
werden könnte», sollte die Errichtung einer Innung unterbleiben, und endlich sollte
der Zwang für alle wegfallen, die das Gewerbe fabrikmäßig betreiben. Nach
dem Entwurf des Bundesrath sollen unter denselben Voraussetzungen „Zwangs-
mnungen" nur dann errichtet werden, „wenn die Mehrheit der beteiligten Gelverb-
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