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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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(Lene Geschichte von Florenz

befähigt, zu gewissen andern unfähig macht. Vom Milieu hängt es dann ab,
ob dem Menschen zu den Leistungen, für die er befähigt ist, die Gelegenheit
geboten wird oder nicht, welche seiner Anlagen entwickelt werden, welche un¬
entwickelt bleiben oder verkrüppeln müssen. In der ungeheuern Mehrzahl der
Fälle wird man damit auskommen, wenn man den Menschen als ein Ergebnis
von Mischungen betrachtet; nur das Genie macht es zweifelhaft, ob nicht noch
ein geheimnisvolles Etwas, ein gänzlich Unbekanntes, ein göttlicher Funke
zur Mischung hinzukommen müsse. Bloßes Wissen ist als reine Quantitäten¬
anhäufung leicht zu erklären, wenn man unter dieser nur versteht, daß ein
Etwas zu einem ihm gleichartigen und an ihm meßbaren Etwas gethan wird,
denn im übrigen allerdings verhalten sich geistige Quantitäten ganz anders
als körperliche. Die seligen Knaben im Faust wachsen dadurch, daß sie vom
Pater Seraphicus verschlungen werden und nun durch seine Augen, wie durch
Fenster, die Welt betrachten. Ju der That wachsen die Schüler dadurch, daß
sie der Lehrer mit seinen Angen sehen lehrt. Aber noch weit wichtiger ist der
entgegengesetzte Vorgang, daß nicht die Schüler in das Innere des Lehrers
eindringen, sondern daß er in ihr Inneres ausgenommen wird, daß nicht er
sie verschlingt, sondern sie ihn verschlingen, und hier tritt eben der große
Gegensatz der Geisterwelt zur Körperwelt, trotz des unlösbaren Zusammen¬
hangs beider und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit von einander, hervor, indem
der Verschlungne nicht allein außerhalb des Verschlingenden und unversehrt
bleibt, sondern durch dieses Berzehrtwerden selbst größer und stärker wird. In
dem Kirchenhhmnus I^ruäii Lion Lalvatoröm, der dem Thomas von Aquin
zugeschrieben wird, erscheint der im Sakrament genossene Christus als der
Typus und zugleich als der Höhepunkt dieses geistigen Ernahrungs- und Ver-
danungsprozesses:


suwii lienis, sumllnt mitis,
"zMlitum isti, trmtllw illo,
meo guilltus vonsumitur.

Ein großer Gelehrter ist ein Mann, der viele andre Männer gegessen hat, und
er könnte nicht das sein, was er ist, wenn es nicht viele außer ihm gäbe, die
einen des Verzehrtwerdens werten geistigen Inhalt hätten. Selbstverständlich
wird dieser gelehrte Mann dann wieder von vielen andern als geistige Nah¬
rung genossen. Um ein andres Bild zu gebrauchen: der größere Maun ist
Blüte und Frucht am Gewächse seines Volkes, dessen übrige Mitglieder
Wurzeln, Blätter und Zellen des Schaftes oder Stammes sind; er könnte
ohne den Stamm mit seinen Wurzeln, Zweigen und Blättern nicht da sein,
und diese wiederum wären nicht da, wenn nicht der Same einer ältern
Frucht aufgegangen wäre, wenn also nicht vor ihnen Männer mit einem be¬
deutenden geistigen Inhalt gelebt und gelehrt hätten. Da sich jedoch Blüte
und Frucht weniger quantitativ als qualitativ von den übrigen Pflanzenteilen


(Lene Geschichte von Florenz

befähigt, zu gewissen andern unfähig macht. Vom Milieu hängt es dann ab,
ob dem Menschen zu den Leistungen, für die er befähigt ist, die Gelegenheit
geboten wird oder nicht, welche seiner Anlagen entwickelt werden, welche un¬
entwickelt bleiben oder verkrüppeln müssen. In der ungeheuern Mehrzahl der
Fälle wird man damit auskommen, wenn man den Menschen als ein Ergebnis
von Mischungen betrachtet; nur das Genie macht es zweifelhaft, ob nicht noch
ein geheimnisvolles Etwas, ein gänzlich Unbekanntes, ein göttlicher Funke
zur Mischung hinzukommen müsse. Bloßes Wissen ist als reine Quantitäten¬
anhäufung leicht zu erklären, wenn man unter dieser nur versteht, daß ein
Etwas zu einem ihm gleichartigen und an ihm meßbaren Etwas gethan wird,
denn im übrigen allerdings verhalten sich geistige Quantitäten ganz anders
als körperliche. Die seligen Knaben im Faust wachsen dadurch, daß sie vom
Pater Seraphicus verschlungen werden und nun durch seine Augen, wie durch
Fenster, die Welt betrachten. Ju der That wachsen die Schüler dadurch, daß
sie der Lehrer mit seinen Angen sehen lehrt. Aber noch weit wichtiger ist der
entgegengesetzte Vorgang, daß nicht die Schüler in das Innere des Lehrers
eindringen, sondern daß er in ihr Inneres ausgenommen wird, daß nicht er
sie verschlingt, sondern sie ihn verschlingen, und hier tritt eben der große
Gegensatz der Geisterwelt zur Körperwelt, trotz des unlösbaren Zusammen¬
hangs beider und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit von einander, hervor, indem
der Verschlungne nicht allein außerhalb des Verschlingenden und unversehrt
bleibt, sondern durch dieses Berzehrtwerden selbst größer und stärker wird. In
dem Kirchenhhmnus I^ruäii Lion Lalvatoröm, der dem Thomas von Aquin
zugeschrieben wird, erscheint der im Sakrament genossene Christus als der
Typus und zugleich als der Höhepunkt dieses geistigen Ernahrungs- und Ver-
danungsprozesses:


suwii lienis, sumllnt mitis,
«zMlitum isti, trmtllw illo,
meo guilltus vonsumitur.

Ein großer Gelehrter ist ein Mann, der viele andre Männer gegessen hat, und
er könnte nicht das sein, was er ist, wenn es nicht viele außer ihm gäbe, die
einen des Verzehrtwerdens werten geistigen Inhalt hätten. Selbstverständlich
wird dieser gelehrte Mann dann wieder von vielen andern als geistige Nah¬
rung genossen. Um ein andres Bild zu gebrauchen: der größere Maun ist
Blüte und Frucht am Gewächse seines Volkes, dessen übrige Mitglieder
Wurzeln, Blätter und Zellen des Schaftes oder Stammes sind; er könnte
ohne den Stamm mit seinen Wurzeln, Zweigen und Blättern nicht da sein,
und diese wiederum wären nicht da, wenn nicht der Same einer ältern
Frucht aufgegangen wäre, wenn also nicht vor ihnen Männer mit einem be¬
deutenden geistigen Inhalt gelebt und gelehrt hätten. Da sich jedoch Blüte
und Frucht weniger quantitativ als qualitativ von den übrigen Pflanzenteilen


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[0586] (Lene Geschichte von Florenz befähigt, zu gewissen andern unfähig macht. Vom Milieu hängt es dann ab, ob dem Menschen zu den Leistungen, für die er befähigt ist, die Gelegenheit geboten wird oder nicht, welche seiner Anlagen entwickelt werden, welche un¬ entwickelt bleiben oder verkrüppeln müssen. In der ungeheuern Mehrzahl der Fälle wird man damit auskommen, wenn man den Menschen als ein Ergebnis von Mischungen betrachtet; nur das Genie macht es zweifelhaft, ob nicht noch ein geheimnisvolles Etwas, ein gänzlich Unbekanntes, ein göttlicher Funke zur Mischung hinzukommen müsse. Bloßes Wissen ist als reine Quantitäten¬ anhäufung leicht zu erklären, wenn man unter dieser nur versteht, daß ein Etwas zu einem ihm gleichartigen und an ihm meßbaren Etwas gethan wird, denn im übrigen allerdings verhalten sich geistige Quantitäten ganz anders als körperliche. Die seligen Knaben im Faust wachsen dadurch, daß sie vom Pater Seraphicus verschlungen werden und nun durch seine Augen, wie durch Fenster, die Welt betrachten. Ju der That wachsen die Schüler dadurch, daß sie der Lehrer mit seinen Angen sehen lehrt. Aber noch weit wichtiger ist der entgegengesetzte Vorgang, daß nicht die Schüler in das Innere des Lehrers eindringen, sondern daß er in ihr Inneres ausgenommen wird, daß nicht er sie verschlingt, sondern sie ihn verschlingen, und hier tritt eben der große Gegensatz der Geisterwelt zur Körperwelt, trotz des unlösbaren Zusammen¬ hangs beider und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit von einander, hervor, indem der Verschlungne nicht allein außerhalb des Verschlingenden und unversehrt bleibt, sondern durch dieses Berzehrtwerden selbst größer und stärker wird. In dem Kirchenhhmnus I^ruäii Lion Lalvatoröm, der dem Thomas von Aquin zugeschrieben wird, erscheint der im Sakrament genossene Christus als der Typus und zugleich als der Höhepunkt dieses geistigen Ernahrungs- und Ver- danungsprozesses: suwii lienis, sumllnt mitis, «zMlitum isti, trmtllw illo, meo guilltus vonsumitur. Ein großer Gelehrter ist ein Mann, der viele andre Männer gegessen hat, und er könnte nicht das sein, was er ist, wenn es nicht viele außer ihm gäbe, die einen des Verzehrtwerdens werten geistigen Inhalt hätten. Selbstverständlich wird dieser gelehrte Mann dann wieder von vielen andern als geistige Nah¬ rung genossen. Um ein andres Bild zu gebrauchen: der größere Maun ist Blüte und Frucht am Gewächse seines Volkes, dessen übrige Mitglieder Wurzeln, Blätter und Zellen des Schaftes oder Stammes sind; er könnte ohne den Stamm mit seinen Wurzeln, Zweigen und Blättern nicht da sein, und diese wiederum wären nicht da, wenn nicht der Same einer ältern Frucht aufgegangen wäre, wenn also nicht vor ihnen Männer mit einem be¬ deutenden geistigen Inhalt gelebt und gelehrt hätten. Da sich jedoch Blüte und Frucht weniger quantitativ als qualitativ von den übrigen Pflanzenteilen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/586>, abgerufen am 29.06.2024.