Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zu der Frage des Wahlrechts

Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Vorwurf erhoben
werden könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlenkombinatiou.

Wir sollten das Beispiel nachahmen und können es auch. Wenn unsre
Gutsherren für ihre Leute sozial wieder mehr thun und ihrer Pflicht als der
natürlichen Sach- und Wortführer der Bauerschaft wieder eingedenk werden,
so werden sie auch wieder ihre Wahlmänner sein oder dauernd bleiben und
das Eindringen andrer verhindern. Ebenso gut kann in der Stadt vorschauende
Wahlarbeit geleistet werden, denn auch da haben wir Mitmenschen um uns,
die nnr darauf warten, daß wir ihren Nöten, geistigen und leiblichen, Herz
und Sinn öffnen, um es uns durch Vertrauen und Nachfolge zu vergelte",
bei den Wahlen wie bei allem, wozu sonst die Menschen zusammenzuwirken
haben. Jeder von uns hat eine solche Umgebung, er braucht nur die Auge"
aufzumachen, um sie zu sehen. Wir wollen es thun und uns der Leute an¬
nehmen, nicht mit Almosen und von oben herab, sondern werkthätig und mit
sozialer Hilfe. Wir werden dann wieder lernen, mit Menschen anders als
fürs Geschäft und für die "Gemütlichkeit" umzugehen, wir werden ihre Be¬
dürfnisse und Leiden, die sozialen wie die persönlichen, an der Quelle erforsche"
und uns von dem Bann "unsrer" Zeitung und andrer Geistessnrrogate frei¬
machen. Wenn wir einer so fruchtbaren Thätigkeit nur einen Teil der Zeit
widmen, die wir an die Vereinsmeierei und an sonstigen politischen Tand ver¬
schwenden, so werden zwar die zahllosen Gerichtssitzungen, die jeden Tag auf
der Vierbank über die höchsten Potentaten, über ministerielle und fürstliche
abgehalten werden, allmählich aufhören, aber durch etwas besseres ersetzt sei".
Dieses bessere ist wirkliche Selbstverwaltung, nicht deren klingende Schelle,
wie sie jetzt überall ertönt. Kommt dann eine politische Aufgabe, an der alle
teilzunehmen haben, fo wird sie uns bereit finden; für die Neichstagswahlen
zum Beispiel werden wir immer gerüstet und geordnet sein und von der großen
Menge der Wühler den freien Gehorsam ernten, den wir uns verdient haben,
und den wir selbst der Sache leisten. Es wird sich dann erweisen, daß anch
wir die natürlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die aller rechtlichen Freiheit und
Gleichheit trotzen, politisch lenken können, es wird sich ferner aus den vielen
thätigen Wahlmännern der engere Kreis derer, die zu wählen sind, sichtbarer
und mehr nach der Würdigkeit als jetzt herausheben, und mit der Wahlfurcht
vor den "schwarzen Scharen" und vor den "Arbeiterbataillonen" wird die
Neigung verschwinden, im Reichstagswahlrecht ein Kompromiß umzustoßen,
das ebenso mühsam zu erreichen gewesen ist, als das Ergebnis im Volk feste
Wurzel gefaßt hat. Für unsre politischen Ziele, für die Sozialreform nament¬
lich, dürfen wir ja nicht von der Vergangenheit zehren, aber für die politischen
Mittel und Wege sollten wir das uns zugefallene Erbe hochhalten, aus Pietät
und weil es unsre Kraft vermehrt. Ein besonders wertvolles Stück der Erb¬
schaft ist die Bismarckische Tradition; wenn wir das Reichstagswahlrecht fest-


Zu der Frage des Wahlrechts

Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Vorwurf erhoben
werden könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlenkombinatiou.

Wir sollten das Beispiel nachahmen und können es auch. Wenn unsre
Gutsherren für ihre Leute sozial wieder mehr thun und ihrer Pflicht als der
natürlichen Sach- und Wortführer der Bauerschaft wieder eingedenk werden,
so werden sie auch wieder ihre Wahlmänner sein oder dauernd bleiben und
das Eindringen andrer verhindern. Ebenso gut kann in der Stadt vorschauende
Wahlarbeit geleistet werden, denn auch da haben wir Mitmenschen um uns,
die nnr darauf warten, daß wir ihren Nöten, geistigen und leiblichen, Herz
und Sinn öffnen, um es uns durch Vertrauen und Nachfolge zu vergelte«,
bei den Wahlen wie bei allem, wozu sonst die Menschen zusammenzuwirken
haben. Jeder von uns hat eine solche Umgebung, er braucht nur die Auge«
aufzumachen, um sie zu sehen. Wir wollen es thun und uns der Leute an¬
nehmen, nicht mit Almosen und von oben herab, sondern werkthätig und mit
sozialer Hilfe. Wir werden dann wieder lernen, mit Menschen anders als
fürs Geschäft und für die „Gemütlichkeit" umzugehen, wir werden ihre Be¬
dürfnisse und Leiden, die sozialen wie die persönlichen, an der Quelle erforsche»
und uns von dem Bann „unsrer" Zeitung und andrer Geistessnrrogate frei¬
machen. Wenn wir einer so fruchtbaren Thätigkeit nur einen Teil der Zeit
widmen, die wir an die Vereinsmeierei und an sonstigen politischen Tand ver¬
schwenden, so werden zwar die zahllosen Gerichtssitzungen, die jeden Tag auf
der Vierbank über die höchsten Potentaten, über ministerielle und fürstliche
abgehalten werden, allmählich aufhören, aber durch etwas besseres ersetzt sei».
Dieses bessere ist wirkliche Selbstverwaltung, nicht deren klingende Schelle,
wie sie jetzt überall ertönt. Kommt dann eine politische Aufgabe, an der alle
teilzunehmen haben, fo wird sie uns bereit finden; für die Neichstagswahlen
zum Beispiel werden wir immer gerüstet und geordnet sein und von der großen
Menge der Wühler den freien Gehorsam ernten, den wir uns verdient haben,
und den wir selbst der Sache leisten. Es wird sich dann erweisen, daß anch
wir die natürlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die aller rechtlichen Freiheit und
Gleichheit trotzen, politisch lenken können, es wird sich ferner aus den vielen
thätigen Wahlmännern der engere Kreis derer, die zu wählen sind, sichtbarer
und mehr nach der Würdigkeit als jetzt herausheben, und mit der Wahlfurcht
vor den „schwarzen Scharen" und vor den „Arbeiterbataillonen" wird die
Neigung verschwinden, im Reichstagswahlrecht ein Kompromiß umzustoßen,
das ebenso mühsam zu erreichen gewesen ist, als das Ergebnis im Volk feste
Wurzel gefaßt hat. Für unsre politischen Ziele, für die Sozialreform nament¬
lich, dürfen wir ja nicht von der Vergangenheit zehren, aber für die politischen
Mittel und Wege sollten wir das uns zugefallene Erbe hochhalten, aus Pietät
und weil es unsre Kraft vermehrt. Ein besonders wertvolles Stück der Erb¬
schaft ist die Bismarckische Tradition; wenn wir das Reichstagswahlrecht fest-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0582" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224828"/>
          <fw type="header" place="top"> Zu der Frage des Wahlrechts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1755" prev="#ID_1754"> Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Vorwurf erhoben<lb/>
werden könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlenkombinatiou.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1756" next="#ID_1757"> Wir sollten das Beispiel nachahmen und können es auch. Wenn unsre<lb/>
Gutsherren für ihre Leute sozial wieder mehr thun und ihrer Pflicht als der<lb/>
natürlichen Sach- und Wortführer der Bauerschaft wieder eingedenk werden,<lb/>
so werden sie auch wieder ihre Wahlmänner sein oder dauernd bleiben und<lb/>
das Eindringen andrer verhindern. Ebenso gut kann in der Stadt vorschauende<lb/>
Wahlarbeit geleistet werden, denn auch da haben wir Mitmenschen um uns,<lb/>
die nnr darauf warten, daß wir ihren Nöten, geistigen und leiblichen, Herz<lb/>
und Sinn öffnen, um es uns durch Vertrauen und Nachfolge zu vergelte«,<lb/>
bei den Wahlen wie bei allem, wozu sonst die Menschen zusammenzuwirken<lb/>
haben. Jeder von uns hat eine solche Umgebung, er braucht nur die Auge«<lb/>
aufzumachen, um sie zu sehen. Wir wollen es thun und uns der Leute an¬<lb/>
nehmen, nicht mit Almosen und von oben herab, sondern werkthätig und mit<lb/>
sozialer Hilfe. Wir werden dann wieder lernen, mit Menschen anders als<lb/>
fürs Geschäft und für die &#x201E;Gemütlichkeit" umzugehen, wir werden ihre Be¬<lb/>
dürfnisse und Leiden, die sozialen wie die persönlichen, an der Quelle erforsche»<lb/>
und uns von dem Bann &#x201E;unsrer" Zeitung und andrer Geistessnrrogate frei¬<lb/>
machen. Wenn wir einer so fruchtbaren Thätigkeit nur einen Teil der Zeit<lb/>
widmen, die wir an die Vereinsmeierei und an sonstigen politischen Tand ver¬<lb/>
schwenden, so werden zwar die zahllosen Gerichtssitzungen, die jeden Tag auf<lb/>
der Vierbank über die höchsten Potentaten, über ministerielle und fürstliche<lb/>
abgehalten werden, allmählich aufhören, aber durch etwas besseres ersetzt sei».<lb/>
Dieses bessere ist wirkliche Selbstverwaltung, nicht deren klingende Schelle,<lb/>
wie sie jetzt überall ertönt. Kommt dann eine politische Aufgabe, an der alle<lb/>
teilzunehmen haben, fo wird sie uns bereit finden; für die Neichstagswahlen<lb/>
zum Beispiel werden wir immer gerüstet und geordnet sein und von der großen<lb/>
Menge der Wühler den freien Gehorsam ernten, den wir uns verdient haben,<lb/>
und den wir selbst der Sache leisten. Es wird sich dann erweisen, daß anch<lb/>
wir die natürlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die aller rechtlichen Freiheit und<lb/>
Gleichheit trotzen, politisch lenken können, es wird sich ferner aus den vielen<lb/>
thätigen Wahlmännern der engere Kreis derer, die zu wählen sind, sichtbarer<lb/>
und mehr nach der Würdigkeit als jetzt herausheben, und mit der Wahlfurcht<lb/>
vor den &#x201E;schwarzen Scharen" und vor den &#x201E;Arbeiterbataillonen" wird die<lb/>
Neigung verschwinden, im Reichstagswahlrecht ein Kompromiß umzustoßen,<lb/>
das ebenso mühsam zu erreichen gewesen ist, als das Ergebnis im Volk feste<lb/>
Wurzel gefaßt hat. Für unsre politischen Ziele, für die Sozialreform nament¬<lb/>
lich, dürfen wir ja nicht von der Vergangenheit zehren, aber für die politischen<lb/>
Mittel und Wege sollten wir das uns zugefallene Erbe hochhalten, aus Pietät<lb/>
und weil es unsre Kraft vermehrt. Ein besonders wertvolles Stück der Erb¬<lb/>
schaft ist die Bismarckische Tradition; wenn wir das Reichstagswahlrecht fest-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0582] Zu der Frage des Wahlrechts Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Vorwurf erhoben werden könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlenkombinatiou. Wir sollten das Beispiel nachahmen und können es auch. Wenn unsre Gutsherren für ihre Leute sozial wieder mehr thun und ihrer Pflicht als der natürlichen Sach- und Wortführer der Bauerschaft wieder eingedenk werden, so werden sie auch wieder ihre Wahlmänner sein oder dauernd bleiben und das Eindringen andrer verhindern. Ebenso gut kann in der Stadt vorschauende Wahlarbeit geleistet werden, denn auch da haben wir Mitmenschen um uns, die nnr darauf warten, daß wir ihren Nöten, geistigen und leiblichen, Herz und Sinn öffnen, um es uns durch Vertrauen und Nachfolge zu vergelte«, bei den Wahlen wie bei allem, wozu sonst die Menschen zusammenzuwirken haben. Jeder von uns hat eine solche Umgebung, er braucht nur die Auge« aufzumachen, um sie zu sehen. Wir wollen es thun und uns der Leute an¬ nehmen, nicht mit Almosen und von oben herab, sondern werkthätig und mit sozialer Hilfe. Wir werden dann wieder lernen, mit Menschen anders als fürs Geschäft und für die „Gemütlichkeit" umzugehen, wir werden ihre Be¬ dürfnisse und Leiden, die sozialen wie die persönlichen, an der Quelle erforsche» und uns von dem Bann „unsrer" Zeitung und andrer Geistessnrrogate frei¬ machen. Wenn wir einer so fruchtbaren Thätigkeit nur einen Teil der Zeit widmen, die wir an die Vereinsmeierei und an sonstigen politischen Tand ver¬ schwenden, so werden zwar die zahllosen Gerichtssitzungen, die jeden Tag auf der Vierbank über die höchsten Potentaten, über ministerielle und fürstliche abgehalten werden, allmählich aufhören, aber durch etwas besseres ersetzt sei». Dieses bessere ist wirkliche Selbstverwaltung, nicht deren klingende Schelle, wie sie jetzt überall ertönt. Kommt dann eine politische Aufgabe, an der alle teilzunehmen haben, fo wird sie uns bereit finden; für die Neichstagswahlen zum Beispiel werden wir immer gerüstet und geordnet sein und von der großen Menge der Wühler den freien Gehorsam ernten, den wir uns verdient haben, und den wir selbst der Sache leisten. Es wird sich dann erweisen, daß anch wir die natürlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die aller rechtlichen Freiheit und Gleichheit trotzen, politisch lenken können, es wird sich ferner aus den vielen thätigen Wahlmännern der engere Kreis derer, die zu wählen sind, sichtbarer und mehr nach der Würdigkeit als jetzt herausheben, und mit der Wahlfurcht vor den „schwarzen Scharen" und vor den „Arbeiterbataillonen" wird die Neigung verschwinden, im Reichstagswahlrecht ein Kompromiß umzustoßen, das ebenso mühsam zu erreichen gewesen ist, als das Ergebnis im Volk feste Wurzel gefaßt hat. Für unsre politischen Ziele, für die Sozialreform nament¬ lich, dürfen wir ja nicht von der Vergangenheit zehren, aber für die politischen Mittel und Wege sollten wir das uns zugefallene Erbe hochhalten, aus Pietät und weil es unsre Kraft vermehrt. Ein besonders wertvolles Stück der Erb¬ schaft ist die Bismarckische Tradition; wenn wir das Reichstagswahlrecht fest-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/582
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/582>, abgerufen am 29.06.2024.