Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zu der Frage des Mahlrechts

Lvsmigsworte, das die von ihnen vertretenen Volksschichten zusammenhielte.
Die Wahlen fallen denn mich immer mehr gegen sie aus, und die Aussichten
der Gegner werden noch dadurch gefördert, daß sich diese, in geringerem Grade
die sogenannten Freisinnigen, in höherem das Zentrum und die Sozialdemokratie,
so organisirt haben, daß sie die Wahlen lange vorher vorbereiten. Nicht
erst wenn der Wahltag naht, sondern während der ganzen Wahlperiode ist
der katholische Geistliche am Werk, und ebenso werben für die Sozialdemokratie
deren überzeugte Anhänger in der Presse, in Vereinen und Versammlungen,
noch mehr im täglichen Leben, bei der Arbeit, in den Erholungszeiten, im
Familien- und Einzelverkehr. So kommt es, daß die Kartellparteien im ent¬
scheidenden Augenblick mir über Wahlmilizen verfügen, während ihm das Zentrum
und die Sozialdemokratie mit einem wohlgeschulteu und festgeleiteten Heer
entgegensehen. Das Heer selbst ruht nicht in den Zwischenzeiten; bei jeder
Gelegenheit wird es beschaut und eingeübt, weshalb keine Gemeinde- oder
Landtagswahl versäumt wird, mag auch gar keine Aussicht aus unmittelbaren
Erfolg bestehn. Wie stechen davon, um nur ein Beispiel zu nehmen, unsre
Wahleuthaltuugen ab! Wir leisten nicht mehr, als wenn wir im Schlaraffen-
lande lebten, und wollen doch die Frucht der politischen Freiheit pflücken;
wenn die Stunde der Wahl schlägt, rufen wir nach der Begeisterung und
schelten, daß sie ausbleibt, ohne zu bedenken, daß "Begeistrung keine Herings¬
ware" ist, die man auf Jahre "einpökeln" kann.

Die Unmittelbarkeit des Neichstagswahlrechts stellt noch mehr politische
Aufgaben und verlangt noch mehr Arbeit als seine allgemeine Gleichheit,
denn diese hat, wie gesagt, in den Vvlksschichtungen geistiger und sozial-
wirtschaftlicher Natur ein Gegengewicht, das nur langsam der Veränderung
unterliegt und in beträchtlichem Maße von selbst wirkt, während der Umstand,
daß am entscheidenden Wahlakt jedesmal eine so große Zahl von Menschen
persönlich teilnehmen muß, auch jedesmal wechselnde Gefahren in sich schließt:
das Interesse ist erschlafft, oder das Wahllokal ist für viele unbequem gelegen,
der Kandidat ist nicht allgemein bekannt, oder sein Auftreten macht auf die
Masse keinen Eindruck, und was sonst noch, vielleicht schlimmerer Art, den
Sir" der großen Menge lenkt oder vom Wählen abhält. Die Bekämpfung
dieser Einflüsse legt große und dauernde Anstrengungen auf. Wenn wir, an¬
statt sie zu leiste", nach Einschränkung des Neichstagswahlrechts rufen, so
spielen dabei Unthätigkeit und Verlegenheit mehr mit als das Bedürfnis nach
einer Wahlreform. Dergleichen als Armutszeugnisse zu bezeichnen und abzu¬
weisen sind die Gegenparteien durchaus im Recht. Das Zentrum und die
Sozialdemokratie können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz nötig
hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden An¬
hänger erfüllen deren Aufgaben schon jetzt, und es sind noch dazu Wahlmänner,
die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich auch am


Zu der Frage des Mahlrechts

Lvsmigsworte, das die von ihnen vertretenen Volksschichten zusammenhielte.
Die Wahlen fallen denn mich immer mehr gegen sie aus, und die Aussichten
der Gegner werden noch dadurch gefördert, daß sich diese, in geringerem Grade
die sogenannten Freisinnigen, in höherem das Zentrum und die Sozialdemokratie,
so organisirt haben, daß sie die Wahlen lange vorher vorbereiten. Nicht
erst wenn der Wahltag naht, sondern während der ganzen Wahlperiode ist
der katholische Geistliche am Werk, und ebenso werben für die Sozialdemokratie
deren überzeugte Anhänger in der Presse, in Vereinen und Versammlungen,
noch mehr im täglichen Leben, bei der Arbeit, in den Erholungszeiten, im
Familien- und Einzelverkehr. So kommt es, daß die Kartellparteien im ent¬
scheidenden Augenblick mir über Wahlmilizen verfügen, während ihm das Zentrum
und die Sozialdemokratie mit einem wohlgeschulteu und festgeleiteten Heer
entgegensehen. Das Heer selbst ruht nicht in den Zwischenzeiten; bei jeder
Gelegenheit wird es beschaut und eingeübt, weshalb keine Gemeinde- oder
Landtagswahl versäumt wird, mag auch gar keine Aussicht aus unmittelbaren
Erfolg bestehn. Wie stechen davon, um nur ein Beispiel zu nehmen, unsre
Wahleuthaltuugen ab! Wir leisten nicht mehr, als wenn wir im Schlaraffen-
lande lebten, und wollen doch die Frucht der politischen Freiheit pflücken;
wenn die Stunde der Wahl schlägt, rufen wir nach der Begeisterung und
schelten, daß sie ausbleibt, ohne zu bedenken, daß „Begeistrung keine Herings¬
ware" ist, die man auf Jahre „einpökeln" kann.

Die Unmittelbarkeit des Neichstagswahlrechts stellt noch mehr politische
Aufgaben und verlangt noch mehr Arbeit als seine allgemeine Gleichheit,
denn diese hat, wie gesagt, in den Vvlksschichtungen geistiger und sozial-
wirtschaftlicher Natur ein Gegengewicht, das nur langsam der Veränderung
unterliegt und in beträchtlichem Maße von selbst wirkt, während der Umstand,
daß am entscheidenden Wahlakt jedesmal eine so große Zahl von Menschen
persönlich teilnehmen muß, auch jedesmal wechselnde Gefahren in sich schließt:
das Interesse ist erschlafft, oder das Wahllokal ist für viele unbequem gelegen,
der Kandidat ist nicht allgemein bekannt, oder sein Auftreten macht auf die
Masse keinen Eindruck, und was sonst noch, vielleicht schlimmerer Art, den
Sir» der großen Menge lenkt oder vom Wählen abhält. Die Bekämpfung
dieser Einflüsse legt große und dauernde Anstrengungen auf. Wenn wir, an¬
statt sie zu leiste», nach Einschränkung des Neichstagswahlrechts rufen, so
spielen dabei Unthätigkeit und Verlegenheit mehr mit als das Bedürfnis nach
einer Wahlreform. Dergleichen als Armutszeugnisse zu bezeichnen und abzu¬
weisen sind die Gegenparteien durchaus im Recht. Das Zentrum und die
Sozialdemokratie können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz nötig
hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden An¬
hänger erfüllen deren Aufgaben schon jetzt, und es sind noch dazu Wahlmänner,
die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich auch am


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0581" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224827"/>
          <fw type="header" place="top"> Zu der Frage des Mahlrechts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1753" prev="#ID_1752"> Lvsmigsworte, das die von ihnen vertretenen Volksschichten zusammenhielte.<lb/>
Die Wahlen fallen denn mich immer mehr gegen sie aus, und die Aussichten<lb/>
der Gegner werden noch dadurch gefördert, daß sich diese, in geringerem Grade<lb/>
die sogenannten Freisinnigen, in höherem das Zentrum und die Sozialdemokratie,<lb/>
so organisirt haben, daß sie die Wahlen lange vorher vorbereiten. Nicht<lb/>
erst wenn der Wahltag naht, sondern während der ganzen Wahlperiode ist<lb/>
der katholische Geistliche am Werk, und ebenso werben für die Sozialdemokratie<lb/>
deren überzeugte Anhänger in der Presse, in Vereinen und Versammlungen,<lb/>
noch mehr im täglichen Leben, bei der Arbeit, in den Erholungszeiten, im<lb/>
Familien- und Einzelverkehr. So kommt es, daß die Kartellparteien im ent¬<lb/>
scheidenden Augenblick mir über Wahlmilizen verfügen, während ihm das Zentrum<lb/>
und die Sozialdemokratie mit einem wohlgeschulteu und festgeleiteten Heer<lb/>
entgegensehen. Das Heer selbst ruht nicht in den Zwischenzeiten; bei jeder<lb/>
Gelegenheit wird es beschaut und eingeübt, weshalb keine Gemeinde- oder<lb/>
Landtagswahl versäumt wird, mag auch gar keine Aussicht aus unmittelbaren<lb/>
Erfolg bestehn. Wie stechen davon, um nur ein Beispiel zu nehmen, unsre<lb/>
Wahleuthaltuugen ab! Wir leisten nicht mehr, als wenn wir im Schlaraffen-<lb/>
lande lebten, und wollen doch die Frucht der politischen Freiheit pflücken;<lb/>
wenn die Stunde der Wahl schlägt, rufen wir nach der Begeisterung und<lb/>
schelten, daß sie ausbleibt, ohne zu bedenken, daß &#x201E;Begeistrung keine Herings¬<lb/>
ware" ist, die man auf Jahre &#x201E;einpökeln" kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1754" next="#ID_1755"> Die Unmittelbarkeit des Neichstagswahlrechts stellt noch mehr politische<lb/>
Aufgaben und verlangt noch mehr Arbeit als seine allgemeine Gleichheit,<lb/>
denn diese hat, wie gesagt, in den Vvlksschichtungen geistiger und sozial-<lb/>
wirtschaftlicher Natur ein Gegengewicht, das nur langsam der Veränderung<lb/>
unterliegt und in beträchtlichem Maße von selbst wirkt, während der Umstand,<lb/>
daß am entscheidenden Wahlakt jedesmal eine so große Zahl von Menschen<lb/>
persönlich teilnehmen muß, auch jedesmal wechselnde Gefahren in sich schließt:<lb/>
das Interesse ist erschlafft, oder das Wahllokal ist für viele unbequem gelegen,<lb/>
der Kandidat ist nicht allgemein bekannt, oder sein Auftreten macht auf die<lb/>
Masse keinen Eindruck, und was sonst noch, vielleicht schlimmerer Art, den<lb/>
Sir» der großen Menge lenkt oder vom Wählen abhält. Die Bekämpfung<lb/>
dieser Einflüsse legt große und dauernde Anstrengungen auf. Wenn wir, an¬<lb/>
statt sie zu leiste», nach Einschränkung des Neichstagswahlrechts rufen, so<lb/>
spielen dabei Unthätigkeit und Verlegenheit mehr mit als das Bedürfnis nach<lb/>
einer Wahlreform. Dergleichen als Armutszeugnisse zu bezeichnen und abzu¬<lb/>
weisen sind die Gegenparteien durchaus im Recht. Das Zentrum und die<lb/>
Sozialdemokratie können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz nötig<lb/>
hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden An¬<lb/>
hänger erfüllen deren Aufgaben schon jetzt, und es sind noch dazu Wahlmänner,<lb/>
die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich auch am</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0581] Zu der Frage des Mahlrechts Lvsmigsworte, das die von ihnen vertretenen Volksschichten zusammenhielte. Die Wahlen fallen denn mich immer mehr gegen sie aus, und die Aussichten der Gegner werden noch dadurch gefördert, daß sich diese, in geringerem Grade die sogenannten Freisinnigen, in höherem das Zentrum und die Sozialdemokratie, so organisirt haben, daß sie die Wahlen lange vorher vorbereiten. Nicht erst wenn der Wahltag naht, sondern während der ganzen Wahlperiode ist der katholische Geistliche am Werk, und ebenso werben für die Sozialdemokratie deren überzeugte Anhänger in der Presse, in Vereinen und Versammlungen, noch mehr im täglichen Leben, bei der Arbeit, in den Erholungszeiten, im Familien- und Einzelverkehr. So kommt es, daß die Kartellparteien im ent¬ scheidenden Augenblick mir über Wahlmilizen verfügen, während ihm das Zentrum und die Sozialdemokratie mit einem wohlgeschulteu und festgeleiteten Heer entgegensehen. Das Heer selbst ruht nicht in den Zwischenzeiten; bei jeder Gelegenheit wird es beschaut und eingeübt, weshalb keine Gemeinde- oder Landtagswahl versäumt wird, mag auch gar keine Aussicht aus unmittelbaren Erfolg bestehn. Wie stechen davon, um nur ein Beispiel zu nehmen, unsre Wahleuthaltuugen ab! Wir leisten nicht mehr, als wenn wir im Schlaraffen- lande lebten, und wollen doch die Frucht der politischen Freiheit pflücken; wenn die Stunde der Wahl schlägt, rufen wir nach der Begeisterung und schelten, daß sie ausbleibt, ohne zu bedenken, daß „Begeistrung keine Herings¬ ware" ist, die man auf Jahre „einpökeln" kann. Die Unmittelbarkeit des Neichstagswahlrechts stellt noch mehr politische Aufgaben und verlangt noch mehr Arbeit als seine allgemeine Gleichheit, denn diese hat, wie gesagt, in den Vvlksschichtungen geistiger und sozial- wirtschaftlicher Natur ein Gegengewicht, das nur langsam der Veränderung unterliegt und in beträchtlichem Maße von selbst wirkt, während der Umstand, daß am entscheidenden Wahlakt jedesmal eine so große Zahl von Menschen persönlich teilnehmen muß, auch jedesmal wechselnde Gefahren in sich schließt: das Interesse ist erschlafft, oder das Wahllokal ist für viele unbequem gelegen, der Kandidat ist nicht allgemein bekannt, oder sein Auftreten macht auf die Masse keinen Eindruck, und was sonst noch, vielleicht schlimmerer Art, den Sir» der großen Menge lenkt oder vom Wählen abhält. Die Bekämpfung dieser Einflüsse legt große und dauernde Anstrengungen auf. Wenn wir, an¬ statt sie zu leiste», nach Einschränkung des Neichstagswahlrechts rufen, so spielen dabei Unthätigkeit und Verlegenheit mehr mit als das Bedürfnis nach einer Wahlreform. Dergleichen als Armutszeugnisse zu bezeichnen und abzu¬ weisen sind die Gegenparteien durchaus im Recht. Das Zentrum und die Sozialdemokratie können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz nötig hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden An¬ hänger erfüllen deren Aufgaben schon jetzt, und es sind noch dazu Wahlmänner, die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich auch am

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/581
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/581>, abgerufen am 29.09.2024.