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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

Wie dieses Spintisiren und Fabuliren einerseits seine Stärke ist und viel¬
fach die schönsten Früchte hervorgebracht hat, so verleitet es ihn andrerseits
zuweilen, über die Stränge zu schlagen und den Bereich des Möglichen, das
zum Schein der Wahrheit unerläßlich ist, zu überschreiten. Man kann das
selbst an einer so vollkommnen Erzählung -- vielleicht der besten unter den
Seldwylern -- wie "Kleider machen Leute" sehen. Auch hier steht man unter
dem Eindruck, daß die Situationen und Voraussetzungen, unter denen der arme
wandernde Schneidergeselle für einen polnischen Grafen gehalten werden konnte,
aufs feinste ausgeklügelt sind. An ihm selbst zu zeigen, wie der Einfältige zu
der Ehre kommt und sich darin benimmt, wie er, ohne zu wollen und immer
bestrebt, zu entfliehen, durch Passivität sich immer tiefer in die Lüge verstrickt,
das ist aufs anmutigste und belustigendste gelungen. Aber die Kunst der Erfindung
macht sich fühlbar, wie bei einem Märchen. Es ist ein Gemälde, an dem
man Strich für Strich den Pinsel des Künstlers sieht. Die volle Illusion
des Lebenswahren gelingt ihm nicht. Wenn er z. B. bei Einführung einer
neuen Person sagt: "Eine neue Wendung war eingetreten, ein Fräulein be-
schritt den Schauplatz der Ereignisse," so sieht man im Gewebe des bilder¬
reichen Teppichs, wie sich der Einschlag zum Auszug fügt, mau sieht das
Weberschiffchen fliegen und gewinnt so die Teilnahme für das künstliche Ge¬
webe auf Kosten des dargestellten Gegenstands, zum Schaden der Illusion.

Aber über diese Schwäche kommt man noch leichter hinweg, als über den
auffallenden Mangel in der Darstellung des Empfindungslebens. Er hängt
mit dem Charakter des Dichters zusammen und tritt uns daher ebenso sehr in
seinen Erzählungen wie in seinen Briefen entgegen. Rührende Situationen
weiß er genug darzustellen, aber in die Tiefe des Gemüts führt er fast nie.
Er ist ein Dialektiker der Seelenkunde, aber namentlich die weiblichen Regungen
der Seele übergeht er. Das ist selbst bei seiner so hoch geschätzten Novelle
"Romeo und Julie auf dem Dorfe" fühlbar. Man beobachtet das fein ge¬
zeichnete junge Paar mit größter Aufmerksamkeit, etwa wie man bunt¬
schillernde Schmetterlinge unter einer Glasglocke beobachtet, aber mau wird
nicht in ihr freudvolles Leid mit hineingezogen, man erlebt es nicht innerlich
mit. Daher entbehren auch Kellers Verlobungen immer des innerlich Ergreifenden,
beim Schneider Strapinski und Nettchen, wie bei Hadlaub und Fides und
andern. Auch Wiedersehen zwischen Sohn und Mutter, wie zwischen Geliebten
gehen meist trocken vorüber. Möglich, daß das manchmal beabsichtigt ist, daß
der Dichter absichtlich zurückhält und uns allein fühlen lassen will, während
er gewissermaßen nur die Unterlage giebt. Aber er geht darin zu weit. Man
erinnere sich an die Enttäuschung der beiden Geliebten in "Ursula": der heim¬
kehrende Krieger, der nach drei Jahren endlich seine Braut zu finden hofft/
um mit ihr ordnungsgemäß zum Altar zu treten, und das Mädchen, die nach
den neuen Menschheitsrechten der Freiheitspropheten ihm ohne weiteres als


Gottfried Keller und seine Novellen

Wie dieses Spintisiren und Fabuliren einerseits seine Stärke ist und viel¬
fach die schönsten Früchte hervorgebracht hat, so verleitet es ihn andrerseits
zuweilen, über die Stränge zu schlagen und den Bereich des Möglichen, das
zum Schein der Wahrheit unerläßlich ist, zu überschreiten. Man kann das
selbst an einer so vollkommnen Erzählung — vielleicht der besten unter den
Seldwylern — wie „Kleider machen Leute" sehen. Auch hier steht man unter
dem Eindruck, daß die Situationen und Voraussetzungen, unter denen der arme
wandernde Schneidergeselle für einen polnischen Grafen gehalten werden konnte,
aufs feinste ausgeklügelt sind. An ihm selbst zu zeigen, wie der Einfältige zu
der Ehre kommt und sich darin benimmt, wie er, ohne zu wollen und immer
bestrebt, zu entfliehen, durch Passivität sich immer tiefer in die Lüge verstrickt,
das ist aufs anmutigste und belustigendste gelungen. Aber die Kunst der Erfindung
macht sich fühlbar, wie bei einem Märchen. Es ist ein Gemälde, an dem
man Strich für Strich den Pinsel des Künstlers sieht. Die volle Illusion
des Lebenswahren gelingt ihm nicht. Wenn er z. B. bei Einführung einer
neuen Person sagt: „Eine neue Wendung war eingetreten, ein Fräulein be-
schritt den Schauplatz der Ereignisse," so sieht man im Gewebe des bilder¬
reichen Teppichs, wie sich der Einschlag zum Auszug fügt, mau sieht das
Weberschiffchen fliegen und gewinnt so die Teilnahme für das künstliche Ge¬
webe auf Kosten des dargestellten Gegenstands, zum Schaden der Illusion.

Aber über diese Schwäche kommt man noch leichter hinweg, als über den
auffallenden Mangel in der Darstellung des Empfindungslebens. Er hängt
mit dem Charakter des Dichters zusammen und tritt uns daher ebenso sehr in
seinen Erzählungen wie in seinen Briefen entgegen. Rührende Situationen
weiß er genug darzustellen, aber in die Tiefe des Gemüts führt er fast nie.
Er ist ein Dialektiker der Seelenkunde, aber namentlich die weiblichen Regungen
der Seele übergeht er. Das ist selbst bei seiner so hoch geschätzten Novelle
„Romeo und Julie auf dem Dorfe" fühlbar. Man beobachtet das fein ge¬
zeichnete junge Paar mit größter Aufmerksamkeit, etwa wie man bunt¬
schillernde Schmetterlinge unter einer Glasglocke beobachtet, aber mau wird
nicht in ihr freudvolles Leid mit hineingezogen, man erlebt es nicht innerlich
mit. Daher entbehren auch Kellers Verlobungen immer des innerlich Ergreifenden,
beim Schneider Strapinski und Nettchen, wie bei Hadlaub und Fides und
andern. Auch Wiedersehen zwischen Sohn und Mutter, wie zwischen Geliebten
gehen meist trocken vorüber. Möglich, daß das manchmal beabsichtigt ist, daß
der Dichter absichtlich zurückhält und uns allein fühlen lassen will, während
er gewissermaßen nur die Unterlage giebt. Aber er geht darin zu weit. Man
erinnere sich an die Enttäuschung der beiden Geliebten in „Ursula": der heim¬
kehrende Krieger, der nach drei Jahren endlich seine Braut zu finden hofft/
um mit ihr ordnungsgemäß zum Altar zu treten, und das Mädchen, die nach
den neuen Menschheitsrechten der Freiheitspropheten ihm ohne weiteres als


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[0548] Gottfried Keller und seine Novellen Wie dieses Spintisiren und Fabuliren einerseits seine Stärke ist und viel¬ fach die schönsten Früchte hervorgebracht hat, so verleitet es ihn andrerseits zuweilen, über die Stränge zu schlagen und den Bereich des Möglichen, das zum Schein der Wahrheit unerläßlich ist, zu überschreiten. Man kann das selbst an einer so vollkommnen Erzählung — vielleicht der besten unter den Seldwylern — wie „Kleider machen Leute" sehen. Auch hier steht man unter dem Eindruck, daß die Situationen und Voraussetzungen, unter denen der arme wandernde Schneidergeselle für einen polnischen Grafen gehalten werden konnte, aufs feinste ausgeklügelt sind. An ihm selbst zu zeigen, wie der Einfältige zu der Ehre kommt und sich darin benimmt, wie er, ohne zu wollen und immer bestrebt, zu entfliehen, durch Passivität sich immer tiefer in die Lüge verstrickt, das ist aufs anmutigste und belustigendste gelungen. Aber die Kunst der Erfindung macht sich fühlbar, wie bei einem Märchen. Es ist ein Gemälde, an dem man Strich für Strich den Pinsel des Künstlers sieht. Die volle Illusion des Lebenswahren gelingt ihm nicht. Wenn er z. B. bei Einführung einer neuen Person sagt: „Eine neue Wendung war eingetreten, ein Fräulein be- schritt den Schauplatz der Ereignisse," so sieht man im Gewebe des bilder¬ reichen Teppichs, wie sich der Einschlag zum Auszug fügt, mau sieht das Weberschiffchen fliegen und gewinnt so die Teilnahme für das künstliche Ge¬ webe auf Kosten des dargestellten Gegenstands, zum Schaden der Illusion. Aber über diese Schwäche kommt man noch leichter hinweg, als über den auffallenden Mangel in der Darstellung des Empfindungslebens. Er hängt mit dem Charakter des Dichters zusammen und tritt uns daher ebenso sehr in seinen Erzählungen wie in seinen Briefen entgegen. Rührende Situationen weiß er genug darzustellen, aber in die Tiefe des Gemüts führt er fast nie. Er ist ein Dialektiker der Seelenkunde, aber namentlich die weiblichen Regungen der Seele übergeht er. Das ist selbst bei seiner so hoch geschätzten Novelle „Romeo und Julie auf dem Dorfe" fühlbar. Man beobachtet das fein ge¬ zeichnete junge Paar mit größter Aufmerksamkeit, etwa wie man bunt¬ schillernde Schmetterlinge unter einer Glasglocke beobachtet, aber mau wird nicht in ihr freudvolles Leid mit hineingezogen, man erlebt es nicht innerlich mit. Daher entbehren auch Kellers Verlobungen immer des innerlich Ergreifenden, beim Schneider Strapinski und Nettchen, wie bei Hadlaub und Fides und andern. Auch Wiedersehen zwischen Sohn und Mutter, wie zwischen Geliebten gehen meist trocken vorüber. Möglich, daß das manchmal beabsichtigt ist, daß der Dichter absichtlich zurückhält und uns allein fühlen lassen will, während er gewissermaßen nur die Unterlage giebt. Aber er geht darin zu weit. Man erinnere sich an die Enttäuschung der beiden Geliebten in „Ursula": der heim¬ kehrende Krieger, der nach drei Jahren endlich seine Braut zu finden hofft/ um mit ihr ordnungsgemäß zum Altar zu treten, und das Mädchen, die nach den neuen Menschheitsrechten der Freiheitspropheten ihm ohne weiteres als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/548>, abgerufen am 29.06.2024.