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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

Die schöne Frau, die ihr Mann aus niederm Stande emporgehoben hat, endet
infolge eines Mißverständnisses und Argwohns durch Selbstmord. Und was
sagt Lucie gleich darauf "nachdenklich": "Ich könnte nun einwenden, daß Ihre
Geschichte mehr eine Frage des Schicksals als der Bildung sei; doch will ich
zugeben, daß eine schlimme Abart der letztern durch die Parzen, wie Sie die
Trägerinnen derselben nennen, von Einfluß auf das Schicksal der armen
Regina gewesen ist" usw. So wird die Stimmung sofort durch eine ver¬
standesmäßige Betrachtung unterbrochen, und die rechte Wirkung ist dahin. Der
Dichter selbst hat sie zerstört.

Damit hängt auch der gleichmäßige Ton des Vortrags zusammen, der
oft ermüdend wirkt, das Geschniegelte und Gebügelte der Diktion, das Wohl¬
abgemessene, das er andern andichtet, wenn er von ihnen sagt: "Sie hatten alle
ihre kleinen Erfahrungen und Vorkommnisse auf das genaueste eingereiht und
abgeteilt, die angenehmen von den betrübenden abgesondert und jedes einzelne
in sein rechtes Licht gesetzt und in reinliche Beziehung zum andern gebracht";
oder wenn er selbst von sich im "Landvogt von Greifensee" sagt: "Wir wollen
die Geschichten nacherzählen, jedoch alles ordentlich einteilen, absondern und
für unser Verständnis einrichten." Ist es nicht ähnlich ausgerechnet, wenn
er im "Sinngedicht" im ersten Kapitel erzählt, wie Reinhard den Entschluß
faßt, ein Mädchen zu küssen, die errötend lacht, im zweiten, wie er eine küßt,
die lacht und nicht errötet, und im dritten eine, die errötet, aber nicht lacht?
Ähnlich vorgebeugt wird auch, wenn Lucie ihre Erzählung so einleitet: "Es
dürfte am zweckmäßigsten sein, die Sache gleich in der Art zu erzählen, wie
ein gezierter Novellist sein Stücklein in Szene setzt. Ich würde zugleich damit
M meiner Erzählungskunst, die mir wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen,
einen Fortschritt anstreben können, man weiß ja nie, wo man es brauchen
kann. Es würde also etwa so lauten." Dann folgt die Geschichte von der
armen Baronin, eine Erzählung die so wenig geschmackvoll mit der unwürdigen
Rache des Mannes an den verkommneu Verwandten seiner Frau endet. Mit
Recht hat sich auch Theodor Storm, der Keller so wohlgesinnt war, in einem
Brief gegen diesen Schluß (wie auch gegen andre Sonderbarkeiten Kellers) ge¬
wandt. "Wie zum Teufel, Meister Gottfried, schreibt er, kann ein so zart und
schön empfindender Poet uns eine solche Roheit -- ja, halten Sie nur hübsch
still! -- als etwas Ergötzliches ausmalen, daß ein Mann seiner Geliebten
ihren frühern Ehemann nebst Brüdern zur Erhöhung ihrer Festfreude in so
scheußlicher, possenhafter Herabgekommenheit vorführt! Hier stehe ich nicht
mit dem Hute in der Hand und sage: Wartet, der Dichter will erst seinen
Spaß macheu! Nein, liebster Freund, das haben Sie nicht wohl bedacht, das
muß vor der Buchausgabe heraus!"")



") Baechtold III, 289. Leider wurde es nicht geändert.
Gottfried Keller und seine Novellen

Die schöne Frau, die ihr Mann aus niederm Stande emporgehoben hat, endet
infolge eines Mißverständnisses und Argwohns durch Selbstmord. Und was
sagt Lucie gleich darauf „nachdenklich": „Ich könnte nun einwenden, daß Ihre
Geschichte mehr eine Frage des Schicksals als der Bildung sei; doch will ich
zugeben, daß eine schlimme Abart der letztern durch die Parzen, wie Sie die
Trägerinnen derselben nennen, von Einfluß auf das Schicksal der armen
Regina gewesen ist" usw. So wird die Stimmung sofort durch eine ver¬
standesmäßige Betrachtung unterbrochen, und die rechte Wirkung ist dahin. Der
Dichter selbst hat sie zerstört.

Damit hängt auch der gleichmäßige Ton des Vortrags zusammen, der
oft ermüdend wirkt, das Geschniegelte und Gebügelte der Diktion, das Wohl¬
abgemessene, das er andern andichtet, wenn er von ihnen sagt: „Sie hatten alle
ihre kleinen Erfahrungen und Vorkommnisse auf das genaueste eingereiht und
abgeteilt, die angenehmen von den betrübenden abgesondert und jedes einzelne
in sein rechtes Licht gesetzt und in reinliche Beziehung zum andern gebracht";
oder wenn er selbst von sich im „Landvogt von Greifensee" sagt: „Wir wollen
die Geschichten nacherzählen, jedoch alles ordentlich einteilen, absondern und
für unser Verständnis einrichten." Ist es nicht ähnlich ausgerechnet, wenn
er im „Sinngedicht" im ersten Kapitel erzählt, wie Reinhard den Entschluß
faßt, ein Mädchen zu küssen, die errötend lacht, im zweiten, wie er eine küßt,
die lacht und nicht errötet, und im dritten eine, die errötet, aber nicht lacht?
Ähnlich vorgebeugt wird auch, wenn Lucie ihre Erzählung so einleitet: „Es
dürfte am zweckmäßigsten sein, die Sache gleich in der Art zu erzählen, wie
ein gezierter Novellist sein Stücklein in Szene setzt. Ich würde zugleich damit
M meiner Erzählungskunst, die mir wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen,
einen Fortschritt anstreben können, man weiß ja nie, wo man es brauchen
kann. Es würde also etwa so lauten." Dann folgt die Geschichte von der
armen Baronin, eine Erzählung die so wenig geschmackvoll mit der unwürdigen
Rache des Mannes an den verkommneu Verwandten seiner Frau endet. Mit
Recht hat sich auch Theodor Storm, der Keller so wohlgesinnt war, in einem
Brief gegen diesen Schluß (wie auch gegen andre Sonderbarkeiten Kellers) ge¬
wandt. „Wie zum Teufel, Meister Gottfried, schreibt er, kann ein so zart und
schön empfindender Poet uns eine solche Roheit — ja, halten Sie nur hübsch
still! — als etwas Ergötzliches ausmalen, daß ein Mann seiner Geliebten
ihren frühern Ehemann nebst Brüdern zur Erhöhung ihrer Festfreude in so
scheußlicher, possenhafter Herabgekommenheit vorführt! Hier stehe ich nicht
mit dem Hute in der Hand und sage: Wartet, der Dichter will erst seinen
Spaß macheu! Nein, liebster Freund, das haben Sie nicht wohl bedacht, das
muß vor der Buchausgabe heraus!"")



") Baechtold III, 289. Leider wurde es nicht geändert.
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[0547] Gottfried Keller und seine Novellen Die schöne Frau, die ihr Mann aus niederm Stande emporgehoben hat, endet infolge eines Mißverständnisses und Argwohns durch Selbstmord. Und was sagt Lucie gleich darauf „nachdenklich": „Ich könnte nun einwenden, daß Ihre Geschichte mehr eine Frage des Schicksals als der Bildung sei; doch will ich zugeben, daß eine schlimme Abart der letztern durch die Parzen, wie Sie die Trägerinnen derselben nennen, von Einfluß auf das Schicksal der armen Regina gewesen ist" usw. So wird die Stimmung sofort durch eine ver¬ standesmäßige Betrachtung unterbrochen, und die rechte Wirkung ist dahin. Der Dichter selbst hat sie zerstört. Damit hängt auch der gleichmäßige Ton des Vortrags zusammen, der oft ermüdend wirkt, das Geschniegelte und Gebügelte der Diktion, das Wohl¬ abgemessene, das er andern andichtet, wenn er von ihnen sagt: „Sie hatten alle ihre kleinen Erfahrungen und Vorkommnisse auf das genaueste eingereiht und abgeteilt, die angenehmen von den betrübenden abgesondert und jedes einzelne in sein rechtes Licht gesetzt und in reinliche Beziehung zum andern gebracht"; oder wenn er selbst von sich im „Landvogt von Greifensee" sagt: „Wir wollen die Geschichten nacherzählen, jedoch alles ordentlich einteilen, absondern und für unser Verständnis einrichten." Ist es nicht ähnlich ausgerechnet, wenn er im „Sinngedicht" im ersten Kapitel erzählt, wie Reinhard den Entschluß faßt, ein Mädchen zu küssen, die errötend lacht, im zweiten, wie er eine küßt, die lacht und nicht errötet, und im dritten eine, die errötet, aber nicht lacht? Ähnlich vorgebeugt wird auch, wenn Lucie ihre Erzählung so einleitet: „Es dürfte am zweckmäßigsten sein, die Sache gleich in der Art zu erzählen, wie ein gezierter Novellist sein Stücklein in Szene setzt. Ich würde zugleich damit M meiner Erzählungskunst, die mir wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen, einen Fortschritt anstreben können, man weiß ja nie, wo man es brauchen kann. Es würde also etwa so lauten." Dann folgt die Geschichte von der armen Baronin, eine Erzählung die so wenig geschmackvoll mit der unwürdigen Rache des Mannes an den verkommneu Verwandten seiner Frau endet. Mit Recht hat sich auch Theodor Storm, der Keller so wohlgesinnt war, in einem Brief gegen diesen Schluß (wie auch gegen andre Sonderbarkeiten Kellers) ge¬ wandt. „Wie zum Teufel, Meister Gottfried, schreibt er, kann ein so zart und schön empfindender Poet uns eine solche Roheit — ja, halten Sie nur hübsch still! — als etwas Ergötzliches ausmalen, daß ein Mann seiner Geliebten ihren frühern Ehemann nebst Brüdern zur Erhöhung ihrer Festfreude in so scheußlicher, possenhafter Herabgekommenheit vorführt! Hier stehe ich nicht mit dem Hute in der Hand und sage: Wartet, der Dichter will erst seinen Spaß macheu! Nein, liebster Freund, das haben Sie nicht wohl bedacht, das muß vor der Buchausgabe heraus!"") ") Baechtold III, 289. Leider wurde es nicht geändert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/547>, abgerufen am 29.06.2024.