Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.Gottfried Reiter und seine Novellen er sich für den letzten Groschen Brot kaufen. Als er im Laden das Brot Der Druck des "Grünen Heinrich" in seiner ersten Gestalt hat fast fünf Über die Jugendarbeit spricht sich der Dichter in einem Brief an seinen Ich habe das gewagte Manöver gemacht, daß ich meine eigne Jugendgeschichte Gottfried Reiter und seine Novellen er sich für den letzten Groschen Brot kaufen. Als er im Laden das Brot Der Druck des „Grünen Heinrich" in seiner ersten Gestalt hat fast fünf Über die Jugendarbeit spricht sich der Dichter in einem Brief an seinen Ich habe das gewagte Manöver gemacht, daß ich meine eigne Jugendgeschichte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224746"/> <fw type="header" place="top"> Gottfried Reiter und seine Novellen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1485" prev="#ID_1484"> er sich für den letzten Groschen Brot kaufen. Als er im Laden das Brot<lb/> schon in der Hand hatte und bezahlen wollte, erklärte die Verkäuferin das<lb/> Geld für „falsch," und er mußte das Brot wieder hinlegen und beschämt von<lb/> dannen gehen. Trotzdem konnte er sich nicht, wie einst Lessing in gleicher<lb/> Lage in derselben Stadt, zu emsiger Arbeit aufraffen. Gewiß drückten die<lb/> schlimmen Verhältnisse auf seine poetische Schaffenskraft, aber er hätte doch<lb/> etwas thun mllsfen, um sie zu verbessern, und — er hat in günstiger Lage<lb/> auch nicht eifriger gearbeitet. An Stoff fehlte es ihm nicht; denn etwas zu<lb/> erdenken fiel ihm nicht schwer. Es liegt eine Menge dramatischer Entwürfe<lb/> vor, aber keiner ist vollendet worden. Die meisten Pläne zu seinen Novellen<lb/> reiften jetzt, aber nur die ersten Erzählungen aus den „Leuten von Seldwhla"<lb/> wurden fertig. Mit Mühe und Not wurde endlich der „Grüne Heinrich"<lb/> vollendet. Keller hatte längst einen günstigen Verlagskontrakt in der Tasche;<lb/> der Buchhändler war für die Dichtung aufs lebhafteste interessirt, er bat, er<lb/> drängte. Aber Keller war „kurz angebunden, unwirsch, saumselig, wortbrüchig<lb/> bis zur äußersten Rücksichtslosigkeit." Und so blieb er anch sein Leben lang.<lb/> „Für ihn hatte lediglich die Erfindung einer Dichtung einen Reiz. Sobald<lb/> es an die schriftliche Ausführung ging, wurde ihm das Geschäft lästig, und<lb/> er stellte sich demselben mit einer gewissen Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit<lb/> gegenüber." Noch am Ende der siebziger Jahre hat die Deutsche Rundschau<lb/> mit den Züricher Novellen dieselbe Erfahrung gemacht wie hier sein erster<lb/> Verleger.</p><lb/> <p xml:id="ID_1486"> Der Druck des „Grünen Heinrich" in seiner ersten Gestalt hat fast fünf<lb/> Jahre gedauert, der ursprünglich festgesetzte Umfang ward um fünfzig Druck¬<lb/> bogen überschritten! Das Werk hatte sich unter diesen Umständen ganz anders<lb/> ausgewachsen, als es ursprünglich gedacht war. Nicht zum Vorteil der Ein¬<lb/> heit des Romans, der stückweise, wie er aus der Feder des Verfassers floß,<lb/> in die Druckerei gewandert war. Keller war sehr unglücklich über diese Un¬<lb/> gleichheit und Unfertigst der Arbeit. Dennoch wurde sie von der Kritik<lb/> gut aufgenommen. Hierin ist er sein Leben lang wie wenige begünstigt<lb/> worden. Aber der Erfolg entsprach dem nicht. Dieser Roman erfordert einen<lb/> besondern Geschmack und eine willige Hingebung, wenn man seine Schönheiten<lb/> wirklich empfinden soll. Und dabei liest man ihn jetzt nur noch in einer<lb/> Umarbeitung, die Keller in seinem Alter vorgenommen hat!</p><lb/> <p xml:id="ID_1487"> Über die Jugendarbeit spricht sich der Dichter in einem Brief an seinen<lb/> Freund Hettner, den bekannten Literarhistoriker, so aus (4. März 1851):</p><lb/> <p xml:id="ID_1488" next="#ID_1489"> Ich habe das gewagte Manöver gemacht, daß ich meine eigne Jugendgeschichte<lb/> zum Inhalt des ersten Teiles machte, um dann darauf den weitern Verlauf des<lb/> Romans zu gründen, und zwar so, wie er mir selbst auch hätte passiren können,<lb/> wenn ich mich nicht zusammengenommen hätte. Es kommt nun alles darauf an,<lb/> ob es mir mehr oder weniger gelungen sei, das Gewöhnliche und jedem Nahe-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0500]
Gottfried Reiter und seine Novellen
er sich für den letzten Groschen Brot kaufen. Als er im Laden das Brot
schon in der Hand hatte und bezahlen wollte, erklärte die Verkäuferin das
Geld für „falsch," und er mußte das Brot wieder hinlegen und beschämt von
dannen gehen. Trotzdem konnte er sich nicht, wie einst Lessing in gleicher
Lage in derselben Stadt, zu emsiger Arbeit aufraffen. Gewiß drückten die
schlimmen Verhältnisse auf seine poetische Schaffenskraft, aber er hätte doch
etwas thun mllsfen, um sie zu verbessern, und — er hat in günstiger Lage
auch nicht eifriger gearbeitet. An Stoff fehlte es ihm nicht; denn etwas zu
erdenken fiel ihm nicht schwer. Es liegt eine Menge dramatischer Entwürfe
vor, aber keiner ist vollendet worden. Die meisten Pläne zu seinen Novellen
reiften jetzt, aber nur die ersten Erzählungen aus den „Leuten von Seldwhla"
wurden fertig. Mit Mühe und Not wurde endlich der „Grüne Heinrich"
vollendet. Keller hatte längst einen günstigen Verlagskontrakt in der Tasche;
der Buchhändler war für die Dichtung aufs lebhafteste interessirt, er bat, er
drängte. Aber Keller war „kurz angebunden, unwirsch, saumselig, wortbrüchig
bis zur äußersten Rücksichtslosigkeit." Und so blieb er anch sein Leben lang.
„Für ihn hatte lediglich die Erfindung einer Dichtung einen Reiz. Sobald
es an die schriftliche Ausführung ging, wurde ihm das Geschäft lästig, und
er stellte sich demselben mit einer gewissen Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit
gegenüber." Noch am Ende der siebziger Jahre hat die Deutsche Rundschau
mit den Züricher Novellen dieselbe Erfahrung gemacht wie hier sein erster
Verleger.
Der Druck des „Grünen Heinrich" in seiner ersten Gestalt hat fast fünf
Jahre gedauert, der ursprünglich festgesetzte Umfang ward um fünfzig Druck¬
bogen überschritten! Das Werk hatte sich unter diesen Umständen ganz anders
ausgewachsen, als es ursprünglich gedacht war. Nicht zum Vorteil der Ein¬
heit des Romans, der stückweise, wie er aus der Feder des Verfassers floß,
in die Druckerei gewandert war. Keller war sehr unglücklich über diese Un¬
gleichheit und Unfertigst der Arbeit. Dennoch wurde sie von der Kritik
gut aufgenommen. Hierin ist er sein Leben lang wie wenige begünstigt
worden. Aber der Erfolg entsprach dem nicht. Dieser Roman erfordert einen
besondern Geschmack und eine willige Hingebung, wenn man seine Schönheiten
wirklich empfinden soll. Und dabei liest man ihn jetzt nur noch in einer
Umarbeitung, die Keller in seinem Alter vorgenommen hat!
Über die Jugendarbeit spricht sich der Dichter in einem Brief an seinen
Freund Hettner, den bekannten Literarhistoriker, so aus (4. März 1851):
Ich habe das gewagte Manöver gemacht, daß ich meine eigne Jugendgeschichte
zum Inhalt des ersten Teiles machte, um dann darauf den weitern Verlauf des
Romans zu gründen, und zwar so, wie er mir selbst auch hätte passiren können,
wenn ich mich nicht zusammengenommen hätte. Es kommt nun alles darauf an,
ob es mir mehr oder weniger gelungen sei, das Gewöhnliche und jedem Nahe-
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