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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Griechenland und Kreta

Daß sich im Ernstfall diese Zahlen auch nicht annähernd werden erreichen
lassen, unterliegt, wenn man die mangelhafte Organisation und den Mangel
an Geldmitteln berücksichtigt, keinem Zweifel/")

Ob sich die Lage der Kandioten unter griechischer Herrschaft wesentlich
günstiger gestalten würde als unter der des Halbmondes, ist fraglich. Gerade
in Kreta hat die Türkei mit sehr milder Hand und unter voller Gleichberech¬
tigung der verschiednen Bekenntnisse regiert. Bei den frühern Aufständen der
Kreter in diesem Jahrhundert läßt es sich ziemlich sicher nachweisen, daß die
Christen mit Gewaltthaten gegen die Moslems begonnen haben. Man irrt,
wenn man sich den Griechen noch immer als den edeln, hochherzigen oder roh
unterdrückten Hellenen der Vorzeit vorstellt. Auch der Grieche weiß sich ebenso
wie der Armenier seiner Haut sehr wohl zu wehren und ist durchaus nicht in
allen Fällen der Unschuldige.

Da durch die Ereignisse, die hoffentlich bald ihre endgiltige Lösung finden
werden, die Aufmerksamkeit einmal auf das schöne Eiland Kreta gelenkt worden
ist, so wird uns vielleicht mancher Leser dankbar sein, wenn wir einen ganz
kurzen Überblick über die Geschichte der Insel seit der Zeit des Mittelalters
anfügen. Venedig zur Zeit seiner höchsten Machtfülle unter Enrico Dandolo
erwarb Kandia durch den vierten Kreuzzug im Jahre 1204 aus der großen
byzantinischen Beute und blieb in dessen Besitz bis zur Mitte des siebzehnten
Jahrhunderts. Im Jahre 1640 war Sultan Ibrahim auf den Thron des
osmanischen Reiches gekommen, zu einer Zeit, wo das Sultanat schon im
Sinken war. Obgleich auch er, wie die meisten seiner unmittelbaren Vorgänger,
ein Schwächling war, so begann doch unter ihm der letzte glückliche Erobe¬
rungskrieg der Türken, der Kampf um Kandia. Im Sommer 1645 landeten
50000 Mann türkische Truppen unter Jussufs Pascha auf der Insel, gut auf¬
genommen von der Bevölkerung, die tiefen Haß gegen die abendländischen
Herrscher hegte. Kanea fiel ohne Kampf, im Herbst 1646 ebenso Nittimo
durch Sturm, und die Hauptstadt Kandia wurde eingeschlossen trotz aller Be¬
mühungen des venezianischen Statthalters Andrea Cornaro, Die Venezianer
blieben nur zur See überlegen. Im Jahre 1648 folgte dem Sultan Ibrahim,
der erdrosselt wurde, sein siebenjähriger Sohn Mohammed V,, unter dein der
auswärtige Krieg sehr Übeln Fortgang nahm. Der von Venedig 1649 an-
gebotne Friede war abgelehnt worden; zwei Jahre später, 1651 wurde die
türkische Flotte zwischen Paros und Naxos und 1656 abermals am Ausgang
der Dardanellen geschlagen. Da erwählte der eben volljährig gewordne Sultan
auf Rat seiner Mutter den Albmiesen Mohammed Köprili zum Großvezier,
der mit kräftiger, aber auch grausamer Hand die Zügel der Regierung ergriff.



Wir folgen bei diesen Angaben den als zuverlässigste Quelle bekannten Militärischen
Jahresberichten von Löbell für das Jahr 18S5. Berlin, E. S. Mittler und Sohn.
Griechenland und Kreta

Daß sich im Ernstfall diese Zahlen auch nicht annähernd werden erreichen
lassen, unterliegt, wenn man die mangelhafte Organisation und den Mangel
an Geldmitteln berücksichtigt, keinem Zweifel/")

Ob sich die Lage der Kandioten unter griechischer Herrschaft wesentlich
günstiger gestalten würde als unter der des Halbmondes, ist fraglich. Gerade
in Kreta hat die Türkei mit sehr milder Hand und unter voller Gleichberech¬
tigung der verschiednen Bekenntnisse regiert. Bei den frühern Aufständen der
Kreter in diesem Jahrhundert läßt es sich ziemlich sicher nachweisen, daß die
Christen mit Gewaltthaten gegen die Moslems begonnen haben. Man irrt,
wenn man sich den Griechen noch immer als den edeln, hochherzigen oder roh
unterdrückten Hellenen der Vorzeit vorstellt. Auch der Grieche weiß sich ebenso
wie der Armenier seiner Haut sehr wohl zu wehren und ist durchaus nicht in
allen Fällen der Unschuldige.

Da durch die Ereignisse, die hoffentlich bald ihre endgiltige Lösung finden
werden, die Aufmerksamkeit einmal auf das schöne Eiland Kreta gelenkt worden
ist, so wird uns vielleicht mancher Leser dankbar sein, wenn wir einen ganz
kurzen Überblick über die Geschichte der Insel seit der Zeit des Mittelalters
anfügen. Venedig zur Zeit seiner höchsten Machtfülle unter Enrico Dandolo
erwarb Kandia durch den vierten Kreuzzug im Jahre 1204 aus der großen
byzantinischen Beute und blieb in dessen Besitz bis zur Mitte des siebzehnten
Jahrhunderts. Im Jahre 1640 war Sultan Ibrahim auf den Thron des
osmanischen Reiches gekommen, zu einer Zeit, wo das Sultanat schon im
Sinken war. Obgleich auch er, wie die meisten seiner unmittelbaren Vorgänger,
ein Schwächling war, so begann doch unter ihm der letzte glückliche Erobe¬
rungskrieg der Türken, der Kampf um Kandia. Im Sommer 1645 landeten
50000 Mann türkische Truppen unter Jussufs Pascha auf der Insel, gut auf¬
genommen von der Bevölkerung, die tiefen Haß gegen die abendländischen
Herrscher hegte. Kanea fiel ohne Kampf, im Herbst 1646 ebenso Nittimo
durch Sturm, und die Hauptstadt Kandia wurde eingeschlossen trotz aller Be¬
mühungen des venezianischen Statthalters Andrea Cornaro, Die Venezianer
blieben nur zur See überlegen. Im Jahre 1648 folgte dem Sultan Ibrahim,
der erdrosselt wurde, sein siebenjähriger Sohn Mohammed V,, unter dein der
auswärtige Krieg sehr Übeln Fortgang nahm. Der von Venedig 1649 an-
gebotne Friede war abgelehnt worden; zwei Jahre später, 1651 wurde die
türkische Flotte zwischen Paros und Naxos und 1656 abermals am Ausgang
der Dardanellen geschlagen. Da erwählte der eben volljährig gewordne Sultan
auf Rat seiner Mutter den Albmiesen Mohammed Köprili zum Großvezier,
der mit kräftiger, aber auch grausamer Hand die Zügel der Regierung ergriff.



Wir folgen bei diesen Angaben den als zuverlässigste Quelle bekannten Militärischen
Jahresberichten von Löbell für das Jahr 18S5. Berlin, E. S. Mittler und Sohn.
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[0478] Griechenland und Kreta Daß sich im Ernstfall diese Zahlen auch nicht annähernd werden erreichen lassen, unterliegt, wenn man die mangelhafte Organisation und den Mangel an Geldmitteln berücksichtigt, keinem Zweifel/") Ob sich die Lage der Kandioten unter griechischer Herrschaft wesentlich günstiger gestalten würde als unter der des Halbmondes, ist fraglich. Gerade in Kreta hat die Türkei mit sehr milder Hand und unter voller Gleichberech¬ tigung der verschiednen Bekenntnisse regiert. Bei den frühern Aufständen der Kreter in diesem Jahrhundert läßt es sich ziemlich sicher nachweisen, daß die Christen mit Gewaltthaten gegen die Moslems begonnen haben. Man irrt, wenn man sich den Griechen noch immer als den edeln, hochherzigen oder roh unterdrückten Hellenen der Vorzeit vorstellt. Auch der Grieche weiß sich ebenso wie der Armenier seiner Haut sehr wohl zu wehren und ist durchaus nicht in allen Fällen der Unschuldige. Da durch die Ereignisse, die hoffentlich bald ihre endgiltige Lösung finden werden, die Aufmerksamkeit einmal auf das schöne Eiland Kreta gelenkt worden ist, so wird uns vielleicht mancher Leser dankbar sein, wenn wir einen ganz kurzen Überblick über die Geschichte der Insel seit der Zeit des Mittelalters anfügen. Venedig zur Zeit seiner höchsten Machtfülle unter Enrico Dandolo erwarb Kandia durch den vierten Kreuzzug im Jahre 1204 aus der großen byzantinischen Beute und blieb in dessen Besitz bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Im Jahre 1640 war Sultan Ibrahim auf den Thron des osmanischen Reiches gekommen, zu einer Zeit, wo das Sultanat schon im Sinken war. Obgleich auch er, wie die meisten seiner unmittelbaren Vorgänger, ein Schwächling war, so begann doch unter ihm der letzte glückliche Erobe¬ rungskrieg der Türken, der Kampf um Kandia. Im Sommer 1645 landeten 50000 Mann türkische Truppen unter Jussufs Pascha auf der Insel, gut auf¬ genommen von der Bevölkerung, die tiefen Haß gegen die abendländischen Herrscher hegte. Kanea fiel ohne Kampf, im Herbst 1646 ebenso Nittimo durch Sturm, und die Hauptstadt Kandia wurde eingeschlossen trotz aller Be¬ mühungen des venezianischen Statthalters Andrea Cornaro, Die Venezianer blieben nur zur See überlegen. Im Jahre 1648 folgte dem Sultan Ibrahim, der erdrosselt wurde, sein siebenjähriger Sohn Mohammed V,, unter dein der auswärtige Krieg sehr Übeln Fortgang nahm. Der von Venedig 1649 an- gebotne Friede war abgelehnt worden; zwei Jahre später, 1651 wurde die türkische Flotte zwischen Paros und Naxos und 1656 abermals am Ausgang der Dardanellen geschlagen. Da erwählte der eben volljährig gewordne Sultan auf Rat seiner Mutter den Albmiesen Mohammed Köprili zum Großvezier, der mit kräftiger, aber auch grausamer Hand die Zügel der Regierung ergriff. Wir folgen bei diesen Angaben den als zuverlässigste Quelle bekannten Militärischen Jahresberichten von Löbell für das Jahr 18S5. Berlin, E. S. Mittler und Sohn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/478>, abgerufen am 20.10.2024.