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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen

kalisches Haushund ersten Ranges werden. Für viele der alten Lieder können
wir zwar nur noch ein antiquarisches Interesse haben, aber sie alle in Bausch
und Bogen mit den Worten zopfig oder veraltet abzuthun, geht doch nicht an.
Auch unter deu frühesten, namentlich auch unter denen, die von halben oder
ganzen Dilettanten herrühren, ist so manches, dessen schlichte musikalische Schön¬
heit niemand verkennen wird, und das, mit Ernst und Liebe behandelt, auch
heute noch in empfänglichen Kreisen wirken kann. Auf jeden Fall versetzen uns
diese Kompositionen lebendiger und treuer in die Gefühlsweise der Zeit als die
Texte allein. Denn daß den meisten Zeitgenossen diese Kompositionen genügt
haben, daß ihnen der Gehalt der Goethischen Lyrik darin erschöpft gewesen ist,
ist gar kein Zweifel. Natürlich müßte die Sammlung von einer gut ge-
schriebnen geschichtlichen Einleitung begleitet sein, die dem, der neu an diese
Dinge hinantritt, die nötigen Fingerzeige gäbe und das, was das thematische
Verzeichnis in trockner Statistik vorführen würde, durch biographische Mit¬
teilungen über die Komponisten und kurze, treffende, faßliche Charakteristiken
der ausgewählten Proben belebte. In dieser Einleitung müßten auch die
Komponisten behandelt sein, die den ganzen Liedersegen Goethes mit erlebt
haben, ohne nach ihm zu fragen. In größerm Umfange hat sich ja zuerst
Reichardt der Goethischen Lyrik bemächtigt. Während das erste Heft seiner
"Oden und Lieder" (1779) unter 42 Nummern noch nicht einen einzigen
Goethischen Text enthält, bringt das zweite (1780) unter 33 Nummern vier,
das dritte (1781) unter 23 Nummern elf Gvethische Texte. Den Anlaß zu
dieser raschen Wandlung hatte ohne Zweisel die Himburgsche Nachdruckausgabe
von Goethes Schriften gegeben, in deren vierten Bande (1779) zum erstenmale
die bis dahin zerstreut gedruckten Gedichte Goethes vereinigt waren. Aber
noch 1784 steht in Friedrich Wilhelm Rufes "Oden und Liedern aus den besten
deutschen Dichtern" unter 27 Liedern nur eins von Goethe, 1785 bis 1790
in den "Liedern im Volkston" von Johann Abraham Peter Schulz sogar
unter 133 nicht ein einziges Goethisches!

Freilich, die Aufgabe, eine solche Sammlung zu schaffen, ist nicht leicht.
Sie könnte nur von einem gebildeten Musiker gelöst werden, der zugleich eine
philologische Ader und eine gründliche Kenntnis der Goethelitteratur hätte,
oder umgekehrt. Und er müßte den Stoff nicht bloß vollständig übersehen,
sondern auch vollständig beisammen haben, um öfter vergleichen und auf diese
Weise richtig auswählen zu können. Dazu gehört aber jahrelanges Sammeln,
denn die Originale sind selten geworden, sind in öffentlichen und Privatsamm¬
lungen zerstreut. So manches bringt einem mir ein glücklicher Zufall, viel¬
leicht aus einem antiquarischen Katalog, einmal in die Hände.

Da hat nun die Gvethegesellschaft vor wenigen Wochen ihren Mitgliedern
eine Überraschung bereitet: als elften Band ihrer "Schriften" hat sie ihnen ein
chmuckes Folivbändchen auf den Weihnachtstisch gelegt: Gedichte von Goethe


Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen

kalisches Haushund ersten Ranges werden. Für viele der alten Lieder können
wir zwar nur noch ein antiquarisches Interesse haben, aber sie alle in Bausch
und Bogen mit den Worten zopfig oder veraltet abzuthun, geht doch nicht an.
Auch unter deu frühesten, namentlich auch unter denen, die von halben oder
ganzen Dilettanten herrühren, ist so manches, dessen schlichte musikalische Schön¬
heit niemand verkennen wird, und das, mit Ernst und Liebe behandelt, auch
heute noch in empfänglichen Kreisen wirken kann. Auf jeden Fall versetzen uns
diese Kompositionen lebendiger und treuer in die Gefühlsweise der Zeit als die
Texte allein. Denn daß den meisten Zeitgenossen diese Kompositionen genügt
haben, daß ihnen der Gehalt der Goethischen Lyrik darin erschöpft gewesen ist,
ist gar kein Zweifel. Natürlich müßte die Sammlung von einer gut ge-
schriebnen geschichtlichen Einleitung begleitet sein, die dem, der neu an diese
Dinge hinantritt, die nötigen Fingerzeige gäbe und das, was das thematische
Verzeichnis in trockner Statistik vorführen würde, durch biographische Mit¬
teilungen über die Komponisten und kurze, treffende, faßliche Charakteristiken
der ausgewählten Proben belebte. In dieser Einleitung müßten auch die
Komponisten behandelt sein, die den ganzen Liedersegen Goethes mit erlebt
haben, ohne nach ihm zu fragen. In größerm Umfange hat sich ja zuerst
Reichardt der Goethischen Lyrik bemächtigt. Während das erste Heft seiner
„Oden und Lieder" (1779) unter 42 Nummern noch nicht einen einzigen
Goethischen Text enthält, bringt das zweite (1780) unter 33 Nummern vier,
das dritte (1781) unter 23 Nummern elf Gvethische Texte. Den Anlaß zu
dieser raschen Wandlung hatte ohne Zweisel die Himburgsche Nachdruckausgabe
von Goethes Schriften gegeben, in deren vierten Bande (1779) zum erstenmale
die bis dahin zerstreut gedruckten Gedichte Goethes vereinigt waren. Aber
noch 1784 steht in Friedrich Wilhelm Rufes „Oden und Liedern aus den besten
deutschen Dichtern" unter 27 Liedern nur eins von Goethe, 1785 bis 1790
in den „Liedern im Volkston" von Johann Abraham Peter Schulz sogar
unter 133 nicht ein einziges Goethisches!

Freilich, die Aufgabe, eine solche Sammlung zu schaffen, ist nicht leicht.
Sie könnte nur von einem gebildeten Musiker gelöst werden, der zugleich eine
philologische Ader und eine gründliche Kenntnis der Goethelitteratur hätte,
oder umgekehrt. Und er müßte den Stoff nicht bloß vollständig übersehen,
sondern auch vollständig beisammen haben, um öfter vergleichen und auf diese
Weise richtig auswählen zu können. Dazu gehört aber jahrelanges Sammeln,
denn die Originale sind selten geworden, sind in öffentlichen und Privatsamm¬
lungen zerstreut. So manches bringt einem mir ein glücklicher Zufall, viel¬
leicht aus einem antiquarischen Katalog, einmal in die Hände.

Da hat nun die Gvethegesellschaft vor wenigen Wochen ihren Mitgliedern
eine Überraschung bereitet: als elften Band ihrer „Schriften" hat sie ihnen ein
chmuckes Folivbändchen auf den Weihnachtstisch gelegt: Gedichte von Goethe


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[0442] Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen kalisches Haushund ersten Ranges werden. Für viele der alten Lieder können wir zwar nur noch ein antiquarisches Interesse haben, aber sie alle in Bausch und Bogen mit den Worten zopfig oder veraltet abzuthun, geht doch nicht an. Auch unter deu frühesten, namentlich auch unter denen, die von halben oder ganzen Dilettanten herrühren, ist so manches, dessen schlichte musikalische Schön¬ heit niemand verkennen wird, und das, mit Ernst und Liebe behandelt, auch heute noch in empfänglichen Kreisen wirken kann. Auf jeden Fall versetzen uns diese Kompositionen lebendiger und treuer in die Gefühlsweise der Zeit als die Texte allein. Denn daß den meisten Zeitgenossen diese Kompositionen genügt haben, daß ihnen der Gehalt der Goethischen Lyrik darin erschöpft gewesen ist, ist gar kein Zweifel. Natürlich müßte die Sammlung von einer gut ge- schriebnen geschichtlichen Einleitung begleitet sein, die dem, der neu an diese Dinge hinantritt, die nötigen Fingerzeige gäbe und das, was das thematische Verzeichnis in trockner Statistik vorführen würde, durch biographische Mit¬ teilungen über die Komponisten und kurze, treffende, faßliche Charakteristiken der ausgewählten Proben belebte. In dieser Einleitung müßten auch die Komponisten behandelt sein, die den ganzen Liedersegen Goethes mit erlebt haben, ohne nach ihm zu fragen. In größerm Umfange hat sich ja zuerst Reichardt der Goethischen Lyrik bemächtigt. Während das erste Heft seiner „Oden und Lieder" (1779) unter 42 Nummern noch nicht einen einzigen Goethischen Text enthält, bringt das zweite (1780) unter 33 Nummern vier, das dritte (1781) unter 23 Nummern elf Gvethische Texte. Den Anlaß zu dieser raschen Wandlung hatte ohne Zweisel die Himburgsche Nachdruckausgabe von Goethes Schriften gegeben, in deren vierten Bande (1779) zum erstenmale die bis dahin zerstreut gedruckten Gedichte Goethes vereinigt waren. Aber noch 1784 steht in Friedrich Wilhelm Rufes „Oden und Liedern aus den besten deutschen Dichtern" unter 27 Liedern nur eins von Goethe, 1785 bis 1790 in den „Liedern im Volkston" von Johann Abraham Peter Schulz sogar unter 133 nicht ein einziges Goethisches! Freilich, die Aufgabe, eine solche Sammlung zu schaffen, ist nicht leicht. Sie könnte nur von einem gebildeten Musiker gelöst werden, der zugleich eine philologische Ader und eine gründliche Kenntnis der Goethelitteratur hätte, oder umgekehrt. Und er müßte den Stoff nicht bloß vollständig übersehen, sondern auch vollständig beisammen haben, um öfter vergleichen und auf diese Weise richtig auswählen zu können. Dazu gehört aber jahrelanges Sammeln, denn die Originale sind selten geworden, sind in öffentlichen und Privatsamm¬ lungen zerstreut. So manches bringt einem mir ein glücklicher Zufall, viel¬ leicht aus einem antiquarischen Katalog, einmal in die Hände. Da hat nun die Gvethegesellschaft vor wenigen Wochen ihren Mitgliedern eine Überraschung bereitet: als elften Band ihrer „Schriften" hat sie ihnen ein chmuckes Folivbändchen auf den Weihnachtstisch gelegt: Gedichte von Goethe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/442>, abgerufen am 18.06.2024.