Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Abgänge Hirschwälders nach Bern Professor Meßner, der humoristische
Konservator des kunsthistorischen Museums, dessen Thätigkeit für das Blatt,
wie er selber sagte, darin bestand, daß er es manchmal las, wenn er gerade
Zeit übrig hatte; die Arbeit machte seit zwei Jahren ein Herr, der nicht ge¬
nannt sein wollte, und der nun abgelöst zu werden wünschte, umsonst. Mir
kam das Anerbieten sehr gelegen. Zu den Enttäuschungen gesellte sich der
Umstand, daß mir die zunehmende Schwerhörigkeit im Religionsunterricht, bei
Krankenbesuchen und im geselligen Verkehr immer hinderlicher wurde. Das
scheußlichste für einen Schwerhörigen sind Sitzungen, besonders wenn der Vor¬
sitzende leise spricht, und man vom Inhalt der zu behandelnden Vorlagen keine
Ahnung bekommt; das ist Höllenpein. Dem jovialen Oberbürgermeister von
Liegnitz mit seinem Volksrednerbierbaß hatte ich immer jedes Wort verstanden,
und auch den Konstanzer später verstand ich so ziemlich, aber dem Vorsitzenden
der Schuldeputation in Offenburg -- es war nicht der Bürgermeister -- ver¬
stand ich selten ein Wort, obgleich ich mich immer neben ihn setzte. Und diese
Schuldeputation verdarb mirs auch bei den Schülern. Anfänglich ging mit
denen alles ganz prächtig. Ich bediente mich des Kunstgriffs, den ich schon
als Gymnasiast unserm ebenfalls etwas schwerhöriger Direktor abgelernt hatte:
wenn ich die Antwort des Schülers uicht oder uicht vollständig verstanden
hatte, sagte ich: gut, und wiederholte die Antwort. Einmal nun, als ich der
obern Abteilung der Gymnasiasten vortrug, stand einer auf und sagte etwas,
was ich auch nach mehrmaliger lauterer Wiederholung nicht verstand. Die
Jungen fingen an zu kichern, endlich öffnete sich die Thür -- sie hatten
gemeldet, daß es klopfe --, und der Ratsdiener trat ein, den ich wieder nicht
verstand: er lud mich zu einer Sitzung ein. Von da ab kannten die Jungen
den Grad meiner Taubheit und nutzten natürlich meine Schwäche ans, und da
wurde der Unterricht ungemütlich. Der Übergang zur Publizistik war unter
diesen Umständen der natürlichste Ausweg, an den ich schou einigemal gedacht
hatte. Die Offenburger wollten davon nichts wissen; sie meinten, man brauche
ja nur recht streng mit "dene Bube" zu Verfahren, und was dergleichen Redens¬
arten Unsachverständiger mehr sind, aber das machte keinen Eindruck auf mich.
So kam es denn zum Abschied, und bei dem gings so großartig und rührend
zu, daß ich beinahe weich geworden wäre und den Münchnern abgeschrieben
hätte. Sonnabend Abend (es war Anfang Januar 1877) wurde der Abschied
gefeiert, Sonntag die Abschiedsprcdigt gehalten, und daun geleiteten mich die
Männer der Gemeinde vollzählig auf deu Bahnsteig, wo sie sich in Front auf¬
stellten und mir bei der Abfahrt ein Hoch ausbrachten. Vorher war einer
noch einmal an das Wagenfenster herangetreten und hatte gesagt: Wie würf,
wenn Sie wieder ausstiegen und blieben bei uns?

Zunächst fuhr ich nach Heidelberg, deun Riecks hatte mich dringend ge¬
beten, ihn auf der Fahrt nach München zu besuchen. Ich hatte nur einen


dem Abgänge Hirschwälders nach Bern Professor Meßner, der humoristische
Konservator des kunsthistorischen Museums, dessen Thätigkeit für das Blatt,
wie er selber sagte, darin bestand, daß er es manchmal las, wenn er gerade
Zeit übrig hatte; die Arbeit machte seit zwei Jahren ein Herr, der nicht ge¬
nannt sein wollte, und der nun abgelöst zu werden wünschte, umsonst. Mir
kam das Anerbieten sehr gelegen. Zu den Enttäuschungen gesellte sich der
Umstand, daß mir die zunehmende Schwerhörigkeit im Religionsunterricht, bei
Krankenbesuchen und im geselligen Verkehr immer hinderlicher wurde. Das
scheußlichste für einen Schwerhörigen sind Sitzungen, besonders wenn der Vor¬
sitzende leise spricht, und man vom Inhalt der zu behandelnden Vorlagen keine
Ahnung bekommt; das ist Höllenpein. Dem jovialen Oberbürgermeister von
Liegnitz mit seinem Volksrednerbierbaß hatte ich immer jedes Wort verstanden,
und auch den Konstanzer später verstand ich so ziemlich, aber dem Vorsitzenden
der Schuldeputation in Offenburg — es war nicht der Bürgermeister — ver¬
stand ich selten ein Wort, obgleich ich mich immer neben ihn setzte. Und diese
Schuldeputation verdarb mirs auch bei den Schülern. Anfänglich ging mit
denen alles ganz prächtig. Ich bediente mich des Kunstgriffs, den ich schon
als Gymnasiast unserm ebenfalls etwas schwerhöriger Direktor abgelernt hatte:
wenn ich die Antwort des Schülers uicht oder uicht vollständig verstanden
hatte, sagte ich: gut, und wiederholte die Antwort. Einmal nun, als ich der
obern Abteilung der Gymnasiasten vortrug, stand einer auf und sagte etwas,
was ich auch nach mehrmaliger lauterer Wiederholung nicht verstand. Die
Jungen fingen an zu kichern, endlich öffnete sich die Thür — sie hatten
gemeldet, daß es klopfe —, und der Ratsdiener trat ein, den ich wieder nicht
verstand: er lud mich zu einer Sitzung ein. Von da ab kannten die Jungen
den Grad meiner Taubheit und nutzten natürlich meine Schwäche ans, und da
wurde der Unterricht ungemütlich. Der Übergang zur Publizistik war unter
diesen Umständen der natürlichste Ausweg, an den ich schou einigemal gedacht
hatte. Die Offenburger wollten davon nichts wissen; sie meinten, man brauche
ja nur recht streng mit „dene Bube" zu Verfahren, und was dergleichen Redens¬
arten Unsachverständiger mehr sind, aber das machte keinen Eindruck auf mich.
So kam es denn zum Abschied, und bei dem gings so großartig und rührend
zu, daß ich beinahe weich geworden wäre und den Münchnern abgeschrieben
hätte. Sonnabend Abend (es war Anfang Januar 1877) wurde der Abschied
gefeiert, Sonntag die Abschiedsprcdigt gehalten, und daun geleiteten mich die
Männer der Gemeinde vollzählig auf deu Bahnsteig, wo sie sich in Front auf¬
stellten und mir bei der Abfahrt ein Hoch ausbrachten. Vorher war einer
noch einmal an das Wagenfenster herangetreten und hatte gesagt: Wie würf,
wenn Sie wieder ausstiegen und blieben bei uns?

Zunächst fuhr ich nach Heidelberg, deun Riecks hatte mich dringend ge¬
beten, ihn auf der Fahrt nach München zu besuchen. Ich hatte nur einen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0398" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224644"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1176" prev="#ID_1175"> dem Abgänge Hirschwälders nach Bern Professor Meßner, der humoristische<lb/>
Konservator des kunsthistorischen Museums, dessen Thätigkeit für das Blatt,<lb/>
wie er selber sagte, darin bestand, daß er es manchmal las, wenn er gerade<lb/>
Zeit übrig hatte; die Arbeit machte seit zwei Jahren ein Herr, der nicht ge¬<lb/>
nannt sein wollte, und der nun abgelöst zu werden wünschte, umsonst. Mir<lb/>
kam das Anerbieten sehr gelegen. Zu den Enttäuschungen gesellte sich der<lb/>
Umstand, daß mir die zunehmende Schwerhörigkeit im Religionsunterricht, bei<lb/>
Krankenbesuchen und im geselligen Verkehr immer hinderlicher wurde. Das<lb/>
scheußlichste für einen Schwerhörigen sind Sitzungen, besonders wenn der Vor¬<lb/>
sitzende leise spricht, und man vom Inhalt der zu behandelnden Vorlagen keine<lb/>
Ahnung bekommt; das ist Höllenpein. Dem jovialen Oberbürgermeister von<lb/>
Liegnitz mit seinem Volksrednerbierbaß hatte ich immer jedes Wort verstanden,<lb/>
und auch den Konstanzer später verstand ich so ziemlich, aber dem Vorsitzenden<lb/>
der Schuldeputation in Offenburg &#x2014; es war nicht der Bürgermeister &#x2014; ver¬<lb/>
stand ich selten ein Wort, obgleich ich mich immer neben ihn setzte. Und diese<lb/>
Schuldeputation verdarb mirs auch bei den Schülern. Anfänglich ging mit<lb/>
denen alles ganz prächtig. Ich bediente mich des Kunstgriffs, den ich schon<lb/>
als Gymnasiast unserm ebenfalls etwas schwerhöriger Direktor abgelernt hatte:<lb/>
wenn ich die Antwort des Schülers uicht oder uicht vollständig verstanden<lb/>
hatte, sagte ich: gut, und wiederholte die Antwort. Einmal nun, als ich der<lb/>
obern Abteilung der Gymnasiasten vortrug, stand einer auf und sagte etwas,<lb/>
was ich auch nach mehrmaliger lauterer Wiederholung nicht verstand. Die<lb/>
Jungen fingen an zu kichern, endlich öffnete sich die Thür &#x2014; sie hatten<lb/>
gemeldet, daß es klopfe &#x2014;, und der Ratsdiener trat ein, den ich wieder nicht<lb/>
verstand: er lud mich zu einer Sitzung ein. Von da ab kannten die Jungen<lb/>
den Grad meiner Taubheit und nutzten natürlich meine Schwäche ans, und da<lb/>
wurde der Unterricht ungemütlich. Der Übergang zur Publizistik war unter<lb/>
diesen Umständen der natürlichste Ausweg, an den ich schou einigemal gedacht<lb/>
hatte. Die Offenburger wollten davon nichts wissen; sie meinten, man brauche<lb/>
ja nur recht streng mit &#x201E;dene Bube" zu Verfahren, und was dergleichen Redens¬<lb/>
arten Unsachverständiger mehr sind, aber das machte keinen Eindruck auf mich.<lb/>
So kam es denn zum Abschied, und bei dem gings so großartig und rührend<lb/>
zu, daß ich beinahe weich geworden wäre und den Münchnern abgeschrieben<lb/>
hätte. Sonnabend Abend (es war Anfang Januar 1877) wurde der Abschied<lb/>
gefeiert, Sonntag die Abschiedsprcdigt gehalten, und daun geleiteten mich die<lb/>
Männer der Gemeinde vollzählig auf deu Bahnsteig, wo sie sich in Front auf¬<lb/>
stellten und mir bei der Abfahrt ein Hoch ausbrachten. Vorher war einer<lb/>
noch einmal an das Wagenfenster herangetreten und hatte gesagt: Wie würf,<lb/>
wenn Sie wieder ausstiegen und blieben bei uns?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1177" next="#ID_1178"> Zunächst fuhr ich nach Heidelberg, deun Riecks hatte mich dringend ge¬<lb/>
beten, ihn auf der Fahrt nach München zu besuchen.  Ich hatte nur einen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0398] dem Abgänge Hirschwälders nach Bern Professor Meßner, der humoristische Konservator des kunsthistorischen Museums, dessen Thätigkeit für das Blatt, wie er selber sagte, darin bestand, daß er es manchmal las, wenn er gerade Zeit übrig hatte; die Arbeit machte seit zwei Jahren ein Herr, der nicht ge¬ nannt sein wollte, und der nun abgelöst zu werden wünschte, umsonst. Mir kam das Anerbieten sehr gelegen. Zu den Enttäuschungen gesellte sich der Umstand, daß mir die zunehmende Schwerhörigkeit im Religionsunterricht, bei Krankenbesuchen und im geselligen Verkehr immer hinderlicher wurde. Das scheußlichste für einen Schwerhörigen sind Sitzungen, besonders wenn der Vor¬ sitzende leise spricht, und man vom Inhalt der zu behandelnden Vorlagen keine Ahnung bekommt; das ist Höllenpein. Dem jovialen Oberbürgermeister von Liegnitz mit seinem Volksrednerbierbaß hatte ich immer jedes Wort verstanden, und auch den Konstanzer später verstand ich so ziemlich, aber dem Vorsitzenden der Schuldeputation in Offenburg — es war nicht der Bürgermeister — ver¬ stand ich selten ein Wort, obgleich ich mich immer neben ihn setzte. Und diese Schuldeputation verdarb mirs auch bei den Schülern. Anfänglich ging mit denen alles ganz prächtig. Ich bediente mich des Kunstgriffs, den ich schon als Gymnasiast unserm ebenfalls etwas schwerhöriger Direktor abgelernt hatte: wenn ich die Antwort des Schülers uicht oder uicht vollständig verstanden hatte, sagte ich: gut, und wiederholte die Antwort. Einmal nun, als ich der obern Abteilung der Gymnasiasten vortrug, stand einer auf und sagte etwas, was ich auch nach mehrmaliger lauterer Wiederholung nicht verstand. Die Jungen fingen an zu kichern, endlich öffnete sich die Thür — sie hatten gemeldet, daß es klopfe —, und der Ratsdiener trat ein, den ich wieder nicht verstand: er lud mich zu einer Sitzung ein. Von da ab kannten die Jungen den Grad meiner Taubheit und nutzten natürlich meine Schwäche ans, und da wurde der Unterricht ungemütlich. Der Übergang zur Publizistik war unter diesen Umständen der natürlichste Ausweg, an den ich schou einigemal gedacht hatte. Die Offenburger wollten davon nichts wissen; sie meinten, man brauche ja nur recht streng mit „dene Bube" zu Verfahren, und was dergleichen Redens¬ arten Unsachverständiger mehr sind, aber das machte keinen Eindruck auf mich. So kam es denn zum Abschied, und bei dem gings so großartig und rührend zu, daß ich beinahe weich geworden wäre und den Münchnern abgeschrieben hätte. Sonnabend Abend (es war Anfang Januar 1877) wurde der Abschied gefeiert, Sonntag die Abschiedsprcdigt gehalten, und daun geleiteten mich die Männer der Gemeinde vollzählig auf deu Bahnsteig, wo sie sich in Front auf¬ stellten und mir bei der Abfahrt ein Hoch ausbrachten. Vorher war einer noch einmal an das Wagenfenster herangetreten und hatte gesagt: Wie würf, wenn Sie wieder ausstiegen und blieben bei uns? Zunächst fuhr ich nach Heidelberg, deun Riecks hatte mich dringend ge¬ beten, ihn auf der Fahrt nach München zu besuchen. Ich hatte nur einen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/398
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/398>, abgerufen am 26.06.2024.