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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Diktaturparagraph und das Sozialisteugesetz

schlossen arbeitende. Auch büreaukratische Vertuschung hat ihr geholfen, die,
wie es scheint, nicht einmal das Spitzeltum niederzuhalten vermochte. Die
besten Dienste leistete doch der sozialdemokratischen Sache unser französisch ge¬
färbter Freiheitsbegriff, der jeden Augenblick nach der Polizei ruft, aber immer
gegen sie Partei nimmt, den Regen herabfleht, aber schilt, wenn er naß macht.
Der Erfolg, daß neue Attentate nicht vorkamen, wurde nicht dem Sozialisteu¬
gesetz, sondern der "Disziplin" der Sozialdemokratie zugeschrieben. Die so
schlössen, bedachten nicht, daß dann auch die nicht zu leugnenden frühern
Attentate der Sozialdemokratie aufs Schuldkonto zu setzen seien; sie hätten noch
schlimmere Verstöße gegen die Folgerichtigkeit begehen können, denn alle Er¬
wägungen wurden im weitern Verlauf der Entwicklung durch eine Thatsache
überflügelt: die Sozialdemokratie, die immerhin ein Ideal hat, wenn auch ein
falsches und gefährliches, hatte ihre Anhänger mit Begeisterung, Opfermut und
Ausdauer erfüllt und gewann dadurch immer weitere Wahlsiege. Für die
andern Parteien waren das ebensoviele Niederlagen, es wurde ihnen um den
Hauptzweck ihres Daseins, um ihre parlamentarische Machtstellung bange, und
selbst die erst widerstrebenden wurden immer mehr geneigt, das unpopuläre
Gesetz preiszugeben; ist doch auch uach dem konstitutionellen Katechismus nur
die Regierung, nicht die "Volksvertretung" dazu berufen, für Ordnung und
öffentliche Sicherheit zu sorgen. Schließlich wurde der Gemeinplatz, daß
geistige Kämpfe nur mit geistigen Waffen zu führen sind, zum Stichwort, eine
Erneuerung des Gesetzes war nicht mehr zu erreichen. Zur Niederlage trug
im letzten Augenblick noch bei, daß die Frage des internationalen Arbeiter¬
schutzes die Kräfte spaltete, die für die weitere Bewilligung des Gesetzes zur
Verfügung geblieben waren. Man kann annehmen, daß diese Kräfte, ver¬
einigt, Aussicht gehabt hätten, eine allgemeine Ermächtigung, wie sie der
reichsländische Diktaturparagraph enthält, aus dem Schiffbruch zu retten, wenn
sie auch durch einige Beschränkungen abgeschwächt worden wäre. Diese all¬
gemeine Ermächtigung, gleich in die erste Vorlage aufgenommen, als Hilfs¬
bestimmung und zur Klärung des leitenden Gedankens, hätte diesen wohl
niemals so vollständig überwuchern und verkümmern lassen.

Seit dem Fall des Sozialistengesetzes ist das Staatsnotrecht für das
innere Staatsleben wieder geworden, was es vorher war: eine nur wenigen
bekannte, wenn auch rechtlich feststehende Vernunftwahrheit. Dieser Lebensfaden
reißt ja nie ganz und nie für immer ab, aber dem Handeln giebt er nur einen
schwachen Halt. Es wäre kein Rechtsbruch, kein Staatsstreich, wenn ein
kühner Staatsmann darnach griffe und daraus gegen die Revolution, sei sie
sozialdemokratischen oder sonstigen Ursprungs, umfassende und nachdrückliche
Vollmachten ableitete und anwendete, aber von den meisten würde es doch als
Rechtsbruch empfunden werden, was politisch fast ebenso schlimm ist wie der
Rechtsbruch selber. Noch schlimmer ist, daß die rettende That zwar zunächst


Der Diktaturparagraph und das Sozialisteugesetz

schlossen arbeitende. Auch büreaukratische Vertuschung hat ihr geholfen, die,
wie es scheint, nicht einmal das Spitzeltum niederzuhalten vermochte. Die
besten Dienste leistete doch der sozialdemokratischen Sache unser französisch ge¬
färbter Freiheitsbegriff, der jeden Augenblick nach der Polizei ruft, aber immer
gegen sie Partei nimmt, den Regen herabfleht, aber schilt, wenn er naß macht.
Der Erfolg, daß neue Attentate nicht vorkamen, wurde nicht dem Sozialisteu¬
gesetz, sondern der „Disziplin" der Sozialdemokratie zugeschrieben. Die so
schlössen, bedachten nicht, daß dann auch die nicht zu leugnenden frühern
Attentate der Sozialdemokratie aufs Schuldkonto zu setzen seien; sie hätten noch
schlimmere Verstöße gegen die Folgerichtigkeit begehen können, denn alle Er¬
wägungen wurden im weitern Verlauf der Entwicklung durch eine Thatsache
überflügelt: die Sozialdemokratie, die immerhin ein Ideal hat, wenn auch ein
falsches und gefährliches, hatte ihre Anhänger mit Begeisterung, Opfermut und
Ausdauer erfüllt und gewann dadurch immer weitere Wahlsiege. Für die
andern Parteien waren das ebensoviele Niederlagen, es wurde ihnen um den
Hauptzweck ihres Daseins, um ihre parlamentarische Machtstellung bange, und
selbst die erst widerstrebenden wurden immer mehr geneigt, das unpopuläre
Gesetz preiszugeben; ist doch auch uach dem konstitutionellen Katechismus nur
die Regierung, nicht die „Volksvertretung" dazu berufen, für Ordnung und
öffentliche Sicherheit zu sorgen. Schließlich wurde der Gemeinplatz, daß
geistige Kämpfe nur mit geistigen Waffen zu führen sind, zum Stichwort, eine
Erneuerung des Gesetzes war nicht mehr zu erreichen. Zur Niederlage trug
im letzten Augenblick noch bei, daß die Frage des internationalen Arbeiter¬
schutzes die Kräfte spaltete, die für die weitere Bewilligung des Gesetzes zur
Verfügung geblieben waren. Man kann annehmen, daß diese Kräfte, ver¬
einigt, Aussicht gehabt hätten, eine allgemeine Ermächtigung, wie sie der
reichsländische Diktaturparagraph enthält, aus dem Schiffbruch zu retten, wenn
sie auch durch einige Beschränkungen abgeschwächt worden wäre. Diese all¬
gemeine Ermächtigung, gleich in die erste Vorlage aufgenommen, als Hilfs¬
bestimmung und zur Klärung des leitenden Gedankens, hätte diesen wohl
niemals so vollständig überwuchern und verkümmern lassen.

Seit dem Fall des Sozialistengesetzes ist das Staatsnotrecht für das
innere Staatsleben wieder geworden, was es vorher war: eine nur wenigen
bekannte, wenn auch rechtlich feststehende Vernunftwahrheit. Dieser Lebensfaden
reißt ja nie ganz und nie für immer ab, aber dem Handeln giebt er nur einen
schwachen Halt. Es wäre kein Rechtsbruch, kein Staatsstreich, wenn ein
kühner Staatsmann darnach griffe und daraus gegen die Revolution, sei sie
sozialdemokratischen oder sonstigen Ursprungs, umfassende und nachdrückliche
Vollmachten ableitete und anwendete, aber von den meisten würde es doch als
Rechtsbruch empfunden werden, was politisch fast ebenso schlimm ist wie der
Rechtsbruch selber. Noch schlimmer ist, daß die rettende That zwar zunächst


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[0384] Der Diktaturparagraph und das Sozialisteugesetz schlossen arbeitende. Auch büreaukratische Vertuschung hat ihr geholfen, die, wie es scheint, nicht einmal das Spitzeltum niederzuhalten vermochte. Die besten Dienste leistete doch der sozialdemokratischen Sache unser französisch ge¬ färbter Freiheitsbegriff, der jeden Augenblick nach der Polizei ruft, aber immer gegen sie Partei nimmt, den Regen herabfleht, aber schilt, wenn er naß macht. Der Erfolg, daß neue Attentate nicht vorkamen, wurde nicht dem Sozialisteu¬ gesetz, sondern der „Disziplin" der Sozialdemokratie zugeschrieben. Die so schlössen, bedachten nicht, daß dann auch die nicht zu leugnenden frühern Attentate der Sozialdemokratie aufs Schuldkonto zu setzen seien; sie hätten noch schlimmere Verstöße gegen die Folgerichtigkeit begehen können, denn alle Er¬ wägungen wurden im weitern Verlauf der Entwicklung durch eine Thatsache überflügelt: die Sozialdemokratie, die immerhin ein Ideal hat, wenn auch ein falsches und gefährliches, hatte ihre Anhänger mit Begeisterung, Opfermut und Ausdauer erfüllt und gewann dadurch immer weitere Wahlsiege. Für die andern Parteien waren das ebensoviele Niederlagen, es wurde ihnen um den Hauptzweck ihres Daseins, um ihre parlamentarische Machtstellung bange, und selbst die erst widerstrebenden wurden immer mehr geneigt, das unpopuläre Gesetz preiszugeben; ist doch auch uach dem konstitutionellen Katechismus nur die Regierung, nicht die „Volksvertretung" dazu berufen, für Ordnung und öffentliche Sicherheit zu sorgen. Schließlich wurde der Gemeinplatz, daß geistige Kämpfe nur mit geistigen Waffen zu führen sind, zum Stichwort, eine Erneuerung des Gesetzes war nicht mehr zu erreichen. Zur Niederlage trug im letzten Augenblick noch bei, daß die Frage des internationalen Arbeiter¬ schutzes die Kräfte spaltete, die für die weitere Bewilligung des Gesetzes zur Verfügung geblieben waren. Man kann annehmen, daß diese Kräfte, ver¬ einigt, Aussicht gehabt hätten, eine allgemeine Ermächtigung, wie sie der reichsländische Diktaturparagraph enthält, aus dem Schiffbruch zu retten, wenn sie auch durch einige Beschränkungen abgeschwächt worden wäre. Diese all¬ gemeine Ermächtigung, gleich in die erste Vorlage aufgenommen, als Hilfs¬ bestimmung und zur Klärung des leitenden Gedankens, hätte diesen wohl niemals so vollständig überwuchern und verkümmern lassen. Seit dem Fall des Sozialistengesetzes ist das Staatsnotrecht für das innere Staatsleben wieder geworden, was es vorher war: eine nur wenigen bekannte, wenn auch rechtlich feststehende Vernunftwahrheit. Dieser Lebensfaden reißt ja nie ganz und nie für immer ab, aber dem Handeln giebt er nur einen schwachen Halt. Es wäre kein Rechtsbruch, kein Staatsstreich, wenn ein kühner Staatsmann darnach griffe und daraus gegen die Revolution, sei sie sozialdemokratischen oder sonstigen Ursprungs, umfassende und nachdrückliche Vollmachten ableitete und anwendete, aber von den meisten würde es doch als Rechtsbruch empfunden werden, was politisch fast ebenso schlimm ist wie der Rechtsbruch selber. Noch schlimmer ist, daß die rettende That zwar zunächst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/384>, abgerufen am 18.06.2024.