Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
John Gabriel Borkman

gangen! Du hast das Liebesleben in mir getötet. Verstehst du, was das
heißt? Die Bibel redet von einer geheimnisvollen Sünde, für die es keine
Vergebung giebt. Ich habe früher nie begriffen, was damit gemeint war.
Jetzt begreife ich es. Die große, unverzeihbare Sünde, das ist die Sünde,
die man begeht, wenn man das Liebesleben tötet in einem Menschen."

Man sieht: die Maulwürfe sind wacker bei der Arbeit. Jetzt wird auch
die Bibel herangezogen, um die "Sünde wider den heiligen Geist" nach der
Richtung des sexuellen Problems umzudeuten, wie die "Modernen" so schön
zu sagen Pflegen, wenn sie ihre Erotika bemänteln wollen. Wir wollen damit
nicht sagen, daß Ibsen etwa die Sinnlichkeit unpassend oder ungebührlich
in den Vordergrund rücke. Das ist seine Art nicht. Er begnügt sich meist
mit halben Andeutungen, denn er weiß, daß ihn seine Leute auch so ver¬
stehen. Aber die Sache bleibt dieselbe. Ibsen hat nnn alles zusammen, was
er braucht: drei gebrochne Menschen, die bis auf den Tod getroffen sind, ohne
daß eigentlich einem geradezu eine Schuld nachzuweisen ist. Wenigstens glaubt
jeder von ihnen an seine Schuldlosigkeit. In dieser billigen Sophisterei, die sich
wie der rote Faden durch alle Schauspiele Ibsens hindurchzieht, liegt vielleicht
zum großen Teile das Geheimnis des geräuschvollen Erfolgs, der ihnen von
schwachen Wesen, die solcher Krücken bedürfen, bereitet wird. Diese lockre
Moral ist aber der großen Masse des deutschen Volkes immer noch fremd,
und so lauge sie ihm fremd bleibt, find wir um seine Zukunft nicht bange.
Ab und zu ist es aber nützlich, einmal die Fäden blvßzulegen, mit denen der
kluge Norweger seine Marionetten auf und vor der Bühne lenkt.

Mit der kühnen Bibelauslcguug des Fräulein Ella Neutheim hat übrigens
Ibsen seinen höchsten Trumpf ausgespielt. Was noch weiter folgt, schlägt aus
dem bürgerlichen Trauerspiel in die Tragikomödie über: die verwegne Lustreise
des lockern Studenten, bei der noch der Vater des entführten Mädchens, ein
armer Kanzleischreiber, im doppelten Sinne des Wortes unter den Schlitten
gerät, und das Ende des Bankdirektors, der auf der Suche nach dem entflohenen
Sohne in der Winternacht erfriert, nachdem er noch vorher sich, die arme Ella
und die armen Zuhörer mit einer abermaligen Entfaltung seiner mißglückter
Weltbcglückungspläne behelligt hat.

Es ist nicht das erstemal, daß die großen Bühnenerfolge in internatio¬
nalen "Weltstädten" wie Berlin und Frankfurt keineswegs die nachträgliche
Sanktion der einfältigen Leute im übrigen Reich gefunden haben. Wir sind auch
diesmal der festen Zuversicht, daß sich die Mehrheit des deutschen Volks für
diese Sorte von Idealismus bedanken wird.




Grenzboten I 189745
John Gabriel Borkman

gangen! Du hast das Liebesleben in mir getötet. Verstehst du, was das
heißt? Die Bibel redet von einer geheimnisvollen Sünde, für die es keine
Vergebung giebt. Ich habe früher nie begriffen, was damit gemeint war.
Jetzt begreife ich es. Die große, unverzeihbare Sünde, das ist die Sünde,
die man begeht, wenn man das Liebesleben tötet in einem Menschen."

Man sieht: die Maulwürfe sind wacker bei der Arbeit. Jetzt wird auch
die Bibel herangezogen, um die „Sünde wider den heiligen Geist" nach der
Richtung des sexuellen Problems umzudeuten, wie die „Modernen" so schön
zu sagen Pflegen, wenn sie ihre Erotika bemänteln wollen. Wir wollen damit
nicht sagen, daß Ibsen etwa die Sinnlichkeit unpassend oder ungebührlich
in den Vordergrund rücke. Das ist seine Art nicht. Er begnügt sich meist
mit halben Andeutungen, denn er weiß, daß ihn seine Leute auch so ver¬
stehen. Aber die Sache bleibt dieselbe. Ibsen hat nnn alles zusammen, was
er braucht: drei gebrochne Menschen, die bis auf den Tod getroffen sind, ohne
daß eigentlich einem geradezu eine Schuld nachzuweisen ist. Wenigstens glaubt
jeder von ihnen an seine Schuldlosigkeit. In dieser billigen Sophisterei, die sich
wie der rote Faden durch alle Schauspiele Ibsens hindurchzieht, liegt vielleicht
zum großen Teile das Geheimnis des geräuschvollen Erfolgs, der ihnen von
schwachen Wesen, die solcher Krücken bedürfen, bereitet wird. Diese lockre
Moral ist aber der großen Masse des deutschen Volkes immer noch fremd,
und so lauge sie ihm fremd bleibt, find wir um seine Zukunft nicht bange.
Ab und zu ist es aber nützlich, einmal die Fäden blvßzulegen, mit denen der
kluge Norweger seine Marionetten auf und vor der Bühne lenkt.

Mit der kühnen Bibelauslcguug des Fräulein Ella Neutheim hat übrigens
Ibsen seinen höchsten Trumpf ausgespielt. Was noch weiter folgt, schlägt aus
dem bürgerlichen Trauerspiel in die Tragikomödie über: die verwegne Lustreise
des lockern Studenten, bei der noch der Vater des entführten Mädchens, ein
armer Kanzleischreiber, im doppelten Sinne des Wortes unter den Schlitten
gerät, und das Ende des Bankdirektors, der auf der Suche nach dem entflohenen
Sohne in der Winternacht erfriert, nachdem er noch vorher sich, die arme Ella
und die armen Zuhörer mit einer abermaligen Entfaltung seiner mißglückter
Weltbcglückungspläne behelligt hat.

Es ist nicht das erstemal, daß die großen Bühnenerfolge in internatio¬
nalen „Weltstädten" wie Berlin und Frankfurt keineswegs die nachträgliche
Sanktion der einfältigen Leute im übrigen Reich gefunden haben. Wir sind auch
diesmal der festen Zuversicht, daß sich die Mehrheit des deutschen Volks für
diese Sorte von Idealismus bedanken wird.




Grenzboten I 189745
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0361" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224607"/>
          <fw type="header" place="top"> John Gabriel Borkman</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1057" prev="#ID_1056"> gangen! Du hast das Liebesleben in mir getötet. Verstehst du, was das<lb/>
heißt? Die Bibel redet von einer geheimnisvollen Sünde, für die es keine<lb/>
Vergebung giebt. Ich habe früher nie begriffen, was damit gemeint war.<lb/>
Jetzt begreife ich es. Die große, unverzeihbare Sünde, das ist die Sünde,<lb/>
die man begeht, wenn man das Liebesleben tötet in einem Menschen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1058"> Man sieht: die Maulwürfe sind wacker bei der Arbeit. Jetzt wird auch<lb/>
die Bibel herangezogen, um die &#x201E;Sünde wider den heiligen Geist" nach der<lb/>
Richtung des sexuellen Problems umzudeuten, wie die &#x201E;Modernen" so schön<lb/>
zu sagen Pflegen, wenn sie ihre Erotika bemänteln wollen. Wir wollen damit<lb/>
nicht sagen, daß Ibsen etwa die Sinnlichkeit unpassend oder ungebührlich<lb/>
in den Vordergrund rücke. Das ist seine Art nicht. Er begnügt sich meist<lb/>
mit halben Andeutungen, denn er weiß, daß ihn seine Leute auch so ver¬<lb/>
stehen. Aber die Sache bleibt dieselbe. Ibsen hat nnn alles zusammen, was<lb/>
er braucht: drei gebrochne Menschen, die bis auf den Tod getroffen sind, ohne<lb/>
daß eigentlich einem geradezu eine Schuld nachzuweisen ist. Wenigstens glaubt<lb/>
jeder von ihnen an seine Schuldlosigkeit. In dieser billigen Sophisterei, die sich<lb/>
wie der rote Faden durch alle Schauspiele Ibsens hindurchzieht, liegt vielleicht<lb/>
zum großen Teile das Geheimnis des geräuschvollen Erfolgs, der ihnen von<lb/>
schwachen Wesen, die solcher Krücken bedürfen, bereitet wird. Diese lockre<lb/>
Moral ist aber der großen Masse des deutschen Volkes immer noch fremd,<lb/>
und so lauge sie ihm fremd bleibt, find wir um seine Zukunft nicht bange.<lb/>
Ab und zu ist es aber nützlich, einmal die Fäden blvßzulegen, mit denen der<lb/>
kluge Norweger seine Marionetten auf und vor der Bühne lenkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1059"> Mit der kühnen Bibelauslcguug des Fräulein Ella Neutheim hat übrigens<lb/>
Ibsen seinen höchsten Trumpf ausgespielt. Was noch weiter folgt, schlägt aus<lb/>
dem bürgerlichen Trauerspiel in die Tragikomödie über: die verwegne Lustreise<lb/>
des lockern Studenten, bei der noch der Vater des entführten Mädchens, ein<lb/>
armer Kanzleischreiber, im doppelten Sinne des Wortes unter den Schlitten<lb/>
gerät, und das Ende des Bankdirektors, der auf der Suche nach dem entflohenen<lb/>
Sohne in der Winternacht erfriert, nachdem er noch vorher sich, die arme Ella<lb/>
und die armen Zuhörer mit einer abermaligen Entfaltung seiner mißglückter<lb/>
Weltbcglückungspläne behelligt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1060"> Es ist nicht das erstemal, daß die großen Bühnenerfolge in internatio¬<lb/>
nalen &#x201E;Weltstädten" wie Berlin und Frankfurt keineswegs die nachträgliche<lb/>
Sanktion der einfältigen Leute im übrigen Reich gefunden haben. Wir sind auch<lb/>
diesmal der festen Zuversicht, daß sich die Mehrheit des deutschen Volks für<lb/>
diese Sorte von Idealismus bedanken wird.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 189745</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0361] John Gabriel Borkman gangen! Du hast das Liebesleben in mir getötet. Verstehst du, was das heißt? Die Bibel redet von einer geheimnisvollen Sünde, für die es keine Vergebung giebt. Ich habe früher nie begriffen, was damit gemeint war. Jetzt begreife ich es. Die große, unverzeihbare Sünde, das ist die Sünde, die man begeht, wenn man das Liebesleben tötet in einem Menschen." Man sieht: die Maulwürfe sind wacker bei der Arbeit. Jetzt wird auch die Bibel herangezogen, um die „Sünde wider den heiligen Geist" nach der Richtung des sexuellen Problems umzudeuten, wie die „Modernen" so schön zu sagen Pflegen, wenn sie ihre Erotika bemänteln wollen. Wir wollen damit nicht sagen, daß Ibsen etwa die Sinnlichkeit unpassend oder ungebührlich in den Vordergrund rücke. Das ist seine Art nicht. Er begnügt sich meist mit halben Andeutungen, denn er weiß, daß ihn seine Leute auch so ver¬ stehen. Aber die Sache bleibt dieselbe. Ibsen hat nnn alles zusammen, was er braucht: drei gebrochne Menschen, die bis auf den Tod getroffen sind, ohne daß eigentlich einem geradezu eine Schuld nachzuweisen ist. Wenigstens glaubt jeder von ihnen an seine Schuldlosigkeit. In dieser billigen Sophisterei, die sich wie der rote Faden durch alle Schauspiele Ibsens hindurchzieht, liegt vielleicht zum großen Teile das Geheimnis des geräuschvollen Erfolgs, der ihnen von schwachen Wesen, die solcher Krücken bedürfen, bereitet wird. Diese lockre Moral ist aber der großen Masse des deutschen Volkes immer noch fremd, und so lauge sie ihm fremd bleibt, find wir um seine Zukunft nicht bange. Ab und zu ist es aber nützlich, einmal die Fäden blvßzulegen, mit denen der kluge Norweger seine Marionetten auf und vor der Bühne lenkt. Mit der kühnen Bibelauslcguug des Fräulein Ella Neutheim hat übrigens Ibsen seinen höchsten Trumpf ausgespielt. Was noch weiter folgt, schlägt aus dem bürgerlichen Trauerspiel in die Tragikomödie über: die verwegne Lustreise des lockern Studenten, bei der noch der Vater des entführten Mädchens, ein armer Kanzleischreiber, im doppelten Sinne des Wortes unter den Schlitten gerät, und das Ende des Bankdirektors, der auf der Suche nach dem entflohenen Sohne in der Winternacht erfriert, nachdem er noch vorher sich, die arme Ella und die armen Zuhörer mit einer abermaligen Entfaltung seiner mißglückter Weltbcglückungspläne behelligt hat. Es ist nicht das erstemal, daß die großen Bühnenerfolge in internatio¬ nalen „Weltstädten" wie Berlin und Frankfurt keineswegs die nachträgliche Sanktion der einfältigen Leute im übrigen Reich gefunden haben. Wir sind auch diesmal der festen Zuversicht, daß sich die Mehrheit des deutschen Volks für diese Sorte von Idealismus bedanken wird. Grenzboten I 189745

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/361
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/361>, abgerufen am 26.06.2024.