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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Das schlimme Aarlchen

letzten Sommerfrische kurz vor seinem Tode sollen die Bewohner des einsamen
Alpcnthales mit geheimem Grauen hinter dem herkulisch gebauten Fremden mit
der weißen Haarmähne her geflüstert haben: v'sse 1s mousisur <mi g. hev sni-
xsrsur xsnäant trois ^jours. Ihm kam es zeitlebens, auch als Schriftsteller,
mehr auf die Form und die Wirkung seiner Mitteilungen an, als auf die That¬
sachen, aus denen er sie sich zufällig zusammensetzen mußte, und dieser für
einen Lehrer oder Hörer immer angenehmen Mitte zwischen Wahrheit und
Dichtung verdanken wir es, daß eigentlich kein einziges ihn selbst angehendes
Ereignis ganz gewöhnlich und ohne interessante Wendungen verlaufen konnte,
wenn wir es uns nur von ihm selbst erzählen lassen. Wie merkwürdig geht
z. B. die Weltgeschichte mit ihm um, als er noch Student ist und vor seinem
erzürnten Landesvater in die Schweiz fliehen muß! Bis Kehl ist er glücklich
gekommen, aber vor der Brücke, die nach Straßburg führt, wird allemal der
Postwagen untersucht, und das "schlimme Karlchen" hat keinen Paß. Schon
tritt der gefürchtete Leutnant an. Was geschieht? "Ach, mein Leutnant, Ihre
Lisbeth drüben in Straßburg hat den Fuß gebrochen beim Wasserholen, macht
schnell, daß der Wagen durchkomme; hoffentlich geht alles gut, morgen geb
ich Nachricht!" Das Thor fliegt auf, der Wagen rasselt über die Brücke. Der
Mann aber, der das gerufen und durch seine Geistesgegenwart den verfolgten
Flüchtling gerettet und für weitre höhere Fügungen aufbewahrt hat, ist ein
junger Mediziner, Küß, nachmals Maire von Straßbnrg, ja der letzte Maire
von Straßburg, der über dreißig Jahre später, als er die Nachricht von der
Abtretung des Elsasses bekommt, wie vom Tode getroffen niederfüllt. Und
ihm widmet nun Karl Vogt seine politischen Briefe, worin er sich in Bezug
auf alles 1870 und 1871 geschehene gegen Deutschland und auf Frankreichs
Seite stellt. Sind das nicht merkwürdige Dinge?

Der "Reichsregent," zu dem wir nun zurückkehren, konnte natürlich rät-
licherweise nicht mehr vor seines noch nicht entthronten Landesherrn ungnädiges
Angesicht treten und entkam glücklich nach der Schweiz. Dort blieb er fortan,
wurde bald 1852 in Genf Professor verschiedner naturwissenschaftlicher Fächer
und entwickelte daneben eine unglaublich umfangreiche Thätigkeit als Schrift¬
steller, aus der ihn der Tod in dem Alter von beinahe achtzig Jahren nach
kurzem Kranksein am 5. Mai 1895 abrief. Auf diesem Genfer Leben Karl
Vogts - es sind über vierzig Jahre -- beruht das Andenken, in dem er bei
uns in Deutschland steht. Aus dem einstigen deutschen Professor ist ein
glänzender populärer Schriftsteller und Redner über alle möglichen Gegenstände
des Naturlebens geworden, aus dem Revolutionär und Politiker von ehemals
ein rühriger, geistsprühender Agitator und vor allein ein Hasser und Lästerer
seines Vaterlandes. Denn wenn er sich auch gern den Anstrich gab, als
stünde er über dem, was die Nationen entzweit, als gerechter Richter auf
der hohen Warte der Weisheit: der Ingrimm auf Deutschland, besonders auf
Preußen, bestimmte ihn, wenn er Partei nahm, in jeder kleinen und großen


Das schlimme Aarlchen

letzten Sommerfrische kurz vor seinem Tode sollen die Bewohner des einsamen
Alpcnthales mit geheimem Grauen hinter dem herkulisch gebauten Fremden mit
der weißen Haarmähne her geflüstert haben: v'sse 1s mousisur <mi g. hev sni-
xsrsur xsnäant trois ^jours. Ihm kam es zeitlebens, auch als Schriftsteller,
mehr auf die Form und die Wirkung seiner Mitteilungen an, als auf die That¬
sachen, aus denen er sie sich zufällig zusammensetzen mußte, und dieser für
einen Lehrer oder Hörer immer angenehmen Mitte zwischen Wahrheit und
Dichtung verdanken wir es, daß eigentlich kein einziges ihn selbst angehendes
Ereignis ganz gewöhnlich und ohne interessante Wendungen verlaufen konnte,
wenn wir es uns nur von ihm selbst erzählen lassen. Wie merkwürdig geht
z. B. die Weltgeschichte mit ihm um, als er noch Student ist und vor seinem
erzürnten Landesvater in die Schweiz fliehen muß! Bis Kehl ist er glücklich
gekommen, aber vor der Brücke, die nach Straßburg führt, wird allemal der
Postwagen untersucht, und das „schlimme Karlchen" hat keinen Paß. Schon
tritt der gefürchtete Leutnant an. Was geschieht? „Ach, mein Leutnant, Ihre
Lisbeth drüben in Straßburg hat den Fuß gebrochen beim Wasserholen, macht
schnell, daß der Wagen durchkomme; hoffentlich geht alles gut, morgen geb
ich Nachricht!" Das Thor fliegt auf, der Wagen rasselt über die Brücke. Der
Mann aber, der das gerufen und durch seine Geistesgegenwart den verfolgten
Flüchtling gerettet und für weitre höhere Fügungen aufbewahrt hat, ist ein
junger Mediziner, Küß, nachmals Maire von Straßbnrg, ja der letzte Maire
von Straßburg, der über dreißig Jahre später, als er die Nachricht von der
Abtretung des Elsasses bekommt, wie vom Tode getroffen niederfüllt. Und
ihm widmet nun Karl Vogt seine politischen Briefe, worin er sich in Bezug
auf alles 1870 und 1871 geschehene gegen Deutschland und auf Frankreichs
Seite stellt. Sind das nicht merkwürdige Dinge?

Der „Reichsregent," zu dem wir nun zurückkehren, konnte natürlich rät-
licherweise nicht mehr vor seines noch nicht entthronten Landesherrn ungnädiges
Angesicht treten und entkam glücklich nach der Schweiz. Dort blieb er fortan,
wurde bald 1852 in Genf Professor verschiedner naturwissenschaftlicher Fächer
und entwickelte daneben eine unglaublich umfangreiche Thätigkeit als Schrift¬
steller, aus der ihn der Tod in dem Alter von beinahe achtzig Jahren nach
kurzem Kranksein am 5. Mai 1895 abrief. Auf diesem Genfer Leben Karl
Vogts - es sind über vierzig Jahre — beruht das Andenken, in dem er bei
uns in Deutschland steht. Aus dem einstigen deutschen Professor ist ein
glänzender populärer Schriftsteller und Redner über alle möglichen Gegenstände
des Naturlebens geworden, aus dem Revolutionär und Politiker von ehemals
ein rühriger, geistsprühender Agitator und vor allein ein Hasser und Lästerer
seines Vaterlandes. Denn wenn er sich auch gern den Anstrich gab, als
stünde er über dem, was die Nationen entzweit, als gerechter Richter auf
der hohen Warte der Weisheit: der Ingrimm auf Deutschland, besonders auf
Preußen, bestimmte ihn, wenn er Partei nahm, in jeder kleinen und großen


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[0307] Das schlimme Aarlchen letzten Sommerfrische kurz vor seinem Tode sollen die Bewohner des einsamen Alpcnthales mit geheimem Grauen hinter dem herkulisch gebauten Fremden mit der weißen Haarmähne her geflüstert haben: v'sse 1s mousisur <mi g. hev sni- xsrsur xsnäant trois ^jours. Ihm kam es zeitlebens, auch als Schriftsteller, mehr auf die Form und die Wirkung seiner Mitteilungen an, als auf die That¬ sachen, aus denen er sie sich zufällig zusammensetzen mußte, und dieser für einen Lehrer oder Hörer immer angenehmen Mitte zwischen Wahrheit und Dichtung verdanken wir es, daß eigentlich kein einziges ihn selbst angehendes Ereignis ganz gewöhnlich und ohne interessante Wendungen verlaufen konnte, wenn wir es uns nur von ihm selbst erzählen lassen. Wie merkwürdig geht z. B. die Weltgeschichte mit ihm um, als er noch Student ist und vor seinem erzürnten Landesvater in die Schweiz fliehen muß! Bis Kehl ist er glücklich gekommen, aber vor der Brücke, die nach Straßburg führt, wird allemal der Postwagen untersucht, und das „schlimme Karlchen" hat keinen Paß. Schon tritt der gefürchtete Leutnant an. Was geschieht? „Ach, mein Leutnant, Ihre Lisbeth drüben in Straßburg hat den Fuß gebrochen beim Wasserholen, macht schnell, daß der Wagen durchkomme; hoffentlich geht alles gut, morgen geb ich Nachricht!" Das Thor fliegt auf, der Wagen rasselt über die Brücke. Der Mann aber, der das gerufen und durch seine Geistesgegenwart den verfolgten Flüchtling gerettet und für weitre höhere Fügungen aufbewahrt hat, ist ein junger Mediziner, Küß, nachmals Maire von Straßbnrg, ja der letzte Maire von Straßburg, der über dreißig Jahre später, als er die Nachricht von der Abtretung des Elsasses bekommt, wie vom Tode getroffen niederfüllt. Und ihm widmet nun Karl Vogt seine politischen Briefe, worin er sich in Bezug auf alles 1870 und 1871 geschehene gegen Deutschland und auf Frankreichs Seite stellt. Sind das nicht merkwürdige Dinge? Der „Reichsregent," zu dem wir nun zurückkehren, konnte natürlich rät- licherweise nicht mehr vor seines noch nicht entthronten Landesherrn ungnädiges Angesicht treten und entkam glücklich nach der Schweiz. Dort blieb er fortan, wurde bald 1852 in Genf Professor verschiedner naturwissenschaftlicher Fächer und entwickelte daneben eine unglaublich umfangreiche Thätigkeit als Schrift¬ steller, aus der ihn der Tod in dem Alter von beinahe achtzig Jahren nach kurzem Kranksein am 5. Mai 1895 abrief. Auf diesem Genfer Leben Karl Vogts - es sind über vierzig Jahre — beruht das Andenken, in dem er bei uns in Deutschland steht. Aus dem einstigen deutschen Professor ist ein glänzender populärer Schriftsteller und Redner über alle möglichen Gegenstände des Naturlebens geworden, aus dem Revolutionär und Politiker von ehemals ein rühriger, geistsprühender Agitator und vor allein ein Hasser und Lästerer seines Vaterlandes. Denn wenn er sich auch gern den Anstrich gab, als stünde er über dem, was die Nationen entzweit, als gerechter Richter auf der hohen Warte der Weisheit: der Ingrimm auf Deutschland, besonders auf Preußen, bestimmte ihn, wenn er Partei nahm, in jeder kleinen und großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/307>, abgerufen am 18.06.2024.