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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Ein sozialpolitischer Rückblick

extremern Radikalismus der Sozialdemokraten. Wer ans doktrinärer Recht¬
haberei, aus persönlicher Eitelkeit, aus Lust an Aufregung allein gleichgiltig
ist gegen die Erhaltung der Ordnung im Staat, der ist glücklicherweise viel
schwächer, moralisch aber noch schlimmer als derjenige, der den Staat auflösen
will, weil er fest glcinbt, daß er dann seine Utopien wirtschaftlicher Ausgleichung
verwirklichen könne!"

Und wie dachte sich nun Held das rechte Heilmittel gegen die Krankheit?
Die obern Klassen, meint er, müßten dem falschen, extremen Sozialismus der
Arbeiter entgegensetzen den wahren, friedlichen, gesetzestreuen, gemäßigten So¬
zialismus des aristokratischen Besitzes. Wir müßten "Ideale im Herzen tragen,
die hoch stehen über dem Wunsch, materielle Bedürfnisse der Einzelnen zu be¬
friedigen, und wir müssen diesen idealen Sinn in beständigem opferwilligen
Dienste der Gesamtheit bethätigen." Die Gesamtheit, der wir dienstbar werden
müssen, ist ihm der Staat. Und der Staat unsrer Zeit gebe hundertfach Ge¬
legenheit zur Bethätigung dieser Gesinnung sür jeden. Unsre Zeit sei vor
allem eine staatsbildende, unserm Geschlecht sei die Aufgabe gestellt, das kühn
begonnene Werk, die deutsche Einheit, zu vollenden. Wo die größte Kraft für
das staatliche Leben gebraucht werde, da müsse sich auch der ideale Sinn in
erster Linie konzentriren.

"Sozialismus an sich, so schließt Held feine Ausführungen, ist keine
Partei, nicht einmal eine einheitliche Schule. Er ist ein Prinzip, das, so lange
wir Menschen und Staaten kennen, vorhanden war und vorhanden sein wird,
nach Geltung in wechselndem Maße ringt und zu ausschließlicher Geltung nie
kommen wird -- ein ewig notwendiges Prinzip, das kein Denkender erst durch
die Sozialdemokratie kennen gelernt hat. Die Sozialdemokratie ist durchaus
eine politische Partei, und zwar eine revolutionäre. Willig Pallirer wir mit
dem Arbeiter und seinen Bestrebungen. Aber unversöhnlich kämpfen müssen
wir gegen die Vaterlands- und gesetzlose Tendenz einer wühlenden Partei.
Und wenn, wie ich hoffe und strebe, unsre politische und sittliche Kraft gestärkt
und geläutert aus diesem Kampfe hervorgeht, daun mögen wir dereinst auch
auf diese Phase unsrer Entwicklung ohne Scham und Schmerz zurückblicken!"

Wir können nicht finden, daß das deutsche Volk in den letzten zwanzig
Jahren wesentliche Fortschritte in diesem Kampfe gemacht habe. Die Leute,
die Ideale im Herzen tragen, die hoch stehen über dem Wunsche, "materielle
Bedürfnisse der Einzelnen zu befriedigen," sind im politischen Parteikampf,
überhaupt im politischen Leben immer mehr in den Hintergrund gedrängt
worden. Die Zeit hat das Heilmittel, das Held empfiehlt, gar nicht verstanden,
und doch ist es noch hente das rechte, das einzige. Ohne Scham und Schmerz
würde dieser ehrliche Liberale heute wohl kaum auf den Satz zurückblicken
können: "Es bleibt uns keine andre Wahl, als fortgesetzte energische Selbst¬
zucht des Liberalismus. Ausbildung seiner wahren Prinzipien, entschlossenes


Ein sozialpolitischer Rückblick

extremern Radikalismus der Sozialdemokraten. Wer ans doktrinärer Recht¬
haberei, aus persönlicher Eitelkeit, aus Lust an Aufregung allein gleichgiltig
ist gegen die Erhaltung der Ordnung im Staat, der ist glücklicherweise viel
schwächer, moralisch aber noch schlimmer als derjenige, der den Staat auflösen
will, weil er fest glcinbt, daß er dann seine Utopien wirtschaftlicher Ausgleichung
verwirklichen könne!"

Und wie dachte sich nun Held das rechte Heilmittel gegen die Krankheit?
Die obern Klassen, meint er, müßten dem falschen, extremen Sozialismus der
Arbeiter entgegensetzen den wahren, friedlichen, gesetzestreuen, gemäßigten So¬
zialismus des aristokratischen Besitzes. Wir müßten „Ideale im Herzen tragen,
die hoch stehen über dem Wunsch, materielle Bedürfnisse der Einzelnen zu be¬
friedigen, und wir müssen diesen idealen Sinn in beständigem opferwilligen
Dienste der Gesamtheit bethätigen." Die Gesamtheit, der wir dienstbar werden
müssen, ist ihm der Staat. Und der Staat unsrer Zeit gebe hundertfach Ge¬
legenheit zur Bethätigung dieser Gesinnung sür jeden. Unsre Zeit sei vor
allem eine staatsbildende, unserm Geschlecht sei die Aufgabe gestellt, das kühn
begonnene Werk, die deutsche Einheit, zu vollenden. Wo die größte Kraft für
das staatliche Leben gebraucht werde, da müsse sich auch der ideale Sinn in
erster Linie konzentriren.

„Sozialismus an sich, so schließt Held feine Ausführungen, ist keine
Partei, nicht einmal eine einheitliche Schule. Er ist ein Prinzip, das, so lange
wir Menschen und Staaten kennen, vorhanden war und vorhanden sein wird,
nach Geltung in wechselndem Maße ringt und zu ausschließlicher Geltung nie
kommen wird — ein ewig notwendiges Prinzip, das kein Denkender erst durch
die Sozialdemokratie kennen gelernt hat. Die Sozialdemokratie ist durchaus
eine politische Partei, und zwar eine revolutionäre. Willig Pallirer wir mit
dem Arbeiter und seinen Bestrebungen. Aber unversöhnlich kämpfen müssen
wir gegen die Vaterlands- und gesetzlose Tendenz einer wühlenden Partei.
Und wenn, wie ich hoffe und strebe, unsre politische und sittliche Kraft gestärkt
und geläutert aus diesem Kampfe hervorgeht, daun mögen wir dereinst auch
auf diese Phase unsrer Entwicklung ohne Scham und Schmerz zurückblicken!"

Wir können nicht finden, daß das deutsche Volk in den letzten zwanzig
Jahren wesentliche Fortschritte in diesem Kampfe gemacht habe. Die Leute,
die Ideale im Herzen tragen, die hoch stehen über dem Wunsche, „materielle
Bedürfnisse der Einzelnen zu befriedigen," sind im politischen Parteikampf,
überhaupt im politischen Leben immer mehr in den Hintergrund gedrängt
worden. Die Zeit hat das Heilmittel, das Held empfiehlt, gar nicht verstanden,
und doch ist es noch hente das rechte, das einzige. Ohne Scham und Schmerz
würde dieser ehrliche Liberale heute wohl kaum auf den Satz zurückblicken
können: „Es bleibt uns keine andre Wahl, als fortgesetzte energische Selbst¬
zucht des Liberalismus. Ausbildung seiner wahren Prinzipien, entschlossenes


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[0303] Ein sozialpolitischer Rückblick extremern Radikalismus der Sozialdemokraten. Wer ans doktrinärer Recht¬ haberei, aus persönlicher Eitelkeit, aus Lust an Aufregung allein gleichgiltig ist gegen die Erhaltung der Ordnung im Staat, der ist glücklicherweise viel schwächer, moralisch aber noch schlimmer als derjenige, der den Staat auflösen will, weil er fest glcinbt, daß er dann seine Utopien wirtschaftlicher Ausgleichung verwirklichen könne!" Und wie dachte sich nun Held das rechte Heilmittel gegen die Krankheit? Die obern Klassen, meint er, müßten dem falschen, extremen Sozialismus der Arbeiter entgegensetzen den wahren, friedlichen, gesetzestreuen, gemäßigten So¬ zialismus des aristokratischen Besitzes. Wir müßten „Ideale im Herzen tragen, die hoch stehen über dem Wunsch, materielle Bedürfnisse der Einzelnen zu be¬ friedigen, und wir müssen diesen idealen Sinn in beständigem opferwilligen Dienste der Gesamtheit bethätigen." Die Gesamtheit, der wir dienstbar werden müssen, ist ihm der Staat. Und der Staat unsrer Zeit gebe hundertfach Ge¬ legenheit zur Bethätigung dieser Gesinnung sür jeden. Unsre Zeit sei vor allem eine staatsbildende, unserm Geschlecht sei die Aufgabe gestellt, das kühn begonnene Werk, die deutsche Einheit, zu vollenden. Wo die größte Kraft für das staatliche Leben gebraucht werde, da müsse sich auch der ideale Sinn in erster Linie konzentriren. „Sozialismus an sich, so schließt Held feine Ausführungen, ist keine Partei, nicht einmal eine einheitliche Schule. Er ist ein Prinzip, das, so lange wir Menschen und Staaten kennen, vorhanden war und vorhanden sein wird, nach Geltung in wechselndem Maße ringt und zu ausschließlicher Geltung nie kommen wird — ein ewig notwendiges Prinzip, das kein Denkender erst durch die Sozialdemokratie kennen gelernt hat. Die Sozialdemokratie ist durchaus eine politische Partei, und zwar eine revolutionäre. Willig Pallirer wir mit dem Arbeiter und seinen Bestrebungen. Aber unversöhnlich kämpfen müssen wir gegen die Vaterlands- und gesetzlose Tendenz einer wühlenden Partei. Und wenn, wie ich hoffe und strebe, unsre politische und sittliche Kraft gestärkt und geläutert aus diesem Kampfe hervorgeht, daun mögen wir dereinst auch auf diese Phase unsrer Entwicklung ohne Scham und Schmerz zurückblicken!" Wir können nicht finden, daß das deutsche Volk in den letzten zwanzig Jahren wesentliche Fortschritte in diesem Kampfe gemacht habe. Die Leute, die Ideale im Herzen tragen, die hoch stehen über dem Wunsche, „materielle Bedürfnisse der Einzelnen zu befriedigen," sind im politischen Parteikampf, überhaupt im politischen Leben immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Die Zeit hat das Heilmittel, das Held empfiehlt, gar nicht verstanden, und doch ist es noch hente das rechte, das einzige. Ohne Scham und Schmerz würde dieser ehrliche Liberale heute wohl kaum auf den Satz zurückblicken können: „Es bleibt uns keine andre Wahl, als fortgesetzte energische Selbst¬ zucht des Liberalismus. Ausbildung seiner wahren Prinzipien, entschlossenes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/303>, abgerufen am 26.06.2024.