Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gin sozialpolitischer Rückblick

parlamentarischer Rechte die Macht des Königtums zu einem Schatten herab¬
zudrücken. Haben wir alle begriffen, daß ein über allen Parteien und allen
Stünden stehendes Königtum allein die stetige Macht des Gesetzes und die
Kontinuität staatlicher Entwicklung wahren kann? Auch wir waren recht oft
vielwollende Demokraten nach oben, freilich zugleich gefühlsmäßige Aristokrciteu
nach unten -- aber können wir uns wundern, wenn uns eine Klasse, die kein
Unter-sich mehr kennt, beim Worte nimmt?"

"Wollen nicht endlich Schutzzöllner und Agrarier, wenn die Industrie
oder Landwirtschaft irgendwo der Schuh drückt, auch gleich radikale Abhilfe
durch eine staatliche Maßregel, und arbeiten sie nicht auf Sturz eines abge¬
neigten Ministeriums, ohne jede Rücksicht auf seine sonstigen Verdienste und
Unentbehrlich keit?"

"Für den Weltfrieden schwärmten die Freihändler so gut wie die Anhänger
der Internationalen. Verminderung des Heeres und seiner Kosten zu wollen
gilt uoch in weiten Kreisen als sicherstes Zeichen des Volksfreundes. Wie
viele haben noch nicht begriffen, daß Sicherheit gegen äußere Angriffe die erste
Grundbedingung nationalen Lebens, daß Dienst im Heere das unersetzlichste
aller politischen Erziehungsmittel ist!"

Wohin man also auch sehe, nirgends könne man jene falschen Tendenzen
der Sozialdemokratie als "originell" erkennen. Sie nehme völlig die Welt¬
anschauung und die Ziele eines extremen Individualismus an, nur schlage sie zur
Erreichung dieser Ziele als Mittel eine extreme sozialistische Organisation der
Wirtschaft vor. Diese Organisation wolle sie nicht im Interesse idealer Ziele
der Menschheit, sondern lediglich, damit die einzelnen Glieder der Gesellschaft
materiell profitiren. "Wahrlich, so ruft er aus, Sozialismus und Sozial-
demokratie sind nicht identisch, denn die Sozialdemokratie ist in dem entscheidenden
Teile ihres Programms, in ihren eigentlichen Zielen Extrem des extremen Jndivi-
dualismus und benutzt nur auch das Gegenteil dieser Lehre für ihre Zwecke."

Die Sozialdemotrntie, meint Held, sei "etwas Widerliches, ein Übel, eine
Gefahr, eine Krankheit." Aber die Krankheit wurzle nicht in den Leidenschaften
unsrer Arbeiter allein, sie wurzle in der ganzen Gesellschaft, in der Geschichte
der Ideen, die sich in dieser entwickelt haben. Nun und nimmer würden wir
die Sozialdemokratie überwinden, wenn wir uns begnügten, ihre "äußern
Symptome niederzuschlagen," oder uns "in blinder Angst einem System reak¬
tionärer überspannter Autorität in die Arme" würfen. Noch weniger helfe die
Predigt "von der unbedingten Harmonie aller Interessen bei freier Konkurrenz"
oder der "ohnmächtige Trotz auf das eigne Recht," am wenigsten der Versuch,
"auf politischem Gebiet mit der Sozialdemokratie Hand in Hand zu gehen."
"Man staunt über solche Verblendung! Die kleinliche Oppositionellst des
radikalen Bourgeois, die Halt macht, sowie ein Angriff auf das Eigentum
stattfindet, verliert notwendig das Spiel gegenüber dem weit konsequentern und


Gin sozialpolitischer Rückblick

parlamentarischer Rechte die Macht des Königtums zu einem Schatten herab¬
zudrücken. Haben wir alle begriffen, daß ein über allen Parteien und allen
Stünden stehendes Königtum allein die stetige Macht des Gesetzes und die
Kontinuität staatlicher Entwicklung wahren kann? Auch wir waren recht oft
vielwollende Demokraten nach oben, freilich zugleich gefühlsmäßige Aristokrciteu
nach unten — aber können wir uns wundern, wenn uns eine Klasse, die kein
Unter-sich mehr kennt, beim Worte nimmt?"

„Wollen nicht endlich Schutzzöllner und Agrarier, wenn die Industrie
oder Landwirtschaft irgendwo der Schuh drückt, auch gleich radikale Abhilfe
durch eine staatliche Maßregel, und arbeiten sie nicht auf Sturz eines abge¬
neigten Ministeriums, ohne jede Rücksicht auf seine sonstigen Verdienste und
Unentbehrlich keit?"

„Für den Weltfrieden schwärmten die Freihändler so gut wie die Anhänger
der Internationalen. Verminderung des Heeres und seiner Kosten zu wollen
gilt uoch in weiten Kreisen als sicherstes Zeichen des Volksfreundes. Wie
viele haben noch nicht begriffen, daß Sicherheit gegen äußere Angriffe die erste
Grundbedingung nationalen Lebens, daß Dienst im Heere das unersetzlichste
aller politischen Erziehungsmittel ist!"

Wohin man also auch sehe, nirgends könne man jene falschen Tendenzen
der Sozialdemokratie als „originell" erkennen. Sie nehme völlig die Welt¬
anschauung und die Ziele eines extremen Individualismus an, nur schlage sie zur
Erreichung dieser Ziele als Mittel eine extreme sozialistische Organisation der
Wirtschaft vor. Diese Organisation wolle sie nicht im Interesse idealer Ziele
der Menschheit, sondern lediglich, damit die einzelnen Glieder der Gesellschaft
materiell profitiren. „Wahrlich, so ruft er aus, Sozialismus und Sozial-
demokratie sind nicht identisch, denn die Sozialdemokratie ist in dem entscheidenden
Teile ihres Programms, in ihren eigentlichen Zielen Extrem des extremen Jndivi-
dualismus und benutzt nur auch das Gegenteil dieser Lehre für ihre Zwecke."

Die Sozialdemotrntie, meint Held, sei „etwas Widerliches, ein Übel, eine
Gefahr, eine Krankheit." Aber die Krankheit wurzle nicht in den Leidenschaften
unsrer Arbeiter allein, sie wurzle in der ganzen Gesellschaft, in der Geschichte
der Ideen, die sich in dieser entwickelt haben. Nun und nimmer würden wir
die Sozialdemokratie überwinden, wenn wir uns begnügten, ihre „äußern
Symptome niederzuschlagen," oder uns „in blinder Angst einem System reak¬
tionärer überspannter Autorität in die Arme" würfen. Noch weniger helfe die
Predigt „von der unbedingten Harmonie aller Interessen bei freier Konkurrenz"
oder der „ohnmächtige Trotz auf das eigne Recht," am wenigsten der Versuch,
„auf politischem Gebiet mit der Sozialdemokratie Hand in Hand zu gehen."
„Man staunt über solche Verblendung! Die kleinliche Oppositionellst des
radikalen Bourgeois, die Halt macht, sowie ein Angriff auf das Eigentum
stattfindet, verliert notwendig das Spiel gegenüber dem weit konsequentern und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0302" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224548"/>
          <fw type="header" place="top"> Gin sozialpolitischer Rückblick</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_823" prev="#ID_822"> parlamentarischer Rechte die Macht des Königtums zu einem Schatten herab¬<lb/>
zudrücken. Haben wir alle begriffen, daß ein über allen Parteien und allen<lb/>
Stünden stehendes Königtum allein die stetige Macht des Gesetzes und die<lb/>
Kontinuität staatlicher Entwicklung wahren kann? Auch wir waren recht oft<lb/>
vielwollende Demokraten nach oben, freilich zugleich gefühlsmäßige Aristokrciteu<lb/>
nach unten &#x2014; aber können wir uns wundern, wenn uns eine Klasse, die kein<lb/>
Unter-sich mehr kennt, beim Worte nimmt?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_824"> &#x201E;Wollen nicht endlich Schutzzöllner und Agrarier, wenn die Industrie<lb/>
oder Landwirtschaft irgendwo der Schuh drückt, auch gleich radikale Abhilfe<lb/>
durch eine staatliche Maßregel, und arbeiten sie nicht auf Sturz eines abge¬<lb/>
neigten Ministeriums, ohne jede Rücksicht auf seine sonstigen Verdienste und<lb/>
Unentbehrlich keit?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_825"> &#x201E;Für den Weltfrieden schwärmten die Freihändler so gut wie die Anhänger<lb/>
der Internationalen. Verminderung des Heeres und seiner Kosten zu wollen<lb/>
gilt uoch in weiten Kreisen als sicherstes Zeichen des Volksfreundes. Wie<lb/>
viele haben noch nicht begriffen, daß Sicherheit gegen äußere Angriffe die erste<lb/>
Grundbedingung nationalen Lebens, daß Dienst im Heere das unersetzlichste<lb/>
aller politischen Erziehungsmittel ist!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_826"> Wohin man also auch sehe, nirgends könne man jene falschen Tendenzen<lb/>
der Sozialdemokratie als &#x201E;originell" erkennen. Sie nehme völlig die Welt¬<lb/>
anschauung und die Ziele eines extremen Individualismus an, nur schlage sie zur<lb/>
Erreichung dieser Ziele als Mittel eine extreme sozialistische Organisation der<lb/>
Wirtschaft vor. Diese Organisation wolle sie nicht im Interesse idealer Ziele<lb/>
der Menschheit, sondern lediglich, damit die einzelnen Glieder der Gesellschaft<lb/>
materiell profitiren. &#x201E;Wahrlich, so ruft er aus, Sozialismus und Sozial-<lb/>
demokratie sind nicht identisch, denn die Sozialdemokratie ist in dem entscheidenden<lb/>
Teile ihres Programms, in ihren eigentlichen Zielen Extrem des extremen Jndivi-<lb/>
dualismus und benutzt nur auch das Gegenteil dieser Lehre für ihre Zwecke."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_827" next="#ID_828"> Die Sozialdemotrntie, meint Held, sei &#x201E;etwas Widerliches, ein Übel, eine<lb/>
Gefahr, eine Krankheit." Aber die Krankheit wurzle nicht in den Leidenschaften<lb/>
unsrer Arbeiter allein, sie wurzle in der ganzen Gesellschaft, in der Geschichte<lb/>
der Ideen, die sich in dieser entwickelt haben. Nun und nimmer würden wir<lb/>
die Sozialdemokratie überwinden, wenn wir uns begnügten, ihre &#x201E;äußern<lb/>
Symptome niederzuschlagen," oder uns &#x201E;in blinder Angst einem System reak¬<lb/>
tionärer überspannter Autorität in die Arme" würfen. Noch weniger helfe die<lb/>
Predigt &#x201E;von der unbedingten Harmonie aller Interessen bei freier Konkurrenz"<lb/>
oder der &#x201E;ohnmächtige Trotz auf das eigne Recht," am wenigsten der Versuch,<lb/>
&#x201E;auf politischem Gebiet mit der Sozialdemokratie Hand in Hand zu gehen."<lb/>
&#x201E;Man staunt über solche Verblendung! Die kleinliche Oppositionellst des<lb/>
radikalen Bourgeois, die Halt macht, sowie ein Angriff auf das Eigentum<lb/>
stattfindet, verliert notwendig das Spiel gegenüber dem weit konsequentern und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0302] Gin sozialpolitischer Rückblick parlamentarischer Rechte die Macht des Königtums zu einem Schatten herab¬ zudrücken. Haben wir alle begriffen, daß ein über allen Parteien und allen Stünden stehendes Königtum allein die stetige Macht des Gesetzes und die Kontinuität staatlicher Entwicklung wahren kann? Auch wir waren recht oft vielwollende Demokraten nach oben, freilich zugleich gefühlsmäßige Aristokrciteu nach unten — aber können wir uns wundern, wenn uns eine Klasse, die kein Unter-sich mehr kennt, beim Worte nimmt?" „Wollen nicht endlich Schutzzöllner und Agrarier, wenn die Industrie oder Landwirtschaft irgendwo der Schuh drückt, auch gleich radikale Abhilfe durch eine staatliche Maßregel, und arbeiten sie nicht auf Sturz eines abge¬ neigten Ministeriums, ohne jede Rücksicht auf seine sonstigen Verdienste und Unentbehrlich keit?" „Für den Weltfrieden schwärmten die Freihändler so gut wie die Anhänger der Internationalen. Verminderung des Heeres und seiner Kosten zu wollen gilt uoch in weiten Kreisen als sicherstes Zeichen des Volksfreundes. Wie viele haben noch nicht begriffen, daß Sicherheit gegen äußere Angriffe die erste Grundbedingung nationalen Lebens, daß Dienst im Heere das unersetzlichste aller politischen Erziehungsmittel ist!" Wohin man also auch sehe, nirgends könne man jene falschen Tendenzen der Sozialdemokratie als „originell" erkennen. Sie nehme völlig die Welt¬ anschauung und die Ziele eines extremen Individualismus an, nur schlage sie zur Erreichung dieser Ziele als Mittel eine extreme sozialistische Organisation der Wirtschaft vor. Diese Organisation wolle sie nicht im Interesse idealer Ziele der Menschheit, sondern lediglich, damit die einzelnen Glieder der Gesellschaft materiell profitiren. „Wahrlich, so ruft er aus, Sozialismus und Sozial- demokratie sind nicht identisch, denn die Sozialdemokratie ist in dem entscheidenden Teile ihres Programms, in ihren eigentlichen Zielen Extrem des extremen Jndivi- dualismus und benutzt nur auch das Gegenteil dieser Lehre für ihre Zwecke." Die Sozialdemotrntie, meint Held, sei „etwas Widerliches, ein Übel, eine Gefahr, eine Krankheit." Aber die Krankheit wurzle nicht in den Leidenschaften unsrer Arbeiter allein, sie wurzle in der ganzen Gesellschaft, in der Geschichte der Ideen, die sich in dieser entwickelt haben. Nun und nimmer würden wir die Sozialdemokratie überwinden, wenn wir uns begnügten, ihre „äußern Symptome niederzuschlagen," oder uns „in blinder Angst einem System reak¬ tionärer überspannter Autorität in die Arme" würfen. Noch weniger helfe die Predigt „von der unbedingten Harmonie aller Interessen bei freier Konkurrenz" oder der „ohnmächtige Trotz auf das eigne Recht," am wenigsten der Versuch, „auf politischem Gebiet mit der Sozialdemokratie Hand in Hand zu gehen." „Man staunt über solche Verblendung! Die kleinliche Oppositionellst des radikalen Bourgeois, die Halt macht, sowie ein Angriff auf das Eigentum stattfindet, verliert notwendig das Spiel gegenüber dem weit konsequentern und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/302
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/302>, abgerufen am 27.09.2024.