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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Lin sozialpolitischer Rückblick

"Sie schwärmt folgerichtig für allgemeinen Weltfrieden und Abschaffung
geschulter stehender Heere. Sie will nicht, daß Kriege das Nationalgefühl
beleben, daß militärische Zucht und Ehre von der Verfolgung materieller Zwecke
ablenke, daß ein Heer das Gesetz gegen revolutionäre Arbeiter schütze. Der
Hohn gegen den preußischen Staat und auf deutsches Nationalgefühl, die
bittern Anklagen gegen die Kosten des stehenden Heeres und die Behandlung
der Soldaten bilden einen stehenden Artikel in den Spalten der sozialdemo¬
kratischen Blätter."

"Dann macht die Sozialdemokratie mit der Glcichheitslehre des vorigen
Jahrhunderts und der französischen Revolution vollständigen Ernst. Jede Ab¬
stufung politischer Rechte ist ihr verhaßt, natürlich bleibt als einzige Autorität
die jeweilige Majorität übrig, welche als eine die Besitzenden völlig beherrschende
Majorität des Proletariats gedacht wird. Daher das allgemeine Wahlrecht
aller Erwachsenen, die Volksabstimmung über alle Gesetze, die Wählbarkeit und
Absetzbarkeit aller Beamten."

"Endlich will die Sozialdemokratie jedenfalls immer rasch wirkende radikale
Maßregeln ohne jede Rücksicht auf stetige Entwicklung, und ihre ganze Agitation
ist auf Erregung leidenschaftlichen Hasses gegen alle bestehenden Organisationen
gerichtet."

Das ist nach Held das, was die Sozialdemokratie wirklich praktisch will.
Die theoretischen Verirrungen des extremen ökonomischen Sozialismus, mit
denen sie ihre Programme herausputzt, haben mit diesem praktischen Willen
nichts zu thun, sie bleiben politisch außer Betracht. "Woher kommt das?"
fragt nun Held, und sehr bezeichnend für den Standpunkt vor zwanzig Jahren
giebt er die Antwort: "Das alles ist nicht die letzte Konsequenz des Libe¬
ralismus -- aber es ist in der That der Nachklang der Einseitigkeiten des alten
extremen Individualismus, der sich, seit 1848 und gar seit 1866 höchst un¬
berechtigterweise noch immer auch in unsern Liberalismus einzudrängen sucht."
Treffend weist er zur Begründung dieser Autwort auf die Rolle hin, die die
"Menschenrechte" bei dem extremen Liberalismus von jeher gespielt haben, mit
Recht fragt er, was für ein Unterschied sei zwischen der "Magenfrage" der
Sozialdemokraten und der "Veutelfrage" der englischen Freihändler, und erinnert
daran, daß nicht die Sozialdemokraten die Lehre erfunden haben, "daß das Sitt¬
liche nur ein andrer Name für das Nützliche ist." Und die "Gleichheitsidee"?
Waren es denn, meinte er, Sozialdemokraten, die zuerst den allgemeinen un¬
gestümen Ruf nach unbedingter Freiheit und Gleichheit ertönen ließen, ohne
zu ahnen, daß jede vollkommne Freiheit die Gleichheit der Schwachen, jede
vollkommne Gleichheit die Freiheit der Starken tötet? "Der Gleichheitsdnrst
der Mittelklassen hat sie gehässig gemacht nicht nur gegen den Adel, sondern
auch mißgünstig gegen das Königtum. Und much nach Einführung der par¬
lamentarischen Verfassung hat man vielfach getrachtet, zu Ehren der Ausdehnung


Lin sozialpolitischer Rückblick

„Sie schwärmt folgerichtig für allgemeinen Weltfrieden und Abschaffung
geschulter stehender Heere. Sie will nicht, daß Kriege das Nationalgefühl
beleben, daß militärische Zucht und Ehre von der Verfolgung materieller Zwecke
ablenke, daß ein Heer das Gesetz gegen revolutionäre Arbeiter schütze. Der
Hohn gegen den preußischen Staat und auf deutsches Nationalgefühl, die
bittern Anklagen gegen die Kosten des stehenden Heeres und die Behandlung
der Soldaten bilden einen stehenden Artikel in den Spalten der sozialdemo¬
kratischen Blätter."

„Dann macht die Sozialdemokratie mit der Glcichheitslehre des vorigen
Jahrhunderts und der französischen Revolution vollständigen Ernst. Jede Ab¬
stufung politischer Rechte ist ihr verhaßt, natürlich bleibt als einzige Autorität
die jeweilige Majorität übrig, welche als eine die Besitzenden völlig beherrschende
Majorität des Proletariats gedacht wird. Daher das allgemeine Wahlrecht
aller Erwachsenen, die Volksabstimmung über alle Gesetze, die Wählbarkeit und
Absetzbarkeit aller Beamten."

„Endlich will die Sozialdemokratie jedenfalls immer rasch wirkende radikale
Maßregeln ohne jede Rücksicht auf stetige Entwicklung, und ihre ganze Agitation
ist auf Erregung leidenschaftlichen Hasses gegen alle bestehenden Organisationen
gerichtet."

Das ist nach Held das, was die Sozialdemokratie wirklich praktisch will.
Die theoretischen Verirrungen des extremen ökonomischen Sozialismus, mit
denen sie ihre Programme herausputzt, haben mit diesem praktischen Willen
nichts zu thun, sie bleiben politisch außer Betracht. „Woher kommt das?"
fragt nun Held, und sehr bezeichnend für den Standpunkt vor zwanzig Jahren
giebt er die Antwort: „Das alles ist nicht die letzte Konsequenz des Libe¬
ralismus — aber es ist in der That der Nachklang der Einseitigkeiten des alten
extremen Individualismus, der sich, seit 1848 und gar seit 1866 höchst un¬
berechtigterweise noch immer auch in unsern Liberalismus einzudrängen sucht."
Treffend weist er zur Begründung dieser Autwort auf die Rolle hin, die die
„Menschenrechte" bei dem extremen Liberalismus von jeher gespielt haben, mit
Recht fragt er, was für ein Unterschied sei zwischen der „Magenfrage" der
Sozialdemokraten und der „Veutelfrage" der englischen Freihändler, und erinnert
daran, daß nicht die Sozialdemokraten die Lehre erfunden haben, „daß das Sitt¬
liche nur ein andrer Name für das Nützliche ist." Und die „Gleichheitsidee"?
Waren es denn, meinte er, Sozialdemokraten, die zuerst den allgemeinen un¬
gestümen Ruf nach unbedingter Freiheit und Gleichheit ertönen ließen, ohne
zu ahnen, daß jede vollkommne Freiheit die Gleichheit der Schwachen, jede
vollkommne Gleichheit die Freiheit der Starken tötet? „Der Gleichheitsdnrst
der Mittelklassen hat sie gehässig gemacht nicht nur gegen den Adel, sondern
auch mißgünstig gegen das Königtum. Und much nach Einführung der par¬
lamentarischen Verfassung hat man vielfach getrachtet, zu Ehren der Ausdehnung


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[0301] Lin sozialpolitischer Rückblick „Sie schwärmt folgerichtig für allgemeinen Weltfrieden und Abschaffung geschulter stehender Heere. Sie will nicht, daß Kriege das Nationalgefühl beleben, daß militärische Zucht und Ehre von der Verfolgung materieller Zwecke ablenke, daß ein Heer das Gesetz gegen revolutionäre Arbeiter schütze. Der Hohn gegen den preußischen Staat und auf deutsches Nationalgefühl, die bittern Anklagen gegen die Kosten des stehenden Heeres und die Behandlung der Soldaten bilden einen stehenden Artikel in den Spalten der sozialdemo¬ kratischen Blätter." „Dann macht die Sozialdemokratie mit der Glcichheitslehre des vorigen Jahrhunderts und der französischen Revolution vollständigen Ernst. Jede Ab¬ stufung politischer Rechte ist ihr verhaßt, natürlich bleibt als einzige Autorität die jeweilige Majorität übrig, welche als eine die Besitzenden völlig beherrschende Majorität des Proletariats gedacht wird. Daher das allgemeine Wahlrecht aller Erwachsenen, die Volksabstimmung über alle Gesetze, die Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Beamten." „Endlich will die Sozialdemokratie jedenfalls immer rasch wirkende radikale Maßregeln ohne jede Rücksicht auf stetige Entwicklung, und ihre ganze Agitation ist auf Erregung leidenschaftlichen Hasses gegen alle bestehenden Organisationen gerichtet." Das ist nach Held das, was die Sozialdemokratie wirklich praktisch will. Die theoretischen Verirrungen des extremen ökonomischen Sozialismus, mit denen sie ihre Programme herausputzt, haben mit diesem praktischen Willen nichts zu thun, sie bleiben politisch außer Betracht. „Woher kommt das?" fragt nun Held, und sehr bezeichnend für den Standpunkt vor zwanzig Jahren giebt er die Antwort: „Das alles ist nicht die letzte Konsequenz des Libe¬ ralismus — aber es ist in der That der Nachklang der Einseitigkeiten des alten extremen Individualismus, der sich, seit 1848 und gar seit 1866 höchst un¬ berechtigterweise noch immer auch in unsern Liberalismus einzudrängen sucht." Treffend weist er zur Begründung dieser Autwort auf die Rolle hin, die die „Menschenrechte" bei dem extremen Liberalismus von jeher gespielt haben, mit Recht fragt er, was für ein Unterschied sei zwischen der „Magenfrage" der Sozialdemokraten und der „Veutelfrage" der englischen Freihändler, und erinnert daran, daß nicht die Sozialdemokraten die Lehre erfunden haben, „daß das Sitt¬ liche nur ein andrer Name für das Nützliche ist." Und die „Gleichheitsidee"? Waren es denn, meinte er, Sozialdemokraten, die zuerst den allgemeinen un¬ gestümen Ruf nach unbedingter Freiheit und Gleichheit ertönen ließen, ohne zu ahnen, daß jede vollkommne Freiheit die Gleichheit der Schwachen, jede vollkommne Gleichheit die Freiheit der Starken tötet? „Der Gleichheitsdnrst der Mittelklassen hat sie gehässig gemacht nicht nur gegen den Adel, sondern auch mißgünstig gegen das Königtum. Und much nach Einführung der par¬ lamentarischen Verfassung hat man vielfach getrachtet, zu Ehren der Ausdehnung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/301>, abgerufen am 26.06.2024.