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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Naturforschung und Weltanschauung

Unter Verwertung bekannter Beispiele hat man dann zur Erhaltung der
Art die Elternliebe bis zum Äußersten, die Aufopferung für die Brut als
sittliche Pflicht hingestellt. Eine erfreuliche Perspektive für unsre Herren Söhne,
ein erquickender Ausblick in das Erziehungswesen der Zukunft. Man hat sich
ferner an das Studium des Bienenstaats, des Ameisenstaats usw. gehalten.
Leider kommt man dabei in Nöte. Die einen sind monarchisch, die andern
aristokratisch, andre wieder demokratisch eingerichtet. Und da es auch an
Sklavenhaltern unter den Tieren nicht fehlt, so ist es nicht ganz leicht, das
Richtige zu finden. Vielleicht kommt man noch am weitesten, wenn man sich
an die alten Bibelsprüche hält, die uns die Tugenden der Ameise usw. als
Beispiel vorhalten.

Es ist die Selbstvernichtung der Entwicklungslehre, wenn der Mensch, das
Endziel und die Krone in der körperlichen Entwicklung der Tierreihe, für die
Orientirung seiner geistigen und moralischen Führung Umschau bei den untern
Stufen hält und bei den überwundnen Tierformen Anleihen macht. Ob man
so die "natürliche Moral" finden wird? Die einfachste und klarste Formel
wäre jedenfalls bei der Ausbe zu finden, die frißt, ausscheidet und sich teilt.
Wie viel läßt sich aus dieser Amöbenmvral herausdifteln!

Daß die darwinistisch-materialistische Weltanschauung zusehends im Kurse
sinkt, darau ist mancherlei schuld. Die Trugschlüsse und Unzulänglichkeiten,
bei denen man sich früher nicht lange aufgehalten hat, lassen sich auf die
Dauer nicht mehr verdecken und beschönigen.

Zunächst ist die Entwicklungslehre eigentlich nur eine Forschnngsmethvde,
die auf dem Gebiete der Zoologie und der vergleichenden Anatomie von Darwin
entdeckt und ins einzelne ausgebaut wurde. An sich hat sie noch keinen Inhalt;
sie gewinnt ihn erst bei der Anwendung auf bestimmte Disziplinen. Es ist
ein ungeheurer Fortschritt für die Erkenntnis, verwickelte Erscheinungen nicht
nur so zu betrachten, wie sie sich zunächst geben, sondern, wenn möglich, die
Entwicklung aus einfachern, leichter verstündlichen Formen zu studiren. Wenn
man durch diese Forschuugsmethode auf den verschiedensten Gebieten zum Teil
geradezu überraschende Erfolge erreicht hat, überschätzen darf man deshalb
Methode und Ergebnisse nicht. Gerade Darwin hat in diesem Punkte stets
eine weise Vorsicht bewahrt und sich vor einer Verallgemeinerung seiner Er¬
gebnisse gehütet.

Wenn mau auch heute weiß, daß sich der menschliche Körper aus ein¬
fachern Formen entwickelt hat, so ist doch damit seine ganze Entstehung nicht
erkannt; wir wissen nicht, über welche uns unbekannten Abgründe wir hinweg¬
zuschauen glauben, ohne sie zu sehen oder nur zu ahnen. Die Verquickung
der Darwinschen Forschungen mit der materialistischen Weltanschauung ist
schon oft als unberechtigt hingestellt worden. Sie ist Darwin nicht zur Last
zu legen. An sich ließe sich die Entwicklungstheorie höchstens mit den: ersten


Naturforschung und Weltanschauung

Unter Verwertung bekannter Beispiele hat man dann zur Erhaltung der
Art die Elternliebe bis zum Äußersten, die Aufopferung für die Brut als
sittliche Pflicht hingestellt. Eine erfreuliche Perspektive für unsre Herren Söhne,
ein erquickender Ausblick in das Erziehungswesen der Zukunft. Man hat sich
ferner an das Studium des Bienenstaats, des Ameisenstaats usw. gehalten.
Leider kommt man dabei in Nöte. Die einen sind monarchisch, die andern
aristokratisch, andre wieder demokratisch eingerichtet. Und da es auch an
Sklavenhaltern unter den Tieren nicht fehlt, so ist es nicht ganz leicht, das
Richtige zu finden. Vielleicht kommt man noch am weitesten, wenn man sich
an die alten Bibelsprüche hält, die uns die Tugenden der Ameise usw. als
Beispiel vorhalten.

Es ist die Selbstvernichtung der Entwicklungslehre, wenn der Mensch, das
Endziel und die Krone in der körperlichen Entwicklung der Tierreihe, für die
Orientirung seiner geistigen und moralischen Führung Umschau bei den untern
Stufen hält und bei den überwundnen Tierformen Anleihen macht. Ob man
so die „natürliche Moral" finden wird? Die einfachste und klarste Formel
wäre jedenfalls bei der Ausbe zu finden, die frißt, ausscheidet und sich teilt.
Wie viel läßt sich aus dieser Amöbenmvral herausdifteln!

Daß die darwinistisch-materialistische Weltanschauung zusehends im Kurse
sinkt, darau ist mancherlei schuld. Die Trugschlüsse und Unzulänglichkeiten,
bei denen man sich früher nicht lange aufgehalten hat, lassen sich auf die
Dauer nicht mehr verdecken und beschönigen.

Zunächst ist die Entwicklungslehre eigentlich nur eine Forschnngsmethvde,
die auf dem Gebiete der Zoologie und der vergleichenden Anatomie von Darwin
entdeckt und ins einzelne ausgebaut wurde. An sich hat sie noch keinen Inhalt;
sie gewinnt ihn erst bei der Anwendung auf bestimmte Disziplinen. Es ist
ein ungeheurer Fortschritt für die Erkenntnis, verwickelte Erscheinungen nicht
nur so zu betrachten, wie sie sich zunächst geben, sondern, wenn möglich, die
Entwicklung aus einfachern, leichter verstündlichen Formen zu studiren. Wenn
man durch diese Forschuugsmethode auf den verschiedensten Gebieten zum Teil
geradezu überraschende Erfolge erreicht hat, überschätzen darf man deshalb
Methode und Ergebnisse nicht. Gerade Darwin hat in diesem Punkte stets
eine weise Vorsicht bewahrt und sich vor einer Verallgemeinerung seiner Er¬
gebnisse gehütet.

Wenn mau auch heute weiß, daß sich der menschliche Körper aus ein¬
fachern Formen entwickelt hat, so ist doch damit seine ganze Entstehung nicht
erkannt; wir wissen nicht, über welche uns unbekannten Abgründe wir hinweg¬
zuschauen glauben, ohne sie zu sehen oder nur zu ahnen. Die Verquickung
der Darwinschen Forschungen mit der materialistischen Weltanschauung ist
schon oft als unberechtigt hingestellt worden. Sie ist Darwin nicht zur Last
zu legen. An sich ließe sich die Entwicklungstheorie höchstens mit den: ersten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/29>, abgerufen am 19.10.2024.