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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Naturforschung und Weltanschauung

Kapitel des ersten Buchs Mosis nicht buchstäblich in Übereinstimmung bringen.
Im übrigen hätte sie Raum in jeder geoffenbarten Religion. Die Wahrheit
Darwinscher Forschungen läßt sich also nicht als Beweismittel für den Mate¬
rialismus verwerten.

Ebenso erborgt ist der Kredit, den die materialistische Theorie aus dem
berechtigten Ansehen der Naturwissenschaften zu ziehen versucht. Die Natur¬
wissenschaft verlangt von ihrem Jünger, daß er nichts als bestehend glaube,
was er nicht beweisen kann. Das ist aber kein Satz, den man ohne weiteres
umkehren kann, wie es der Materialismus thut, wenn er sagt: Was man
nicht beweisen kann, das giebt es nicht. Die Geschichte der Naturwissen¬
schaften lehrt das gerade Gegenteil. Es ist fast kein technischer Fortschritt
gemacht worden, ohne daß seine Unmöglichkeit vorher bewiesen worden wäre.
Das Dampfschiff und der Dampfwagen sollten nicht vom Flecke können, und
sie haben sich nachher doch bewegt. Daß es sehr reale Erscheinungen giebt,
von denen man sich vor ihrer Entdeckung nichts hat träumen lassen, hat die
jüngste Vergangenheit gezeigt.

Der größte Fehler der an die Entwicklungslehre angeklebten materialistischen
Weltanschauung ist ein andrer. Vergleichende Anatomie und Zoologie sind
eine zu schmale und zu schwache Grundlage, um darauf eine Weltanschauung
zu gründen. Man kann nur den Mut derer bewundern, die es versucht haben.
Wundern darf man sich aber nicht, wenn ein Gebäude, dessen Grundstein ein
Häufchen Protoplasma ist, anfängt nachzugeben. Man kann sich höchstens
wundern, daß ein so luftiges Gebäude so lange gehalten hat. Man muß sich
ebenso verwundert fragen, was die großen Massen so lange an dieser Lehre
festgehalten hat, was ihr eine Macht verliehen hat, daß sich selbst die berufnen
Vertreter positiver Anschauungen nicht mehr über eine schüchterne Defensive
hinauswagten. Neben dem geborgten Schild naturwissenschaftlicher Exaktheit,
den die Materialisten vor sich hielten, war es vielleicht die Bequemlichkeit,
nichts zu glauben und' nur sich selbst zu vergöttern. Was heute noch die
große Masse daran festhält, ist das Gesetz der Trägheit. Schließlich ist die
materialistische Weltanschauung auch noch eine tüchtige Waffe, mit der große
Parteien -- nicht bloß die sozialdemokratische -- und große Interessengruppen
erfolgreich operiren. Schon aus diesem Grunde muß sie erhalten bleiben und
von Zeit zu Zeit frisch aufgebügelt und in neuer, hochmoderner Fayon wieder
zum Gimpelfang vorgerichtet werden.

Wie schmal und schwach die Grundlage der auf der Entwicklungstheorie
aufgebauten materialistischen Weltanschauung ist, die von einer kleinen Gruppe
organischer Wesen aus die ganze Welt überschauen und erklären zu können
glaubt, sieht der am besten, dem die Entwicklung andrer Disziplinen der
heutigen Naturwissenschaften nicht fremd geblieben ist. Die Ergebnisse der
Zoologie und der vergleichenden Anatomie sind geradezu dürftig zu nennen im


Naturforschung und Weltanschauung

Kapitel des ersten Buchs Mosis nicht buchstäblich in Übereinstimmung bringen.
Im übrigen hätte sie Raum in jeder geoffenbarten Religion. Die Wahrheit
Darwinscher Forschungen läßt sich also nicht als Beweismittel für den Mate¬
rialismus verwerten.

Ebenso erborgt ist der Kredit, den die materialistische Theorie aus dem
berechtigten Ansehen der Naturwissenschaften zu ziehen versucht. Die Natur¬
wissenschaft verlangt von ihrem Jünger, daß er nichts als bestehend glaube,
was er nicht beweisen kann. Das ist aber kein Satz, den man ohne weiteres
umkehren kann, wie es der Materialismus thut, wenn er sagt: Was man
nicht beweisen kann, das giebt es nicht. Die Geschichte der Naturwissen¬
schaften lehrt das gerade Gegenteil. Es ist fast kein technischer Fortschritt
gemacht worden, ohne daß seine Unmöglichkeit vorher bewiesen worden wäre.
Das Dampfschiff und der Dampfwagen sollten nicht vom Flecke können, und
sie haben sich nachher doch bewegt. Daß es sehr reale Erscheinungen giebt,
von denen man sich vor ihrer Entdeckung nichts hat träumen lassen, hat die
jüngste Vergangenheit gezeigt.

Der größte Fehler der an die Entwicklungslehre angeklebten materialistischen
Weltanschauung ist ein andrer. Vergleichende Anatomie und Zoologie sind
eine zu schmale und zu schwache Grundlage, um darauf eine Weltanschauung
zu gründen. Man kann nur den Mut derer bewundern, die es versucht haben.
Wundern darf man sich aber nicht, wenn ein Gebäude, dessen Grundstein ein
Häufchen Protoplasma ist, anfängt nachzugeben. Man kann sich höchstens
wundern, daß ein so luftiges Gebäude so lange gehalten hat. Man muß sich
ebenso verwundert fragen, was die großen Massen so lange an dieser Lehre
festgehalten hat, was ihr eine Macht verliehen hat, daß sich selbst die berufnen
Vertreter positiver Anschauungen nicht mehr über eine schüchterne Defensive
hinauswagten. Neben dem geborgten Schild naturwissenschaftlicher Exaktheit,
den die Materialisten vor sich hielten, war es vielleicht die Bequemlichkeit,
nichts zu glauben und' nur sich selbst zu vergöttern. Was heute noch die
große Masse daran festhält, ist das Gesetz der Trägheit. Schließlich ist die
materialistische Weltanschauung auch noch eine tüchtige Waffe, mit der große
Parteien — nicht bloß die sozialdemokratische — und große Interessengruppen
erfolgreich operiren. Schon aus diesem Grunde muß sie erhalten bleiben und
von Zeit zu Zeit frisch aufgebügelt und in neuer, hochmoderner Fayon wieder
zum Gimpelfang vorgerichtet werden.

Wie schmal und schwach die Grundlage der auf der Entwicklungstheorie
aufgebauten materialistischen Weltanschauung ist, die von einer kleinen Gruppe
organischer Wesen aus die ganze Welt überschauen und erklären zu können
glaubt, sieht der am besten, dem die Entwicklung andrer Disziplinen der
heutigen Naturwissenschaften nicht fremd geblieben ist. Die Ergebnisse der
Zoologie und der vergleichenden Anatomie sind geradezu dürftig zu nennen im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/30>, abgerufen am 27.09.2024.