Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.Naturforschung und Weltanschauung der körperlichen Degeneration der heutigen Kulturmenschheit aufgestellt. Aber Die Krankheit der Zeit -- die Willensschwäche, die innere Leerheit und Es ist kein Zufall, daß mit der Mitte der siebziger Jahre, wo der Dar¬ Naturforschung und Weltanschauung der körperlichen Degeneration der heutigen Kulturmenschheit aufgestellt. Aber Die Krankheit der Zeit — die Willensschwäche, die innere Leerheit und Es ist kein Zufall, daß mit der Mitte der siebziger Jahre, wo der Dar¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0027" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224273"/> <fw type="header" place="top"> Naturforschung und Weltanschauung</fw><lb/> <p xml:id="ID_80" prev="#ID_79"> der körperlichen Degeneration der heutigen Kulturmenschheit aufgestellt. Aber<lb/> die wenigsten Ärzte haben sich davon überzeugen können. Die Tuberkulose,<lb/> diese Massenkrankhcit, die gerade die schwächsten Leute befällt, ist im Gegenteil<lb/> in langsamem, aber gleichmüßigem Rückgang begriffen. Selbst ein Teil der<lb/> Nervenärzte leugnet eine Zunahme der Nerven- und Geisteskrankheiten und<lb/> führt die scheinbare Vermehrung auf größere Genauigkeit der Diagnose und<lb/> Ausdehnung der Anstaltsbehandlung zurück. Jedenfalls haben nur solche<lb/> Krankheiten zugenommen, die durch Vorstellungen hervorgerufen oder ver¬<lb/> schlimmert werden, Nerven- und Geisteskrankheiten, bei denen man früher den<lb/> Einfluß geistiger Zustände auf den Körper anerkannt hat. Man leugnet einen<lb/> solchen Einfluß, wo irgend möglich, führt aber die psychischen Einflüsse als<lb/> Krankheitserreger durch das Hinterpförtchen der Autosuggestion unter andrer<lb/> Firma wieder ein. Daß ein gefährdeter Mensch leichter niederbricht, wenn<lb/> ihm von allen Seiten bewiesen wird, daß der Mensch doch keinen Zweck, kein<lb/> Ziel habe, daß er ein Produkt des Zufalls, der schlechte Witz unbekannter Ur¬<lb/> sachen sei, das ist selbstverständlich.</p><lb/> <p xml:id="ID_81"> Die Krankheit der Zeit — die Willensschwäche, die innere Leerheit und<lb/> Hohlheit, die geringe Widerstandsfähigkeit gegen Beeinflussung (Suggestibilität),<lb/> die rasche Ermüdung, das rasche Aufflammen und noch schnellere Zusammen¬<lb/> klappen, die „reizbare Schwäche" hat ihre Ursachen nicht in körperlicher Ent¬<lb/> artung. Ihre Hauptursache ist die ungenügende Befriedigung des Geistes und<lb/> Gemüts, die die heutige Weltanschauung dem Menschen bietet, der Mangel<lb/> jeder Spur von positiver und idealer Weltanschauung. Es ist — das kann<lb/> man jetzt nach zwanzigjährigen vergeblichem Warten wohl sagen — nicht ge¬<lb/> lungen, aus der Evolutionslehre auch nur die dürftigsten Ergebnisse für Moral<lb/> und Leben herauszupressen. Wer derb und ungenirt zufaßt, der liest sich nur<lb/> die Notwendigkeit des „Kampfes ums Dasein" heraus. So haben sich die<lb/> Sozialdemokraten den rohen Bau ihrer Weltanschauung, die „wissenschaftlichen"<lb/> Grundlagen ihres Systems zurechtgezimmert. Daraus haben sie — mit<lb/> kecken logischen Sprüngen, die die große Masse nicht merkt — die philosophische<lb/> Berechtigung des Rechts der Masse, des Rechts des Stärkern abgeleitet, des<lb/> Rechts zu allem, was man will und kann. Es ist eine eigne Ironie der<lb/> Geschichte, daß dieselbe geistige Bewegung dem Gebildeten den innern Halt,<lb/> Mut und Kraft genommen hat, während die große Masse einen vorüber¬<lb/> gehenden Inhalt gewonnen hat, wenn es auch nur das Ideal ist, berufen zu<lb/> sein, das Bestehende zu zerstören.</p><lb/> <p xml:id="ID_82" next="#ID_83"> Es ist kein Zufall, daß mit der Mitte der siebziger Jahre, wo der Dar¬<lb/> winismus popularisirt wurde, auch der enorme Aufschwung der Sozialdemokratie<lb/> begann. Es ist ein gutes Zeichen für den feinen Spürsinn der sozialdemo¬<lb/> kratischen Führer und für das Sinken der materialistischen Anschauungen, daß<lb/> man in sozialdemokratischen Versammlungen in neuerer Zeit nicht mehr so</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0027]
Naturforschung und Weltanschauung
der körperlichen Degeneration der heutigen Kulturmenschheit aufgestellt. Aber
die wenigsten Ärzte haben sich davon überzeugen können. Die Tuberkulose,
diese Massenkrankhcit, die gerade die schwächsten Leute befällt, ist im Gegenteil
in langsamem, aber gleichmüßigem Rückgang begriffen. Selbst ein Teil der
Nervenärzte leugnet eine Zunahme der Nerven- und Geisteskrankheiten und
führt die scheinbare Vermehrung auf größere Genauigkeit der Diagnose und
Ausdehnung der Anstaltsbehandlung zurück. Jedenfalls haben nur solche
Krankheiten zugenommen, die durch Vorstellungen hervorgerufen oder ver¬
schlimmert werden, Nerven- und Geisteskrankheiten, bei denen man früher den
Einfluß geistiger Zustände auf den Körper anerkannt hat. Man leugnet einen
solchen Einfluß, wo irgend möglich, führt aber die psychischen Einflüsse als
Krankheitserreger durch das Hinterpförtchen der Autosuggestion unter andrer
Firma wieder ein. Daß ein gefährdeter Mensch leichter niederbricht, wenn
ihm von allen Seiten bewiesen wird, daß der Mensch doch keinen Zweck, kein
Ziel habe, daß er ein Produkt des Zufalls, der schlechte Witz unbekannter Ur¬
sachen sei, das ist selbstverständlich.
Die Krankheit der Zeit — die Willensschwäche, die innere Leerheit und
Hohlheit, die geringe Widerstandsfähigkeit gegen Beeinflussung (Suggestibilität),
die rasche Ermüdung, das rasche Aufflammen und noch schnellere Zusammen¬
klappen, die „reizbare Schwäche" hat ihre Ursachen nicht in körperlicher Ent¬
artung. Ihre Hauptursache ist die ungenügende Befriedigung des Geistes und
Gemüts, die die heutige Weltanschauung dem Menschen bietet, der Mangel
jeder Spur von positiver und idealer Weltanschauung. Es ist — das kann
man jetzt nach zwanzigjährigen vergeblichem Warten wohl sagen — nicht ge¬
lungen, aus der Evolutionslehre auch nur die dürftigsten Ergebnisse für Moral
und Leben herauszupressen. Wer derb und ungenirt zufaßt, der liest sich nur
die Notwendigkeit des „Kampfes ums Dasein" heraus. So haben sich die
Sozialdemokraten den rohen Bau ihrer Weltanschauung, die „wissenschaftlichen"
Grundlagen ihres Systems zurechtgezimmert. Daraus haben sie — mit
kecken logischen Sprüngen, die die große Masse nicht merkt — die philosophische
Berechtigung des Rechts der Masse, des Rechts des Stärkern abgeleitet, des
Rechts zu allem, was man will und kann. Es ist eine eigne Ironie der
Geschichte, daß dieselbe geistige Bewegung dem Gebildeten den innern Halt,
Mut und Kraft genommen hat, während die große Masse einen vorüber¬
gehenden Inhalt gewonnen hat, wenn es auch nur das Ideal ist, berufen zu
sein, das Bestehende zu zerstören.
Es ist kein Zufall, daß mit der Mitte der siebziger Jahre, wo der Dar¬
winismus popularisirt wurde, auch der enorme Aufschwung der Sozialdemokratie
begann. Es ist ein gutes Zeichen für den feinen Spürsinn der sozialdemo¬
kratischen Führer und für das Sinken der materialistischen Anschauungen, daß
man in sozialdemokratischen Versammlungen in neuerer Zeit nicht mehr so
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