Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Naturforschung und Weltanschauung

den Naturwissenschaften gezogen worden sind. Sie finden denselben dankbaren,
fast kindlichen Glauben, wie die Erfolge der naturwissenschaftlichen Technik.
Dieser durch nichts zu erschütternde, für unsre Zeit bezeichnende Glaube an
die Naturwissenschaften ist der letzte Grund des raschen, durchschlagenden Er¬
folgs der darwinistisch-materialistischen Weltanschauung.

Diese aus dem Darwinismus entwickelte rein materialistische Welt¬
anschauung herrscht nun in Deutschland ein Vierteljahrhundert sast unbestritten.
Lange genug, um beurteilen zu können, was sie für das allgemeine Wohl ge¬
leistet hat, und was von ihr noch weiter zu erwarten ist.

Daß man sich heutzutage besonders wohl fühle, möchte wohl niemand
behaupten. Fast jedermann hat das Gefühl, daß es irgendwo fehle. Nun
liegt es uns fern, alle offenkundiger Schäden der heutigen Zeit den materia¬
listischen Anschauungen aufzubürden. Aber es ist gewiß ebenso verfehlt, wie
es von gewisser Seite geschieht, den äußern Umstanden, der Übervölkerung,
Störungen des Erwerbslebens, alles das zuzuschreiben, was uns heute drückt.
Daß es dem Menschen heute materiell nicht schlechter geht als vor dreißig
Jahren, ist keine Frage. Die Lohne steigen, jedenfalls sinken sie nicht, die
Getreidepreise, die Preise der Kleidung, der Gegenstände des täglichen Bedarfs
find beispiellos niedrig; Bier- und Tabakverbranch steigen -- auf den Kopf
der Bevölkerung gerechnet -- rasch, in manchen Gegenden beängstigend hoch;
die Sterblichkeitszahl fällt. Für die Linderung von Krankheit und Invalidität
werden Hunderte von Millionen jährlich willig hingegeben. Und doch findet
man keinen zufriedner, glücklichen Menschen, im Mittelstande nicht, bei den
Arbeitern nicht und am allerwenigsten bei den Millionären-

Was wir sind, das sehen wir am besten in dem Spiegel, den uns unsre
Litteratur vorhält. Schwächliche Streber, halb oder ganz gefallene Weiber,
erblich mit Nückenmarkskranlheiten oder interessanten geistigen Anomalien be¬
lastete Abnormitäten schleichen mit Ehebruch und Kassendefekten garnirt über
die Bretter. So erscheinen wir heute im Auge unsrer "Dichter." Die Mehr¬
zahl sühlt es deutlich, daß das heutige Geschlecht nur aus Epigonen großer
Väter und Ahnen besteht. Wenn die Arbeiterpresse dem Mittelstande zuruft,
er sei nur wert, daß er zu Grunde gehe, so hat er dafür nur ein schwäch¬
liches Lächeln; im Grunde seiner Seele glaubt er es selbst, und das ist gerade
seine Schwäche.

Wenn man beabsichtigt Hütte, in einem großen planmüßigen Versuche fest¬
zustellen, was die Wegnahme aller idealen Gedanken, die Beschränkung auf
rein selbstsüchtige, grob materielle und sinnliche Ziele aus einem körperlich und
geistig normalen, wohlbegabter Volke machen kann, das Ergebnis könnte nicht
klarer und eindeutiger sein, als wenn man die Deutschen von 1896 und 18M
bis 1870 mit einander vergleicht. Eine Ahnung dieser Wirkung ist auch den
Vertretern des Materialismus aufgegangen, und so hat man rasch die Theorie


Naturforschung und Weltanschauung

den Naturwissenschaften gezogen worden sind. Sie finden denselben dankbaren,
fast kindlichen Glauben, wie die Erfolge der naturwissenschaftlichen Technik.
Dieser durch nichts zu erschütternde, für unsre Zeit bezeichnende Glaube an
die Naturwissenschaften ist der letzte Grund des raschen, durchschlagenden Er¬
folgs der darwinistisch-materialistischen Weltanschauung.

Diese aus dem Darwinismus entwickelte rein materialistische Welt¬
anschauung herrscht nun in Deutschland ein Vierteljahrhundert sast unbestritten.
Lange genug, um beurteilen zu können, was sie für das allgemeine Wohl ge¬
leistet hat, und was von ihr noch weiter zu erwarten ist.

Daß man sich heutzutage besonders wohl fühle, möchte wohl niemand
behaupten. Fast jedermann hat das Gefühl, daß es irgendwo fehle. Nun
liegt es uns fern, alle offenkundiger Schäden der heutigen Zeit den materia¬
listischen Anschauungen aufzubürden. Aber es ist gewiß ebenso verfehlt, wie
es von gewisser Seite geschieht, den äußern Umstanden, der Übervölkerung,
Störungen des Erwerbslebens, alles das zuzuschreiben, was uns heute drückt.
Daß es dem Menschen heute materiell nicht schlechter geht als vor dreißig
Jahren, ist keine Frage. Die Lohne steigen, jedenfalls sinken sie nicht, die
Getreidepreise, die Preise der Kleidung, der Gegenstände des täglichen Bedarfs
find beispiellos niedrig; Bier- und Tabakverbranch steigen — auf den Kopf
der Bevölkerung gerechnet — rasch, in manchen Gegenden beängstigend hoch;
die Sterblichkeitszahl fällt. Für die Linderung von Krankheit und Invalidität
werden Hunderte von Millionen jährlich willig hingegeben. Und doch findet
man keinen zufriedner, glücklichen Menschen, im Mittelstande nicht, bei den
Arbeitern nicht und am allerwenigsten bei den Millionären-

Was wir sind, das sehen wir am besten in dem Spiegel, den uns unsre
Litteratur vorhält. Schwächliche Streber, halb oder ganz gefallene Weiber,
erblich mit Nückenmarkskranlheiten oder interessanten geistigen Anomalien be¬
lastete Abnormitäten schleichen mit Ehebruch und Kassendefekten garnirt über
die Bretter. So erscheinen wir heute im Auge unsrer „Dichter." Die Mehr¬
zahl sühlt es deutlich, daß das heutige Geschlecht nur aus Epigonen großer
Väter und Ahnen besteht. Wenn die Arbeiterpresse dem Mittelstande zuruft,
er sei nur wert, daß er zu Grunde gehe, so hat er dafür nur ein schwäch¬
liches Lächeln; im Grunde seiner Seele glaubt er es selbst, und das ist gerade
seine Schwäche.

Wenn man beabsichtigt Hütte, in einem großen planmüßigen Versuche fest¬
zustellen, was die Wegnahme aller idealen Gedanken, die Beschränkung auf
rein selbstsüchtige, grob materielle und sinnliche Ziele aus einem körperlich und
geistig normalen, wohlbegabter Volke machen kann, das Ergebnis könnte nicht
klarer und eindeutiger sein, als wenn man die Deutschen von 1896 und 18M
bis 1870 mit einander vergleicht. Eine Ahnung dieser Wirkung ist auch den
Vertretern des Materialismus aufgegangen, und so hat man rasch die Theorie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224272"/>
          <fw type="header" place="top"> Naturforschung und Weltanschauung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_75" prev="#ID_74"> den Naturwissenschaften gezogen worden sind. Sie finden denselben dankbaren,<lb/>
fast kindlichen Glauben, wie die Erfolge der naturwissenschaftlichen Technik.<lb/>
Dieser durch nichts zu erschütternde, für unsre Zeit bezeichnende Glaube an<lb/>
die Naturwissenschaften ist der letzte Grund des raschen, durchschlagenden Er¬<lb/>
folgs der darwinistisch-materialistischen Weltanschauung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_76"> Diese aus dem Darwinismus entwickelte rein materialistische Welt¬<lb/>
anschauung herrscht nun in Deutschland ein Vierteljahrhundert sast unbestritten.<lb/>
Lange genug, um beurteilen zu können, was sie für das allgemeine Wohl ge¬<lb/>
leistet hat, und was von ihr noch weiter zu erwarten ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_77"> Daß man sich heutzutage besonders wohl fühle, möchte wohl niemand<lb/>
behaupten. Fast jedermann hat das Gefühl, daß es irgendwo fehle. Nun<lb/>
liegt es uns fern, alle offenkundiger Schäden der heutigen Zeit den materia¬<lb/>
listischen Anschauungen aufzubürden. Aber es ist gewiß ebenso verfehlt, wie<lb/>
es von gewisser Seite geschieht, den äußern Umstanden, der Übervölkerung,<lb/>
Störungen des Erwerbslebens, alles das zuzuschreiben, was uns heute drückt.<lb/>
Daß es dem Menschen heute materiell nicht schlechter geht als vor dreißig<lb/>
Jahren, ist keine Frage. Die Lohne steigen, jedenfalls sinken sie nicht, die<lb/>
Getreidepreise, die Preise der Kleidung, der Gegenstände des täglichen Bedarfs<lb/>
find beispiellos niedrig; Bier- und Tabakverbranch steigen &#x2014; auf den Kopf<lb/>
der Bevölkerung gerechnet &#x2014; rasch, in manchen Gegenden beängstigend hoch;<lb/>
die Sterblichkeitszahl fällt. Für die Linderung von Krankheit und Invalidität<lb/>
werden Hunderte von Millionen jährlich willig hingegeben. Und doch findet<lb/>
man keinen zufriedner, glücklichen Menschen, im Mittelstande nicht, bei den<lb/>
Arbeitern nicht und am allerwenigsten bei den Millionären-</p><lb/>
          <p xml:id="ID_78"> Was wir sind, das sehen wir am besten in dem Spiegel, den uns unsre<lb/>
Litteratur vorhält. Schwächliche Streber, halb oder ganz gefallene Weiber,<lb/>
erblich mit Nückenmarkskranlheiten oder interessanten geistigen Anomalien be¬<lb/>
lastete Abnormitäten schleichen mit Ehebruch und Kassendefekten garnirt über<lb/>
die Bretter. So erscheinen wir heute im Auge unsrer &#x201E;Dichter." Die Mehr¬<lb/>
zahl sühlt es deutlich, daß das heutige Geschlecht nur aus Epigonen großer<lb/>
Väter und Ahnen besteht. Wenn die Arbeiterpresse dem Mittelstande zuruft,<lb/>
er sei nur wert, daß er zu Grunde gehe, so hat er dafür nur ein schwäch¬<lb/>
liches Lächeln; im Grunde seiner Seele glaubt er es selbst, und das ist gerade<lb/>
seine Schwäche.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_79" next="#ID_80"> Wenn man beabsichtigt Hütte, in einem großen planmüßigen Versuche fest¬<lb/>
zustellen, was die Wegnahme aller idealen Gedanken, die Beschränkung auf<lb/>
rein selbstsüchtige, grob materielle und sinnliche Ziele aus einem körperlich und<lb/>
geistig normalen, wohlbegabter Volke machen kann, das Ergebnis könnte nicht<lb/>
klarer und eindeutiger sein, als wenn man die Deutschen von 1896 und 18M<lb/>
bis 1870 mit einander vergleicht. Eine Ahnung dieser Wirkung ist auch den<lb/>
Vertretern des Materialismus aufgegangen, und so hat man rasch die Theorie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0026] Naturforschung und Weltanschauung den Naturwissenschaften gezogen worden sind. Sie finden denselben dankbaren, fast kindlichen Glauben, wie die Erfolge der naturwissenschaftlichen Technik. Dieser durch nichts zu erschütternde, für unsre Zeit bezeichnende Glaube an die Naturwissenschaften ist der letzte Grund des raschen, durchschlagenden Er¬ folgs der darwinistisch-materialistischen Weltanschauung. Diese aus dem Darwinismus entwickelte rein materialistische Welt¬ anschauung herrscht nun in Deutschland ein Vierteljahrhundert sast unbestritten. Lange genug, um beurteilen zu können, was sie für das allgemeine Wohl ge¬ leistet hat, und was von ihr noch weiter zu erwarten ist. Daß man sich heutzutage besonders wohl fühle, möchte wohl niemand behaupten. Fast jedermann hat das Gefühl, daß es irgendwo fehle. Nun liegt es uns fern, alle offenkundiger Schäden der heutigen Zeit den materia¬ listischen Anschauungen aufzubürden. Aber es ist gewiß ebenso verfehlt, wie es von gewisser Seite geschieht, den äußern Umstanden, der Übervölkerung, Störungen des Erwerbslebens, alles das zuzuschreiben, was uns heute drückt. Daß es dem Menschen heute materiell nicht schlechter geht als vor dreißig Jahren, ist keine Frage. Die Lohne steigen, jedenfalls sinken sie nicht, die Getreidepreise, die Preise der Kleidung, der Gegenstände des täglichen Bedarfs find beispiellos niedrig; Bier- und Tabakverbranch steigen — auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet — rasch, in manchen Gegenden beängstigend hoch; die Sterblichkeitszahl fällt. Für die Linderung von Krankheit und Invalidität werden Hunderte von Millionen jährlich willig hingegeben. Und doch findet man keinen zufriedner, glücklichen Menschen, im Mittelstande nicht, bei den Arbeitern nicht und am allerwenigsten bei den Millionären- Was wir sind, das sehen wir am besten in dem Spiegel, den uns unsre Litteratur vorhält. Schwächliche Streber, halb oder ganz gefallene Weiber, erblich mit Nückenmarkskranlheiten oder interessanten geistigen Anomalien be¬ lastete Abnormitäten schleichen mit Ehebruch und Kassendefekten garnirt über die Bretter. So erscheinen wir heute im Auge unsrer „Dichter." Die Mehr¬ zahl sühlt es deutlich, daß das heutige Geschlecht nur aus Epigonen großer Väter und Ahnen besteht. Wenn die Arbeiterpresse dem Mittelstande zuruft, er sei nur wert, daß er zu Grunde gehe, so hat er dafür nur ein schwäch¬ liches Lächeln; im Grunde seiner Seele glaubt er es selbst, und das ist gerade seine Schwäche. Wenn man beabsichtigt Hütte, in einem großen planmüßigen Versuche fest¬ zustellen, was die Wegnahme aller idealen Gedanken, die Beschränkung auf rein selbstsüchtige, grob materielle und sinnliche Ziele aus einem körperlich und geistig normalen, wohlbegabter Volke machen kann, das Ergebnis könnte nicht klarer und eindeutiger sein, als wenn man die Deutschen von 1896 und 18M bis 1870 mit einander vergleicht. Eine Ahnung dieser Wirkung ist auch den Vertretern des Materialismus aufgegangen, und so hat man rasch die Theorie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/26
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/26>, abgerufen am 27.09.2024.