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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

die großen Talente fehlten, wieder gekommen aber sind wenigstens die letzten
noch immer.

Die Dichtung hat es also, wie alle Kunst, mit dem Leben, dem äußern
und innern Leben zu thun; dieses Leben zu gestalten ist ihre einzige Aufgabe.
Da aber die Kultur das Leben nicht erstickt, sondern es nach allem, was die
Geschichte lehrt, entwickelt und bereichert, trotz einer gewissen Gleichförmigkeit
und Verstandesgemäßheit, die sie gelegentlich auch wohl mit sich bringt, so
kann sie auch der Poesie nicht von vornherein feindlich sein, sie wird nur ge¬
wisse Formen der Poesie veralten lassen, dasür aber andre hervorrufen. Das
Hervortreten dichterischer und künstlerischer Anlage ist im allgemeinen von der
Kultur unabhängig; so gut wie der Drang, die Welt wissenschaftlich zu er¬
gründen, ist auch der, sie künstlerisch in Bildern zu gestalten, der Menschheit
erd- und eigentümlich, die Poesie ist mit dem Menschen selbst gegeben. Es
giebt keinen Gegensatz zwischen Poesie und Leben, oder doch nur einen künstlich
gemachten. Aus dem Leben, das man nicht der Wirklichkeit gleichsetzen soll
-- auch jede Traumwelt ist Leben --, im Einzelfalle aus dem ureigensten des
Dichters wächst die Poesie naturgemäß heraus, und darum kann sie auch nicht
sterben. Es ist die rationalistische oder philiströse Anschauung der Dinge, die
alle Poesie als Lüge, wenn auch "schöne Lüge," der Wirklichkeit als der Wahr¬
heit entgegensetzt; auch die schärfste Erkenntnis und ihre weiteste Verbreitung
wird nicht verhindern, daß man die Welt zu aller Zeit auch im poetischen
Lichte sehen wird; denn nicht nur, daß das menschliche Auge einmal darauf
eingerichtet ist (und zwar schließt das scharfe wissenschaftliche Erkennen die
dichterische Anschauung bei dem nämlichen Menschen keineswegs aus), das
Schöne ist auch, wie Goethe sagt, ein UrPhänomen, "das zwar nie selber zur
Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiednen Äußerungen
des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannichfaltig und verschiedenartig
ist als die Natur selber." Die Klage, daß die Poesie zu Grunde gehe, rührt
meist von Menschen her, die mit ihr auf keinem vertrauten Fuße stehen, oder
solchen, die in einseitigen Anschauungen vom Schönen befangen sind und nicht
das Leben als Urgrund und Stoff der Poesie betrachten, sondern irgend etwas
Abstraktes. Zeiten, wo die Dichtkunst nicht blüht, werden immer einmal kommen,
und es ist vielleicht zuzugeben, daß die Perioden hoher äußerlicher Kultur der
Poesie am ungünstigsten sind. Da wird es unendlich viel Versschreiber,
Dilettanten geben, aber wenig wirkliche Dichter, da kann es auch wohl ge¬
schehen, daß man in verhängnisvoller Verkennung des Grundunterschiedes von
Wissenschaft und Kunst der Worte, aber nicht Begriffe gebrauchenden Dicht¬
kunst wissenschaftlichen Wert antheoretisirt. Aber die Praxis wird der Theorie
stets ein Schnippchen schlagen, die Talente werden den Dilettantismus doch
zuletzt besiegen, oder es wird eben der Sturm und Drang gegen die be¬
lastende Kultur losbrechen, im Namen der Natur, aber doch stets nur mit der


Die sterbende Dichtkunst

die großen Talente fehlten, wieder gekommen aber sind wenigstens die letzten
noch immer.

Die Dichtung hat es also, wie alle Kunst, mit dem Leben, dem äußern
und innern Leben zu thun; dieses Leben zu gestalten ist ihre einzige Aufgabe.
Da aber die Kultur das Leben nicht erstickt, sondern es nach allem, was die
Geschichte lehrt, entwickelt und bereichert, trotz einer gewissen Gleichförmigkeit
und Verstandesgemäßheit, die sie gelegentlich auch wohl mit sich bringt, so
kann sie auch der Poesie nicht von vornherein feindlich sein, sie wird nur ge¬
wisse Formen der Poesie veralten lassen, dasür aber andre hervorrufen. Das
Hervortreten dichterischer und künstlerischer Anlage ist im allgemeinen von der
Kultur unabhängig; so gut wie der Drang, die Welt wissenschaftlich zu er¬
gründen, ist auch der, sie künstlerisch in Bildern zu gestalten, der Menschheit
erd- und eigentümlich, die Poesie ist mit dem Menschen selbst gegeben. Es
giebt keinen Gegensatz zwischen Poesie und Leben, oder doch nur einen künstlich
gemachten. Aus dem Leben, das man nicht der Wirklichkeit gleichsetzen soll
— auch jede Traumwelt ist Leben —, im Einzelfalle aus dem ureigensten des
Dichters wächst die Poesie naturgemäß heraus, und darum kann sie auch nicht
sterben. Es ist die rationalistische oder philiströse Anschauung der Dinge, die
alle Poesie als Lüge, wenn auch „schöne Lüge," der Wirklichkeit als der Wahr¬
heit entgegensetzt; auch die schärfste Erkenntnis und ihre weiteste Verbreitung
wird nicht verhindern, daß man die Welt zu aller Zeit auch im poetischen
Lichte sehen wird; denn nicht nur, daß das menschliche Auge einmal darauf
eingerichtet ist (und zwar schließt das scharfe wissenschaftliche Erkennen die
dichterische Anschauung bei dem nämlichen Menschen keineswegs aus), das
Schöne ist auch, wie Goethe sagt, ein UrPhänomen, „das zwar nie selber zur
Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiednen Äußerungen
des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannichfaltig und verschiedenartig
ist als die Natur selber." Die Klage, daß die Poesie zu Grunde gehe, rührt
meist von Menschen her, die mit ihr auf keinem vertrauten Fuße stehen, oder
solchen, die in einseitigen Anschauungen vom Schönen befangen sind und nicht
das Leben als Urgrund und Stoff der Poesie betrachten, sondern irgend etwas
Abstraktes. Zeiten, wo die Dichtkunst nicht blüht, werden immer einmal kommen,
und es ist vielleicht zuzugeben, daß die Perioden hoher äußerlicher Kultur der
Poesie am ungünstigsten sind. Da wird es unendlich viel Versschreiber,
Dilettanten geben, aber wenig wirkliche Dichter, da kann es auch wohl ge¬
schehen, daß man in verhängnisvoller Verkennung des Grundunterschiedes von
Wissenschaft und Kunst der Worte, aber nicht Begriffe gebrauchenden Dicht¬
kunst wissenschaftlichen Wert antheoretisirt. Aber die Praxis wird der Theorie
stets ein Schnippchen schlagen, die Talente werden den Dilettantismus doch
zuletzt besiegen, oder es wird eben der Sturm und Drang gegen die be¬
lastende Kultur losbrechen, im Namen der Natur, aber doch stets nur mit der


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[0242] Die sterbende Dichtkunst die großen Talente fehlten, wieder gekommen aber sind wenigstens die letzten noch immer. Die Dichtung hat es also, wie alle Kunst, mit dem Leben, dem äußern und innern Leben zu thun; dieses Leben zu gestalten ist ihre einzige Aufgabe. Da aber die Kultur das Leben nicht erstickt, sondern es nach allem, was die Geschichte lehrt, entwickelt und bereichert, trotz einer gewissen Gleichförmigkeit und Verstandesgemäßheit, die sie gelegentlich auch wohl mit sich bringt, so kann sie auch der Poesie nicht von vornherein feindlich sein, sie wird nur ge¬ wisse Formen der Poesie veralten lassen, dasür aber andre hervorrufen. Das Hervortreten dichterischer und künstlerischer Anlage ist im allgemeinen von der Kultur unabhängig; so gut wie der Drang, die Welt wissenschaftlich zu er¬ gründen, ist auch der, sie künstlerisch in Bildern zu gestalten, der Menschheit erd- und eigentümlich, die Poesie ist mit dem Menschen selbst gegeben. Es giebt keinen Gegensatz zwischen Poesie und Leben, oder doch nur einen künstlich gemachten. Aus dem Leben, das man nicht der Wirklichkeit gleichsetzen soll — auch jede Traumwelt ist Leben —, im Einzelfalle aus dem ureigensten des Dichters wächst die Poesie naturgemäß heraus, und darum kann sie auch nicht sterben. Es ist die rationalistische oder philiströse Anschauung der Dinge, die alle Poesie als Lüge, wenn auch „schöne Lüge," der Wirklichkeit als der Wahr¬ heit entgegensetzt; auch die schärfste Erkenntnis und ihre weiteste Verbreitung wird nicht verhindern, daß man die Welt zu aller Zeit auch im poetischen Lichte sehen wird; denn nicht nur, daß das menschliche Auge einmal darauf eingerichtet ist (und zwar schließt das scharfe wissenschaftliche Erkennen die dichterische Anschauung bei dem nämlichen Menschen keineswegs aus), das Schöne ist auch, wie Goethe sagt, ein UrPhänomen, „das zwar nie selber zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiednen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannichfaltig und verschiedenartig ist als die Natur selber." Die Klage, daß die Poesie zu Grunde gehe, rührt meist von Menschen her, die mit ihr auf keinem vertrauten Fuße stehen, oder solchen, die in einseitigen Anschauungen vom Schönen befangen sind und nicht das Leben als Urgrund und Stoff der Poesie betrachten, sondern irgend etwas Abstraktes. Zeiten, wo die Dichtkunst nicht blüht, werden immer einmal kommen, und es ist vielleicht zuzugeben, daß die Perioden hoher äußerlicher Kultur der Poesie am ungünstigsten sind. Da wird es unendlich viel Versschreiber, Dilettanten geben, aber wenig wirkliche Dichter, da kann es auch wohl ge¬ schehen, daß man in verhängnisvoller Verkennung des Grundunterschiedes von Wissenschaft und Kunst der Worte, aber nicht Begriffe gebrauchenden Dicht¬ kunst wissenschaftlichen Wert antheoretisirt. Aber die Praxis wird der Theorie stets ein Schnippchen schlagen, die Talente werden den Dilettantismus doch zuletzt besiegen, oder es wird eben der Sturm und Drang gegen die be¬ lastende Kultur losbrechen, im Namen der Natur, aber doch stets nur mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/242>, abgerufen am 19.10.2024.