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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

rohen Wirklichkeit, steht das wahre Leben mitten drin, mit dem alle wahren
Dichter in stetem Zusammenhang geblieben sind, von dein sie erfüllt waren,
und das sie in ihren Werken zu wirklich dichterischer Darstellung brachten.

So ist denn Maeaulahs Satz: "Wer in einem aufgeklärten und hoch¬
gebildeten Zeitalter darnach strebt, ein großer Dichter zu sein, der muß damit
anfangen, wieder zum Kinde zu werden," und alles, was ihm folgt, geradezu
unsinnig. Allerdings hat das dichterische, das künstlerische Wesen eine be¬
stimmte Naivität, meinetwegen selbst Kindlichkeit, aber die ist ihm angeboren,
und sie hindert es durchaus nicht, sich auch des geistigen Gehalts, der Bildung
seiner Zeit zu bemächtigen. Man hat es jedoch stets geliebt, den Künstler als
großes Kind aufzufassen (wenn man auch nicht soweit ging wie Macaulay,
gleichsam eine Wiedergeburt als Kind zu verlangen), und manche Künstler
haben gern das naive Kind gespielt -- das waren aber selten die rechten.
"Es giebt eine doppelte Naivität, sagt Hebbel in seinem Aufsatz "Wie
verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntnis zu einander?" die triviale,
die auf lauter Negationen beruht, und die echte, die nicht den Geist und
also auch nicht das von diesem unzertrennliche Bewußtsein, wohl aber eine
bestimmte Form des Geistes, die Reflexion ausschließt." Anstatt also, wie
Macaulay will, das ganze Gewebe seines Geistes zu zerreißen, muß und
wird es der Dichter eher dichter zusammenziehen, konzentriren, anstatt die
erlangte Bildung zu verlernen, wird er sie seiner Natur gemäß immer all¬
seitiger ausgestalten. Das beste Beispiel ist hier Goethe, der bis an seinen
Tod unermüdlich strebte, darum aber doch, wie Schiller bald herausfand, ein
durchaus naiver Dichter war. Die Bildung thut es freilich nicht, sondern die
angeborne poetische Kraft, aber man soll nur nicht, während man vom Dichter
Entwicklung verlangt, die geistige Kraft des Menschen zur Verkümmerung ver¬
dammen, ein künstliches Barbarentum als Ideal hinstellen, das notwendig den
Eindruck des Stmumelns hervorbringen oder an eine künstliche Ruine erinnern
würde; das dichterische Talent fordert auch die geistige Entwicklung des
Menschen. Wohl kaun um seine Bildung den Dichter unter Umständen ver¬
fuhren, die großen Muster früherer Zeit äußerlich nachzuahmen, wo dann eine
künstliche Ruine wie Goethes Achilleis unter Umständen das Ergebnis sein
kann; im allgemeinen hat aber der Dichter das Bestreben, aus seiner Zeit
heraus zu schaffen, das Leben seiner Zeit, das doch auch sein eignes, in ihm
gewachsen und geworden, sein Glück und Unglück ist, zu gestalten, ja er kann
gar nicht anders. Daß ihm der Geist der Zeit einmal widerstehen, eine be¬
stimmte Kultur poetisch schwer flüssig zu macheu sein kann, läßt sich nicht be¬
streikn, aber damit ist keineswegs gesagt, daß die Kultur die Poesie schon an
und für sich unmöglich mache; in der Regel wird man, wenn die Darstellung
einer Zeit nicht gelingt, die Schuld auf die ungenügenden Talente schieben
können. Alle modernen Völker haben Perioden gehabt, wo die Genies und


Grenzboten I 1897 30
Die sterbende Dichtkunst

rohen Wirklichkeit, steht das wahre Leben mitten drin, mit dem alle wahren
Dichter in stetem Zusammenhang geblieben sind, von dein sie erfüllt waren,
und das sie in ihren Werken zu wirklich dichterischer Darstellung brachten.

So ist denn Maeaulahs Satz: „Wer in einem aufgeklärten und hoch¬
gebildeten Zeitalter darnach strebt, ein großer Dichter zu sein, der muß damit
anfangen, wieder zum Kinde zu werden," und alles, was ihm folgt, geradezu
unsinnig. Allerdings hat das dichterische, das künstlerische Wesen eine be¬
stimmte Naivität, meinetwegen selbst Kindlichkeit, aber die ist ihm angeboren,
und sie hindert es durchaus nicht, sich auch des geistigen Gehalts, der Bildung
seiner Zeit zu bemächtigen. Man hat es jedoch stets geliebt, den Künstler als
großes Kind aufzufassen (wenn man auch nicht soweit ging wie Macaulay,
gleichsam eine Wiedergeburt als Kind zu verlangen), und manche Künstler
haben gern das naive Kind gespielt — das waren aber selten die rechten.
„Es giebt eine doppelte Naivität, sagt Hebbel in seinem Aufsatz »Wie
verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntnis zu einander?« die triviale,
die auf lauter Negationen beruht, und die echte, die nicht den Geist und
also auch nicht das von diesem unzertrennliche Bewußtsein, wohl aber eine
bestimmte Form des Geistes, die Reflexion ausschließt." Anstatt also, wie
Macaulay will, das ganze Gewebe seines Geistes zu zerreißen, muß und
wird es der Dichter eher dichter zusammenziehen, konzentriren, anstatt die
erlangte Bildung zu verlernen, wird er sie seiner Natur gemäß immer all¬
seitiger ausgestalten. Das beste Beispiel ist hier Goethe, der bis an seinen
Tod unermüdlich strebte, darum aber doch, wie Schiller bald herausfand, ein
durchaus naiver Dichter war. Die Bildung thut es freilich nicht, sondern die
angeborne poetische Kraft, aber man soll nur nicht, während man vom Dichter
Entwicklung verlangt, die geistige Kraft des Menschen zur Verkümmerung ver¬
dammen, ein künstliches Barbarentum als Ideal hinstellen, das notwendig den
Eindruck des Stmumelns hervorbringen oder an eine künstliche Ruine erinnern
würde; das dichterische Talent fordert auch die geistige Entwicklung des
Menschen. Wohl kaun um seine Bildung den Dichter unter Umständen ver¬
fuhren, die großen Muster früherer Zeit äußerlich nachzuahmen, wo dann eine
künstliche Ruine wie Goethes Achilleis unter Umständen das Ergebnis sein
kann; im allgemeinen hat aber der Dichter das Bestreben, aus seiner Zeit
heraus zu schaffen, das Leben seiner Zeit, das doch auch sein eignes, in ihm
gewachsen und geworden, sein Glück und Unglück ist, zu gestalten, ja er kann
gar nicht anders. Daß ihm der Geist der Zeit einmal widerstehen, eine be¬
stimmte Kultur poetisch schwer flüssig zu macheu sein kann, läßt sich nicht be¬
streikn, aber damit ist keineswegs gesagt, daß die Kultur die Poesie schon an
und für sich unmöglich mache; in der Regel wird man, wenn die Darstellung
einer Zeit nicht gelingt, die Schuld auf die ungenügenden Talente schieben
können. Alle modernen Völker haben Perioden gehabt, wo die Genies und


Grenzboten I 1897 30
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[0241] Die sterbende Dichtkunst rohen Wirklichkeit, steht das wahre Leben mitten drin, mit dem alle wahren Dichter in stetem Zusammenhang geblieben sind, von dein sie erfüllt waren, und das sie in ihren Werken zu wirklich dichterischer Darstellung brachten. So ist denn Maeaulahs Satz: „Wer in einem aufgeklärten und hoch¬ gebildeten Zeitalter darnach strebt, ein großer Dichter zu sein, der muß damit anfangen, wieder zum Kinde zu werden," und alles, was ihm folgt, geradezu unsinnig. Allerdings hat das dichterische, das künstlerische Wesen eine be¬ stimmte Naivität, meinetwegen selbst Kindlichkeit, aber die ist ihm angeboren, und sie hindert es durchaus nicht, sich auch des geistigen Gehalts, der Bildung seiner Zeit zu bemächtigen. Man hat es jedoch stets geliebt, den Künstler als großes Kind aufzufassen (wenn man auch nicht soweit ging wie Macaulay, gleichsam eine Wiedergeburt als Kind zu verlangen), und manche Künstler haben gern das naive Kind gespielt — das waren aber selten die rechten. „Es giebt eine doppelte Naivität, sagt Hebbel in seinem Aufsatz »Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntnis zu einander?« die triviale, die auf lauter Negationen beruht, und die echte, die nicht den Geist und also auch nicht das von diesem unzertrennliche Bewußtsein, wohl aber eine bestimmte Form des Geistes, die Reflexion ausschließt." Anstatt also, wie Macaulay will, das ganze Gewebe seines Geistes zu zerreißen, muß und wird es der Dichter eher dichter zusammenziehen, konzentriren, anstatt die erlangte Bildung zu verlernen, wird er sie seiner Natur gemäß immer all¬ seitiger ausgestalten. Das beste Beispiel ist hier Goethe, der bis an seinen Tod unermüdlich strebte, darum aber doch, wie Schiller bald herausfand, ein durchaus naiver Dichter war. Die Bildung thut es freilich nicht, sondern die angeborne poetische Kraft, aber man soll nur nicht, während man vom Dichter Entwicklung verlangt, die geistige Kraft des Menschen zur Verkümmerung ver¬ dammen, ein künstliches Barbarentum als Ideal hinstellen, das notwendig den Eindruck des Stmumelns hervorbringen oder an eine künstliche Ruine erinnern würde; das dichterische Talent fordert auch die geistige Entwicklung des Menschen. Wohl kaun um seine Bildung den Dichter unter Umständen ver¬ fuhren, die großen Muster früherer Zeit äußerlich nachzuahmen, wo dann eine künstliche Ruine wie Goethes Achilleis unter Umständen das Ergebnis sein kann; im allgemeinen hat aber der Dichter das Bestreben, aus seiner Zeit heraus zu schaffen, das Leben seiner Zeit, das doch auch sein eignes, in ihm gewachsen und geworden, sein Glück und Unglück ist, zu gestalten, ja er kann gar nicht anders. Daß ihm der Geist der Zeit einmal widerstehen, eine be¬ stimmte Kultur poetisch schwer flüssig zu macheu sein kann, läßt sich nicht be¬ streikn, aber damit ist keineswegs gesagt, daß die Kultur die Poesie schon an und für sich unmöglich mache; in der Regel wird man, wenn die Darstellung einer Zeit nicht gelingt, die Schuld auf die ungenügenden Talente schieben können. Alle modernen Völker haben Perioden gehabt, wo die Genies und Grenzboten I 1897 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/241>, abgerufen am 27.09.2024.