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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

nicht geschehen, und stets werden eigentümlich kräftige Persönlichkeiten die kon¬
ventionellen Schranken durchbrechen. Die Litteraturgeschichte unterscheidet ihre
Perioden in der Hauptsache darnach, ob Natur oder Kultur vorherrscht, und
jedenfalls folgt auf eine Zeit, die auf ihre Kultur besonders stolz ist, immer
wieder eine, die diese Kultur als Last abzuschütteln sucht und nach der Natur
zurückstrebt. Aber, wie gesagt, einen Gegensatz bilden Natur und Kultur doch
nur in der Theorie; was uns als Natur erscheint, ist in vieler Hinsicht doch schon
wieder Kultur, ja wir können uns im Grunde die Natur ebensowenig ohne
Kultur denken, wie den Geist ohne Körper. Gewöhnlich wird, zumal auf dem
Gebiete der Poesie, die Natur der Wahrheit gleichgesetzt, aber eine absolute
Wahrheit giebt es auch nicht, und es setzt in der Regel eine bestimmte Kultur
voraus, künstlerisch wahr zu sein. Gerade die Perioden primitiver Kunst ge¬
langen leicht zu gewissen Schablonenhaften und unwahren Kunsttypen; die
griechische Bildhauerkunst wie die italienische Malerei war nicht in ihren
Anfängen, sondern auf ihrer Höhe am naturwahrsten. In gewisser Weise gilt
das auch für die Poesie, obwohl ihre Entwicklung der der bildenden Künste
nicht gerade parallel läuft; auch die Kunst, für die Phantasie Menschen
plastisch hinzustellen, will gelernt sein. Am besten können wir diese Entwicklung
beim Drama verfolgen, das von sehr primitiven Gebilden zu vollendeten Orga¬
nismen fortzuschreiten pflegt, wenn nicht ein Bruch in der Entwicklung eintritt.
Gerade hier erscheint die Behauptung, daß die Poesie ihren Zweck am voll¬
kommensten in einem unaufgeklärten Zeitalter erreiche, am thörichtsten. Die
Blüte des griechischen Dramas erfolgte sicherlich in dem aufgeklärtesten Zeit¬
alter Griechenlands, und ob das Zeitalter Shakespeares, wenn wir die Haupt¬
sachen ins Ange fassen, nicht aufgeklärter und vor allem vorurteilsloser war
als das ihm folgende der Puritanerherrschaft, wäre doch immerhin einer Er¬
wägung wert. Vielleicht waren die Zeitgenossen Shakespeares in gewisser Hin¬
sicht sogar aufgeklärter als die Mcicaulays, die im Banne des ärgsten Land
standen. Es ist auch eine Aufklärung, wenn man die Natur des Menschen
kennt und ihr nicht Gewalt anthun will.

Entwicklung der Epik, Entwicklung der Lyrik, Entwicklung des Dramas --
das haben wir bisher als die naturgemäße Entwickluugsfolge der Poesie an¬
genommen. Sehen wir auf die griechische Entwicklung im Altertum, so möchte
man uach der Entwicklung des Dramas ein langsames Sinken der poetischen
Kraft als die Regel hinstellen. Doch kam nach der Entwicklung des Dramas
bei den Griechen immerhin noch die der Idylle -- Theokrit kann man Natur
gewiß nicht absprechen --, es kamen noch die milesischen Märchen und später
die Romane, Formen, die hie und da meisterhaft ausgefüllt wurden. Ich
möchte aber die griechische Entwicklung, die des Altertums überhaupt gar nicht
als maßgebend angesehen wissen; das griechische Volk war am Ende zu klein,
als daß es die Kraft der Selbsterneuerung hätte in sich tragen können, es


Die sterbende Dichtkunst

nicht geschehen, und stets werden eigentümlich kräftige Persönlichkeiten die kon¬
ventionellen Schranken durchbrechen. Die Litteraturgeschichte unterscheidet ihre
Perioden in der Hauptsache darnach, ob Natur oder Kultur vorherrscht, und
jedenfalls folgt auf eine Zeit, die auf ihre Kultur besonders stolz ist, immer
wieder eine, die diese Kultur als Last abzuschütteln sucht und nach der Natur
zurückstrebt. Aber, wie gesagt, einen Gegensatz bilden Natur und Kultur doch
nur in der Theorie; was uns als Natur erscheint, ist in vieler Hinsicht doch schon
wieder Kultur, ja wir können uns im Grunde die Natur ebensowenig ohne
Kultur denken, wie den Geist ohne Körper. Gewöhnlich wird, zumal auf dem
Gebiete der Poesie, die Natur der Wahrheit gleichgesetzt, aber eine absolute
Wahrheit giebt es auch nicht, und es setzt in der Regel eine bestimmte Kultur
voraus, künstlerisch wahr zu sein. Gerade die Perioden primitiver Kunst ge¬
langen leicht zu gewissen Schablonenhaften und unwahren Kunsttypen; die
griechische Bildhauerkunst wie die italienische Malerei war nicht in ihren
Anfängen, sondern auf ihrer Höhe am naturwahrsten. In gewisser Weise gilt
das auch für die Poesie, obwohl ihre Entwicklung der der bildenden Künste
nicht gerade parallel läuft; auch die Kunst, für die Phantasie Menschen
plastisch hinzustellen, will gelernt sein. Am besten können wir diese Entwicklung
beim Drama verfolgen, das von sehr primitiven Gebilden zu vollendeten Orga¬
nismen fortzuschreiten pflegt, wenn nicht ein Bruch in der Entwicklung eintritt.
Gerade hier erscheint die Behauptung, daß die Poesie ihren Zweck am voll¬
kommensten in einem unaufgeklärten Zeitalter erreiche, am thörichtsten. Die
Blüte des griechischen Dramas erfolgte sicherlich in dem aufgeklärtesten Zeit¬
alter Griechenlands, und ob das Zeitalter Shakespeares, wenn wir die Haupt¬
sachen ins Ange fassen, nicht aufgeklärter und vor allem vorurteilsloser war
als das ihm folgende der Puritanerherrschaft, wäre doch immerhin einer Er¬
wägung wert. Vielleicht waren die Zeitgenossen Shakespeares in gewisser Hin¬
sicht sogar aufgeklärter als die Mcicaulays, die im Banne des ärgsten Land
standen. Es ist auch eine Aufklärung, wenn man die Natur des Menschen
kennt und ihr nicht Gewalt anthun will.

Entwicklung der Epik, Entwicklung der Lyrik, Entwicklung des Dramas —
das haben wir bisher als die naturgemäße Entwickluugsfolge der Poesie an¬
genommen. Sehen wir auf die griechische Entwicklung im Altertum, so möchte
man uach der Entwicklung des Dramas ein langsames Sinken der poetischen
Kraft als die Regel hinstellen. Doch kam nach der Entwicklung des Dramas
bei den Griechen immerhin noch die der Idylle — Theokrit kann man Natur
gewiß nicht absprechen —, es kamen noch die milesischen Märchen und später
die Romane, Formen, die hie und da meisterhaft ausgefüllt wurden. Ich
möchte aber die griechische Entwicklung, die des Altertums überhaupt gar nicht
als maßgebend angesehen wissen; das griechische Volk war am Ende zu klein,
als daß es die Kraft der Selbsterneuerung hätte in sich tragen können, es


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[0239] Die sterbende Dichtkunst nicht geschehen, und stets werden eigentümlich kräftige Persönlichkeiten die kon¬ ventionellen Schranken durchbrechen. Die Litteraturgeschichte unterscheidet ihre Perioden in der Hauptsache darnach, ob Natur oder Kultur vorherrscht, und jedenfalls folgt auf eine Zeit, die auf ihre Kultur besonders stolz ist, immer wieder eine, die diese Kultur als Last abzuschütteln sucht und nach der Natur zurückstrebt. Aber, wie gesagt, einen Gegensatz bilden Natur und Kultur doch nur in der Theorie; was uns als Natur erscheint, ist in vieler Hinsicht doch schon wieder Kultur, ja wir können uns im Grunde die Natur ebensowenig ohne Kultur denken, wie den Geist ohne Körper. Gewöhnlich wird, zumal auf dem Gebiete der Poesie, die Natur der Wahrheit gleichgesetzt, aber eine absolute Wahrheit giebt es auch nicht, und es setzt in der Regel eine bestimmte Kultur voraus, künstlerisch wahr zu sein. Gerade die Perioden primitiver Kunst ge¬ langen leicht zu gewissen Schablonenhaften und unwahren Kunsttypen; die griechische Bildhauerkunst wie die italienische Malerei war nicht in ihren Anfängen, sondern auf ihrer Höhe am naturwahrsten. In gewisser Weise gilt das auch für die Poesie, obwohl ihre Entwicklung der der bildenden Künste nicht gerade parallel läuft; auch die Kunst, für die Phantasie Menschen plastisch hinzustellen, will gelernt sein. Am besten können wir diese Entwicklung beim Drama verfolgen, das von sehr primitiven Gebilden zu vollendeten Orga¬ nismen fortzuschreiten pflegt, wenn nicht ein Bruch in der Entwicklung eintritt. Gerade hier erscheint die Behauptung, daß die Poesie ihren Zweck am voll¬ kommensten in einem unaufgeklärten Zeitalter erreiche, am thörichtsten. Die Blüte des griechischen Dramas erfolgte sicherlich in dem aufgeklärtesten Zeit¬ alter Griechenlands, und ob das Zeitalter Shakespeares, wenn wir die Haupt¬ sachen ins Ange fassen, nicht aufgeklärter und vor allem vorurteilsloser war als das ihm folgende der Puritanerherrschaft, wäre doch immerhin einer Er¬ wägung wert. Vielleicht waren die Zeitgenossen Shakespeares in gewisser Hin¬ sicht sogar aufgeklärter als die Mcicaulays, die im Banne des ärgsten Land standen. Es ist auch eine Aufklärung, wenn man die Natur des Menschen kennt und ihr nicht Gewalt anthun will. Entwicklung der Epik, Entwicklung der Lyrik, Entwicklung des Dramas — das haben wir bisher als die naturgemäße Entwickluugsfolge der Poesie an¬ genommen. Sehen wir auf die griechische Entwicklung im Altertum, so möchte man uach der Entwicklung des Dramas ein langsames Sinken der poetischen Kraft als die Regel hinstellen. Doch kam nach der Entwicklung des Dramas bei den Griechen immerhin noch die der Idylle — Theokrit kann man Natur gewiß nicht absprechen —, es kamen noch die milesischen Märchen und später die Romane, Formen, die hie und da meisterhaft ausgefüllt wurden. Ich möchte aber die griechische Entwicklung, die des Altertums überhaupt gar nicht als maßgebend angesehen wissen; das griechische Volk war am Ende zu klein, als daß es die Kraft der Selbsterneuerung hätte in sich tragen können, es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/239>, abgerufen am 26.06.2024.