Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die sterbende Dichtkunst

ist freilich sehr unfrei, aber ein wahrer Dichter wird auch mit ihr noch etwas
anfangen können. Nach der Theorie Zolas, die die Analyse und Beschreibung
wirklich als das Wesentliche hinstellt und die poetische Thätigkeit zur wissen¬
schaftlichen machen möchte, wird er freilich nicht verfahren dürfen; aber bekannt¬
lich thut das Zola auch selbst nicht. Die naturalistische Theorie kann man,
wenn man will, als Bestätigung der Macaulayschen Ansichten ansehen, aber
glücklicherweise ist die Praxis der bedeutendern Dichter nie der Theorie ent¬
sprechend ausgefallen. Auch der Naturalist stellt mit Phantasie für die Phan¬
tasie dar, ja wenn man genau hinsieht, wird man vielleicht finden, daß er fast
größere Anforderungen an die Phantasie stellt als der Dichter früherer Zeiten,
denn er verfährt unendlich viel kleinlicher und zwingt uns mit Hilfe der Phan¬
tasie eine solche Fülle von Dingen unsrer Erinnerung (die uns, wie sich der
schon angeführte Ästhetiker ausdrückt, in ihrer geistigen Abgrenzung bis dahin
vollkommen unentdeckt geblieben sind) wachzurufen, daß unter Umstünden eine
förmliche Quälerei der Phantasie entsteht. Hier findet denn auch der Natu¬
ralismus seine ästhetische Grenze; über einen bestimmten Grad hinaus darf
und kann es der Dichter in der Wiedergabe von Zügen der Wirklichkeit nicht
treiben, ohne die Anschauung unmöglich zu machen, wenigstens die Gesamtan¬
schauung, die doch auf alle Fälle wesentlicher ist als die Treue im einzelnen.
Ganz sicher ist der Naturalismus unter dem Einfluß der Kultur unsrer Zeit
entstanden, der naturwissenschaftlich-technischen meinetwegen, aber natürlich kann
die Naturwissenschaft nicht, wie schlechte Ästhetiker wohl behaupten, die poetische
Kraft ersetzen, nicht einmal den Blick des Dichters schürfen; die Phantasie
und nicht die Analyse macht uach wie vor die Poesie, und Darstellung für die
Phantasie ist und bleibt ihre Aufgabe. Da giebt es nun freilich, gerade weil die
Kultur die Meuschen und Dinge äußerlich gleichförmiger gemacht hat, ohne doch
die Besonderheit der innern Zustände verwischen zu können, oft große Schwierig¬
keiten bei der Gestaltung, das sogenannte "Milieu" will anschaulicher gemacht
werden, als es bisher geschehen ist, die Seelenzustände wollen genauer entwickelt
werden, aber das kann doch wieder nur mit poetischen Mitteln geschehen. Es
genügt nicht, z. B. die Markthallen von Paris durch genaues statistisches Material
zu beschreiben, Herz und Seele etwa wie ein anatomisches Präparat zu be-
handeln; jede Örtlichkeit muß für das seelische Auge wirklich lebendig gemacht,
jeder Seelenzustand in epischer Bewegung oder lyrischer Empfindungsfülle ge¬
zeigt werden -- und der wahre Dichter thut das auch. So bedeutet selbst
der Naturalismus keineswegs das Ende der Poesie.

Noch weniger als auf epischem ist dieses auf lyrischem oder dramatischem
Gebiete zu fürchten. Die Lyrik ist die elementarste Poesie und wird das ewig
bleiben, mag sich die Kultur noch so sehr ausbreiten und noch so tief eindringen.
Wohl kommen Zeiten, wo anch die Lyrik den unmittelbaren Gefühlsausdruck
nicht zu finden vermag und konventionell wird, aber ans die Dauer kann das


Die sterbende Dichtkunst

ist freilich sehr unfrei, aber ein wahrer Dichter wird auch mit ihr noch etwas
anfangen können. Nach der Theorie Zolas, die die Analyse und Beschreibung
wirklich als das Wesentliche hinstellt und die poetische Thätigkeit zur wissen¬
schaftlichen machen möchte, wird er freilich nicht verfahren dürfen; aber bekannt¬
lich thut das Zola auch selbst nicht. Die naturalistische Theorie kann man,
wenn man will, als Bestätigung der Macaulayschen Ansichten ansehen, aber
glücklicherweise ist die Praxis der bedeutendern Dichter nie der Theorie ent¬
sprechend ausgefallen. Auch der Naturalist stellt mit Phantasie für die Phan¬
tasie dar, ja wenn man genau hinsieht, wird man vielleicht finden, daß er fast
größere Anforderungen an die Phantasie stellt als der Dichter früherer Zeiten,
denn er verfährt unendlich viel kleinlicher und zwingt uns mit Hilfe der Phan¬
tasie eine solche Fülle von Dingen unsrer Erinnerung (die uns, wie sich der
schon angeführte Ästhetiker ausdrückt, in ihrer geistigen Abgrenzung bis dahin
vollkommen unentdeckt geblieben sind) wachzurufen, daß unter Umstünden eine
förmliche Quälerei der Phantasie entsteht. Hier findet denn auch der Natu¬
ralismus seine ästhetische Grenze; über einen bestimmten Grad hinaus darf
und kann es der Dichter in der Wiedergabe von Zügen der Wirklichkeit nicht
treiben, ohne die Anschauung unmöglich zu machen, wenigstens die Gesamtan¬
schauung, die doch auf alle Fälle wesentlicher ist als die Treue im einzelnen.
Ganz sicher ist der Naturalismus unter dem Einfluß der Kultur unsrer Zeit
entstanden, der naturwissenschaftlich-technischen meinetwegen, aber natürlich kann
die Naturwissenschaft nicht, wie schlechte Ästhetiker wohl behaupten, die poetische
Kraft ersetzen, nicht einmal den Blick des Dichters schürfen; die Phantasie
und nicht die Analyse macht uach wie vor die Poesie, und Darstellung für die
Phantasie ist und bleibt ihre Aufgabe. Da giebt es nun freilich, gerade weil die
Kultur die Meuschen und Dinge äußerlich gleichförmiger gemacht hat, ohne doch
die Besonderheit der innern Zustände verwischen zu können, oft große Schwierig¬
keiten bei der Gestaltung, das sogenannte „Milieu" will anschaulicher gemacht
werden, als es bisher geschehen ist, die Seelenzustände wollen genauer entwickelt
werden, aber das kann doch wieder nur mit poetischen Mitteln geschehen. Es
genügt nicht, z. B. die Markthallen von Paris durch genaues statistisches Material
zu beschreiben, Herz und Seele etwa wie ein anatomisches Präparat zu be-
handeln; jede Örtlichkeit muß für das seelische Auge wirklich lebendig gemacht,
jeder Seelenzustand in epischer Bewegung oder lyrischer Empfindungsfülle ge¬
zeigt werden — und der wahre Dichter thut das auch. So bedeutet selbst
der Naturalismus keineswegs das Ende der Poesie.

Noch weniger als auf epischem ist dieses auf lyrischem oder dramatischem
Gebiete zu fürchten. Die Lyrik ist die elementarste Poesie und wird das ewig
bleiben, mag sich die Kultur noch so sehr ausbreiten und noch so tief eindringen.
Wohl kommen Zeiten, wo anch die Lyrik den unmittelbaren Gefühlsausdruck
nicht zu finden vermag und konventionell wird, aber ans die Dauer kann das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0238" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224484"/>
          <fw type="header" place="top"> Die sterbende Dichtkunst</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_631" prev="#ID_630"> ist freilich sehr unfrei, aber ein wahrer Dichter wird auch mit ihr noch etwas<lb/>
anfangen können. Nach der Theorie Zolas, die die Analyse und Beschreibung<lb/>
wirklich als das Wesentliche hinstellt und die poetische Thätigkeit zur wissen¬<lb/>
schaftlichen machen möchte, wird er freilich nicht verfahren dürfen; aber bekannt¬<lb/>
lich thut das Zola auch selbst nicht. Die naturalistische Theorie kann man,<lb/>
wenn man will, als Bestätigung der Macaulayschen Ansichten ansehen, aber<lb/>
glücklicherweise ist die Praxis der bedeutendern Dichter nie der Theorie ent¬<lb/>
sprechend ausgefallen. Auch der Naturalist stellt mit Phantasie für die Phan¬<lb/>
tasie dar, ja wenn man genau hinsieht, wird man vielleicht finden, daß er fast<lb/>
größere Anforderungen an die Phantasie stellt als der Dichter früherer Zeiten,<lb/>
denn er verfährt unendlich viel kleinlicher und zwingt uns mit Hilfe der Phan¬<lb/>
tasie eine solche Fülle von Dingen unsrer Erinnerung (die uns, wie sich der<lb/>
schon angeführte Ästhetiker ausdrückt, in ihrer geistigen Abgrenzung bis dahin<lb/>
vollkommen unentdeckt geblieben sind) wachzurufen, daß unter Umstünden eine<lb/>
förmliche Quälerei der Phantasie entsteht. Hier findet denn auch der Natu¬<lb/>
ralismus seine ästhetische Grenze; über einen bestimmten Grad hinaus darf<lb/>
und kann es der Dichter in der Wiedergabe von Zügen der Wirklichkeit nicht<lb/>
treiben, ohne die Anschauung unmöglich zu machen, wenigstens die Gesamtan¬<lb/>
schauung, die doch auf alle Fälle wesentlicher ist als die Treue im einzelnen.<lb/>
Ganz sicher ist der Naturalismus unter dem Einfluß der Kultur unsrer Zeit<lb/>
entstanden, der naturwissenschaftlich-technischen meinetwegen, aber natürlich kann<lb/>
die Naturwissenschaft nicht, wie schlechte Ästhetiker wohl behaupten, die poetische<lb/>
Kraft ersetzen, nicht einmal den Blick des Dichters schürfen; die Phantasie<lb/>
und nicht die Analyse macht uach wie vor die Poesie, und Darstellung für die<lb/>
Phantasie ist und bleibt ihre Aufgabe. Da giebt es nun freilich, gerade weil die<lb/>
Kultur die Meuschen und Dinge äußerlich gleichförmiger gemacht hat, ohne doch<lb/>
die Besonderheit der innern Zustände verwischen zu können, oft große Schwierig¬<lb/>
keiten bei der Gestaltung, das sogenannte &#x201E;Milieu" will anschaulicher gemacht<lb/>
werden, als es bisher geschehen ist, die Seelenzustände wollen genauer entwickelt<lb/>
werden, aber das kann doch wieder nur mit poetischen Mitteln geschehen. Es<lb/>
genügt nicht, z. B. die Markthallen von Paris durch genaues statistisches Material<lb/>
zu beschreiben, Herz und Seele etwa wie ein anatomisches Präparat zu be-<lb/>
handeln; jede Örtlichkeit muß für das seelische Auge wirklich lebendig gemacht,<lb/>
jeder Seelenzustand in epischer Bewegung oder lyrischer Empfindungsfülle ge¬<lb/>
zeigt werden &#x2014; und der wahre Dichter thut das auch. So bedeutet selbst<lb/>
der Naturalismus keineswegs das Ende der Poesie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_632" next="#ID_633"> Noch weniger als auf epischem ist dieses auf lyrischem oder dramatischem<lb/>
Gebiete zu fürchten. Die Lyrik ist die elementarste Poesie und wird das ewig<lb/>
bleiben, mag sich die Kultur noch so sehr ausbreiten und noch so tief eindringen.<lb/>
Wohl kommen Zeiten, wo anch die Lyrik den unmittelbaren Gefühlsausdruck<lb/>
nicht zu finden vermag und konventionell wird, aber ans die Dauer kann das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0238] Die sterbende Dichtkunst ist freilich sehr unfrei, aber ein wahrer Dichter wird auch mit ihr noch etwas anfangen können. Nach der Theorie Zolas, die die Analyse und Beschreibung wirklich als das Wesentliche hinstellt und die poetische Thätigkeit zur wissen¬ schaftlichen machen möchte, wird er freilich nicht verfahren dürfen; aber bekannt¬ lich thut das Zola auch selbst nicht. Die naturalistische Theorie kann man, wenn man will, als Bestätigung der Macaulayschen Ansichten ansehen, aber glücklicherweise ist die Praxis der bedeutendern Dichter nie der Theorie ent¬ sprechend ausgefallen. Auch der Naturalist stellt mit Phantasie für die Phan¬ tasie dar, ja wenn man genau hinsieht, wird man vielleicht finden, daß er fast größere Anforderungen an die Phantasie stellt als der Dichter früherer Zeiten, denn er verfährt unendlich viel kleinlicher und zwingt uns mit Hilfe der Phan¬ tasie eine solche Fülle von Dingen unsrer Erinnerung (die uns, wie sich der schon angeführte Ästhetiker ausdrückt, in ihrer geistigen Abgrenzung bis dahin vollkommen unentdeckt geblieben sind) wachzurufen, daß unter Umstünden eine förmliche Quälerei der Phantasie entsteht. Hier findet denn auch der Natu¬ ralismus seine ästhetische Grenze; über einen bestimmten Grad hinaus darf und kann es der Dichter in der Wiedergabe von Zügen der Wirklichkeit nicht treiben, ohne die Anschauung unmöglich zu machen, wenigstens die Gesamtan¬ schauung, die doch auf alle Fälle wesentlicher ist als die Treue im einzelnen. Ganz sicher ist der Naturalismus unter dem Einfluß der Kultur unsrer Zeit entstanden, der naturwissenschaftlich-technischen meinetwegen, aber natürlich kann die Naturwissenschaft nicht, wie schlechte Ästhetiker wohl behaupten, die poetische Kraft ersetzen, nicht einmal den Blick des Dichters schürfen; die Phantasie und nicht die Analyse macht uach wie vor die Poesie, und Darstellung für die Phantasie ist und bleibt ihre Aufgabe. Da giebt es nun freilich, gerade weil die Kultur die Meuschen und Dinge äußerlich gleichförmiger gemacht hat, ohne doch die Besonderheit der innern Zustände verwischen zu können, oft große Schwierig¬ keiten bei der Gestaltung, das sogenannte „Milieu" will anschaulicher gemacht werden, als es bisher geschehen ist, die Seelenzustände wollen genauer entwickelt werden, aber das kann doch wieder nur mit poetischen Mitteln geschehen. Es genügt nicht, z. B. die Markthallen von Paris durch genaues statistisches Material zu beschreiben, Herz und Seele etwa wie ein anatomisches Präparat zu be- handeln; jede Örtlichkeit muß für das seelische Auge wirklich lebendig gemacht, jeder Seelenzustand in epischer Bewegung oder lyrischer Empfindungsfülle ge¬ zeigt werden — und der wahre Dichter thut das auch. So bedeutet selbst der Naturalismus keineswegs das Ende der Poesie. Noch weniger als auf epischem ist dieses auf lyrischem oder dramatischem Gebiete zu fürchten. Die Lyrik ist die elementarste Poesie und wird das ewig bleiben, mag sich die Kultur noch so sehr ausbreiten und noch so tief eindringen. Wohl kommen Zeiten, wo anch die Lyrik den unmittelbaren Gefühlsausdruck nicht zu finden vermag und konventionell wird, aber ans die Dauer kann das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/238
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/238>, abgerufen am 18.06.2024.