Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts

soll sie entscheiden, ob der von Bciiern, der von Older-, Alten- oder Bückeburg
genannte den Vorzug verdient?

Ganz mit Unrecht sieht Henrici in der jetzigen Praxis eine unberechtigte
Konzession an den Partikularismus. Das deutsche Volk ist uicht eine aus
einem Teig geknetete gleichartige Masse, jede Landschaft, in den größten Staaten
sogar jede Provinz hat einen guten Anspruch darauf, im Reichsgericht Männer
zu wissen, die nicht nur ihr besondres Recht, sondern auch, was für das volle
Verständnis des Prozcßstoffs oft ebenso unentbehrlich, ihre besondern Sitten
und Lebensanschauungen, ihre wirtschaftlichen, selbst ihre konfessionellen Ver¬
hältnisse kennen. Und auch die genaue Kunde des partikularen Rechts ist, ob¬
gleich es nicht "revisibel" ist, dem Reichsgericht unentbehrlich, zum Verständnis
der vorinstanzlichen Entscheidungen, wie für die richtige Grenzbestimmnng
zwischen "revisibelm" und "nicht revisibelm" Recht. Das wird anch nach
der Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs nicht anders sein; denn es läßt
ja für eine Menge der wichtigsten Materien das Sonderrecht und die Sonder¬
gesetzgebung bestehen, und in Jahren und selbst Jahrzehnten nach seiner
Einführung wird ein großer, in den nächsten Jahren der größte Teil der
Prozesse überhaupt noch nach altem Recht entschieden werden.

Allen hervorgehobnen Rücksichten kann das jetzige "Vorschlagsrecht" mehr
als das von Henrici angeregte Listeuverfcchren gerecht werden.

Die Beispiele, mit denen Henrici für seine Meinung kämpft, beweisen wenig,
soweit er die Männer, die er im Auge hat, für deu minder Eingeweihten
deutlich genug erkennbar macht. Daß bei einem Kandidaten der Irrsinn im
Anzüge war, daß ein zweiter sich nach angestellten Versuche in die Aufgaben
oder die äußern Verhältnisse beim Reichsgericht nicht schicken konnte, war bei
den Vorschlägen sicher nicht vorauszusehen und würde bei einer bloßen Liste
der Tanglichen ebenso vorkommen können. Als derselbe Staat einen erkennbar
Ungeeigneten vorschlug, hat der Bundesrat von seinem auch jetzt bestehenden
guten Recht Gebrauch gemacht und den Vorschlag abgelehnt. Übrigens war
der Staat, der soviel Mißgeschick mit seinen Vorschlägen hatte, das Königreich
Sachsen. Nun ist aber dieser Staat, der heute, wenn wir nicht irren, vier
Mitglieder, darunter einen Präsidenten, im Reichsgericht hat, nach Verhältnis
der Zahl der von dort an das Reichsgericht kommenden Rechtssachen'") sehr
bevorzugt, und dadurch wird ihm die Aufbringung geeigneter Kandidaten er¬
schwert. Eine andre Erschwerung liegt darin, daß es den meistens uicht vor¬
wiegend auf die Besoldung angewiesenen Mitgliedern des sächsischen Ober¬
landesgerichts nicht verübelt werden kann, wenn sie wenig Neigung haben, das
sonnige, vornehme Dresden mit -- Leipzig zu vertauschen.



Das ganze sächsische bürgerliche Gesetzbuch ist dadurch zu "irrevisibelm" Rechte ge¬
worden, daß Sachsen, anscheinend um dies zu erreichen, aus dein ganzen Königreiche einen
Oberlandesgerichtöbezirk gebildet hat.
Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts

soll sie entscheiden, ob der von Bciiern, der von Older-, Alten- oder Bückeburg
genannte den Vorzug verdient?

Ganz mit Unrecht sieht Henrici in der jetzigen Praxis eine unberechtigte
Konzession an den Partikularismus. Das deutsche Volk ist uicht eine aus
einem Teig geknetete gleichartige Masse, jede Landschaft, in den größten Staaten
sogar jede Provinz hat einen guten Anspruch darauf, im Reichsgericht Männer
zu wissen, die nicht nur ihr besondres Recht, sondern auch, was für das volle
Verständnis des Prozcßstoffs oft ebenso unentbehrlich, ihre besondern Sitten
und Lebensanschauungen, ihre wirtschaftlichen, selbst ihre konfessionellen Ver¬
hältnisse kennen. Und auch die genaue Kunde des partikularen Rechts ist, ob¬
gleich es nicht „revisibel" ist, dem Reichsgericht unentbehrlich, zum Verständnis
der vorinstanzlichen Entscheidungen, wie für die richtige Grenzbestimmnng
zwischen „revisibelm" und „nicht revisibelm" Recht. Das wird anch nach
der Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs nicht anders sein; denn es läßt
ja für eine Menge der wichtigsten Materien das Sonderrecht und die Sonder¬
gesetzgebung bestehen, und in Jahren und selbst Jahrzehnten nach seiner
Einführung wird ein großer, in den nächsten Jahren der größte Teil der
Prozesse überhaupt noch nach altem Recht entschieden werden.

Allen hervorgehobnen Rücksichten kann das jetzige „Vorschlagsrecht" mehr
als das von Henrici angeregte Listeuverfcchren gerecht werden.

Die Beispiele, mit denen Henrici für seine Meinung kämpft, beweisen wenig,
soweit er die Männer, die er im Auge hat, für deu minder Eingeweihten
deutlich genug erkennbar macht. Daß bei einem Kandidaten der Irrsinn im
Anzüge war, daß ein zweiter sich nach angestellten Versuche in die Aufgaben
oder die äußern Verhältnisse beim Reichsgericht nicht schicken konnte, war bei
den Vorschlägen sicher nicht vorauszusehen und würde bei einer bloßen Liste
der Tanglichen ebenso vorkommen können. Als derselbe Staat einen erkennbar
Ungeeigneten vorschlug, hat der Bundesrat von seinem auch jetzt bestehenden
guten Recht Gebrauch gemacht und den Vorschlag abgelehnt. Übrigens war
der Staat, der soviel Mißgeschick mit seinen Vorschlägen hatte, das Königreich
Sachsen. Nun ist aber dieser Staat, der heute, wenn wir nicht irren, vier
Mitglieder, darunter einen Präsidenten, im Reichsgericht hat, nach Verhältnis
der Zahl der von dort an das Reichsgericht kommenden Rechtssachen'") sehr
bevorzugt, und dadurch wird ihm die Aufbringung geeigneter Kandidaten er¬
schwert. Eine andre Erschwerung liegt darin, daß es den meistens uicht vor¬
wiegend auf die Besoldung angewiesenen Mitgliedern des sächsischen Ober¬
landesgerichts nicht verübelt werden kann, wenn sie wenig Neigung haben, das
sonnige, vornehme Dresden mit — Leipzig zu vertauschen.



Das ganze sächsische bürgerliche Gesetzbuch ist dadurch zu „irrevisibelm" Rechte ge¬
worden, daß Sachsen, anscheinend um dies zu erreichen, aus dein ganzen Königreiche einen
Oberlandesgerichtöbezirk gebildet hat.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0232" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224478"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_618" prev="#ID_617"> soll sie entscheiden, ob der von Bciiern, der von Older-, Alten- oder Bückeburg<lb/>
genannte den Vorzug verdient?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_619"> Ganz mit Unrecht sieht Henrici in der jetzigen Praxis eine unberechtigte<lb/>
Konzession an den Partikularismus. Das deutsche Volk ist uicht eine aus<lb/>
einem Teig geknetete gleichartige Masse, jede Landschaft, in den größten Staaten<lb/>
sogar jede Provinz hat einen guten Anspruch darauf, im Reichsgericht Männer<lb/>
zu wissen, die nicht nur ihr besondres Recht, sondern auch, was für das volle<lb/>
Verständnis des Prozcßstoffs oft ebenso unentbehrlich, ihre besondern Sitten<lb/>
und Lebensanschauungen, ihre wirtschaftlichen, selbst ihre konfessionellen Ver¬<lb/>
hältnisse kennen. Und auch die genaue Kunde des partikularen Rechts ist, ob¬<lb/>
gleich es nicht &#x201E;revisibel" ist, dem Reichsgericht unentbehrlich, zum Verständnis<lb/>
der vorinstanzlichen Entscheidungen, wie für die richtige Grenzbestimmnng<lb/>
zwischen &#x201E;revisibelm" und &#x201E;nicht revisibelm" Recht. Das wird anch nach<lb/>
der Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs nicht anders sein; denn es läßt<lb/>
ja für eine Menge der wichtigsten Materien das Sonderrecht und die Sonder¬<lb/>
gesetzgebung bestehen, und in Jahren und selbst Jahrzehnten nach seiner<lb/>
Einführung wird ein großer, in den nächsten Jahren der größte Teil der<lb/>
Prozesse überhaupt noch nach altem Recht entschieden werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_620"> Allen hervorgehobnen Rücksichten kann das jetzige &#x201E;Vorschlagsrecht" mehr<lb/>
als das von Henrici angeregte Listeuverfcchren gerecht werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_621"> Die Beispiele, mit denen Henrici für seine Meinung kämpft, beweisen wenig,<lb/>
soweit er die Männer, die er im Auge hat, für deu minder Eingeweihten<lb/>
deutlich genug erkennbar macht. Daß bei einem Kandidaten der Irrsinn im<lb/>
Anzüge war, daß ein zweiter sich nach angestellten Versuche in die Aufgaben<lb/>
oder die äußern Verhältnisse beim Reichsgericht nicht schicken konnte, war bei<lb/>
den Vorschlägen sicher nicht vorauszusehen und würde bei einer bloßen Liste<lb/>
der Tanglichen ebenso vorkommen können. Als derselbe Staat einen erkennbar<lb/>
Ungeeigneten vorschlug, hat der Bundesrat von seinem auch jetzt bestehenden<lb/>
guten Recht Gebrauch gemacht und den Vorschlag abgelehnt. Übrigens war<lb/>
der Staat, der soviel Mißgeschick mit seinen Vorschlägen hatte, das Königreich<lb/>
Sachsen. Nun ist aber dieser Staat, der heute, wenn wir nicht irren, vier<lb/>
Mitglieder, darunter einen Präsidenten, im Reichsgericht hat, nach Verhältnis<lb/>
der Zahl der von dort an das Reichsgericht kommenden Rechtssachen'") sehr<lb/>
bevorzugt, und dadurch wird ihm die Aufbringung geeigneter Kandidaten er¬<lb/>
schwert. Eine andre Erschwerung liegt darin, daß es den meistens uicht vor¬<lb/>
wiegend auf die Besoldung angewiesenen Mitgliedern des sächsischen Ober¬<lb/>
landesgerichts nicht verübelt werden kann, wenn sie wenig Neigung haben, das<lb/>
sonnige, vornehme Dresden mit &#x2014; Leipzig zu vertauschen.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_8" place="foot"> Das ganze sächsische bürgerliche Gesetzbuch ist dadurch zu &#x201E;irrevisibelm" Rechte ge¬<lb/>
worden, daß Sachsen, anscheinend um dies zu erreichen, aus dein ganzen Königreiche einen<lb/>
Oberlandesgerichtöbezirk gebildet hat.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0232] Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts soll sie entscheiden, ob der von Bciiern, der von Older-, Alten- oder Bückeburg genannte den Vorzug verdient? Ganz mit Unrecht sieht Henrici in der jetzigen Praxis eine unberechtigte Konzession an den Partikularismus. Das deutsche Volk ist uicht eine aus einem Teig geknetete gleichartige Masse, jede Landschaft, in den größten Staaten sogar jede Provinz hat einen guten Anspruch darauf, im Reichsgericht Männer zu wissen, die nicht nur ihr besondres Recht, sondern auch, was für das volle Verständnis des Prozcßstoffs oft ebenso unentbehrlich, ihre besondern Sitten und Lebensanschauungen, ihre wirtschaftlichen, selbst ihre konfessionellen Ver¬ hältnisse kennen. Und auch die genaue Kunde des partikularen Rechts ist, ob¬ gleich es nicht „revisibel" ist, dem Reichsgericht unentbehrlich, zum Verständnis der vorinstanzlichen Entscheidungen, wie für die richtige Grenzbestimmnng zwischen „revisibelm" und „nicht revisibelm" Recht. Das wird anch nach der Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs nicht anders sein; denn es läßt ja für eine Menge der wichtigsten Materien das Sonderrecht und die Sonder¬ gesetzgebung bestehen, und in Jahren und selbst Jahrzehnten nach seiner Einführung wird ein großer, in den nächsten Jahren der größte Teil der Prozesse überhaupt noch nach altem Recht entschieden werden. Allen hervorgehobnen Rücksichten kann das jetzige „Vorschlagsrecht" mehr als das von Henrici angeregte Listeuverfcchren gerecht werden. Die Beispiele, mit denen Henrici für seine Meinung kämpft, beweisen wenig, soweit er die Männer, die er im Auge hat, für deu minder Eingeweihten deutlich genug erkennbar macht. Daß bei einem Kandidaten der Irrsinn im Anzüge war, daß ein zweiter sich nach angestellten Versuche in die Aufgaben oder die äußern Verhältnisse beim Reichsgericht nicht schicken konnte, war bei den Vorschlägen sicher nicht vorauszusehen und würde bei einer bloßen Liste der Tanglichen ebenso vorkommen können. Als derselbe Staat einen erkennbar Ungeeigneten vorschlug, hat der Bundesrat von seinem auch jetzt bestehenden guten Recht Gebrauch gemacht und den Vorschlag abgelehnt. Übrigens war der Staat, der soviel Mißgeschick mit seinen Vorschlägen hatte, das Königreich Sachsen. Nun ist aber dieser Staat, der heute, wenn wir nicht irren, vier Mitglieder, darunter einen Präsidenten, im Reichsgericht hat, nach Verhältnis der Zahl der von dort an das Reichsgericht kommenden Rechtssachen'") sehr bevorzugt, und dadurch wird ihm die Aufbringung geeigneter Kandidaten er¬ schwert. Eine andre Erschwerung liegt darin, daß es den meistens uicht vor¬ wiegend auf die Besoldung angewiesenen Mitgliedern des sächsischen Ober¬ landesgerichts nicht verübelt werden kann, wenn sie wenig Neigung haben, das sonnige, vornehme Dresden mit — Leipzig zu vertauschen. Das ganze sächsische bürgerliche Gesetzbuch ist dadurch zu „irrevisibelm" Rechte ge¬ worden, daß Sachsen, anscheinend um dies zu erreichen, aus dein ganzen Königreiche einen Oberlandesgerichtöbezirk gebildet hat.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/232
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/232>, abgerufen am 18.06.2024.