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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

lich zu machen, mache den Dichter -- es wirkt eben beides zusammen*) --,
so ist doch ganz selbstverständlich, daß Leben nur durch Leben wieder geboren
werden kann.

"Wenn das Licht der Erkenntnis über die Schöpfungen der Poesie herein¬
bricht, wenn die Umrisse der wirklichen Welt immer schärfer und schärfer
heraustreten und die Schatten dämmeriger Ahnung immer lichter werden,
dann müssen die vom Dichter beschworner Gestalten in Form und Farbe immer
mehr verbleichen," heißt es bei Mcicaulay. Das ist eine durchaus verstandes¬
gemäße, der Wahrheit durchaus nicht entsprechende Gegenüberstellung. Wo
ist, fragen wir dagegen, die Erkenntnis, die über alle Dinge des Lebens hin¬
reichend klares Licht verbreitet? Daß es keine turmhohen Riesen giebt, kann
uns die Erfahrung lehren, aber darüber, ob die Menschen von Anbeginn gut
oder böse, zum Glück oder Unglück bestimmt seien, ist der Verstand heute noch
nicht klar und wird es niemals werden. Wenn ich eine poetische und eine
prosaische Weltanschauung unterscheiden darf, wer will mir sagen, welche von
beiden die richtige sei? Ganz gewiß ist die Ahnung ein Element der Poesie,
aber sie ist auch ein Element der Welt, und bisher ist noch kein Verstand der
Verständigen stark genug gewesen, sie aus der Welt zu treiben. Gewiß ist
der Mensch und sein Leben im wesentlichen dasselbe durch alle Zeiten, aber
wird die Menschheit wirklich stets klüger und klarer über alle menschlichen
Dinge? und wenn sie es wird, hört damit, wie Kostim meint, die Möglichkeit
auf, Weisheit, von der man noch nicht weiß, zu verkünden? Das Menschen¬
leben birgt eine Reihe von Problemen, vor die sich der Dichter immer wieder
gestellt sieht, und die er, aus seinem eignen Leben heraus, nicht zu lösen
-- denn das ist eben unmöglich --, aber neu zu beleuchten hat. Wohl geht
die Poesie ans Täuschung aus, wenn dieser unglückliche Ausdruck gewahrt
werden muß, aber sie thut es so gut im Dienste der Wahrheit wie die Wissen¬
schaft; sie will ein Bild der Welt anschaulich hinstellen, mag es auch oft nur
ein Traumbild sein, das nur in der Seele des Dichters Wirklichkeit hat. Ich
will dem Engländer und allen, die ähnliche Ansichten hegen, nicht einmal mit
der Kantischen Philosophie kommen, die ihrer Wirklichkeit genau so den Garaus
macht, wie ihr Verstand der Poesie; ich will nur die thörichte Annahme, daß
die Poesie, weil sie hauptsächlich durch und für die Phantasie schafft, auch
Lüge sei, von der Hand weisen. Man verwechselt in rationalistischer Ver¬
blendung einfach die Begriffe Illusion (Täuschung) und Lüge. Wahrheit und
Wirklichkeit und trägt also sittliche Begriffe in das ästhetische Gebiet. Das
Licht der Erkenntnis, von dem Macaulay redet, wird, wenn es ein wahres



*) Namentlich der echte Dramatiker bleibt bei der Weitbrechtschen Erklärung unerklnrbar.
Dichterisches Schaffen entsteht durch den Drang, sich die Welt und sich der Welt gegenständlich
zu machen.
Die sterbende Dichtkunst

lich zu machen, mache den Dichter — es wirkt eben beides zusammen*) —,
so ist doch ganz selbstverständlich, daß Leben nur durch Leben wieder geboren
werden kann.

„Wenn das Licht der Erkenntnis über die Schöpfungen der Poesie herein¬
bricht, wenn die Umrisse der wirklichen Welt immer schärfer und schärfer
heraustreten und die Schatten dämmeriger Ahnung immer lichter werden,
dann müssen die vom Dichter beschworner Gestalten in Form und Farbe immer
mehr verbleichen," heißt es bei Mcicaulay. Das ist eine durchaus verstandes¬
gemäße, der Wahrheit durchaus nicht entsprechende Gegenüberstellung. Wo
ist, fragen wir dagegen, die Erkenntnis, die über alle Dinge des Lebens hin¬
reichend klares Licht verbreitet? Daß es keine turmhohen Riesen giebt, kann
uns die Erfahrung lehren, aber darüber, ob die Menschen von Anbeginn gut
oder böse, zum Glück oder Unglück bestimmt seien, ist der Verstand heute noch
nicht klar und wird es niemals werden. Wenn ich eine poetische und eine
prosaische Weltanschauung unterscheiden darf, wer will mir sagen, welche von
beiden die richtige sei? Ganz gewiß ist die Ahnung ein Element der Poesie,
aber sie ist auch ein Element der Welt, und bisher ist noch kein Verstand der
Verständigen stark genug gewesen, sie aus der Welt zu treiben. Gewiß ist
der Mensch und sein Leben im wesentlichen dasselbe durch alle Zeiten, aber
wird die Menschheit wirklich stets klüger und klarer über alle menschlichen
Dinge? und wenn sie es wird, hört damit, wie Kostim meint, die Möglichkeit
auf, Weisheit, von der man noch nicht weiß, zu verkünden? Das Menschen¬
leben birgt eine Reihe von Problemen, vor die sich der Dichter immer wieder
gestellt sieht, und die er, aus seinem eignen Leben heraus, nicht zu lösen
— denn das ist eben unmöglich —, aber neu zu beleuchten hat. Wohl geht
die Poesie ans Täuschung aus, wenn dieser unglückliche Ausdruck gewahrt
werden muß, aber sie thut es so gut im Dienste der Wahrheit wie die Wissen¬
schaft; sie will ein Bild der Welt anschaulich hinstellen, mag es auch oft nur
ein Traumbild sein, das nur in der Seele des Dichters Wirklichkeit hat. Ich
will dem Engländer und allen, die ähnliche Ansichten hegen, nicht einmal mit
der Kantischen Philosophie kommen, die ihrer Wirklichkeit genau so den Garaus
macht, wie ihr Verstand der Poesie; ich will nur die thörichte Annahme, daß
die Poesie, weil sie hauptsächlich durch und für die Phantasie schafft, auch
Lüge sei, von der Hand weisen. Man verwechselt in rationalistischer Ver¬
blendung einfach die Begriffe Illusion (Täuschung) und Lüge. Wahrheit und
Wirklichkeit und trägt also sittliche Begriffe in das ästhetische Gebiet. Das
Licht der Erkenntnis, von dem Macaulay redet, wird, wenn es ein wahres



*) Namentlich der echte Dramatiker bleibt bei der Weitbrechtschen Erklärung unerklnrbar.
Dichterisches Schaffen entsteht durch den Drang, sich die Welt und sich der Welt gegenständlich
zu machen.
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[0189] Die sterbende Dichtkunst lich zu machen, mache den Dichter — es wirkt eben beides zusammen*) —, so ist doch ganz selbstverständlich, daß Leben nur durch Leben wieder geboren werden kann. „Wenn das Licht der Erkenntnis über die Schöpfungen der Poesie herein¬ bricht, wenn die Umrisse der wirklichen Welt immer schärfer und schärfer heraustreten und die Schatten dämmeriger Ahnung immer lichter werden, dann müssen die vom Dichter beschworner Gestalten in Form und Farbe immer mehr verbleichen," heißt es bei Mcicaulay. Das ist eine durchaus verstandes¬ gemäße, der Wahrheit durchaus nicht entsprechende Gegenüberstellung. Wo ist, fragen wir dagegen, die Erkenntnis, die über alle Dinge des Lebens hin¬ reichend klares Licht verbreitet? Daß es keine turmhohen Riesen giebt, kann uns die Erfahrung lehren, aber darüber, ob die Menschen von Anbeginn gut oder böse, zum Glück oder Unglück bestimmt seien, ist der Verstand heute noch nicht klar und wird es niemals werden. Wenn ich eine poetische und eine prosaische Weltanschauung unterscheiden darf, wer will mir sagen, welche von beiden die richtige sei? Ganz gewiß ist die Ahnung ein Element der Poesie, aber sie ist auch ein Element der Welt, und bisher ist noch kein Verstand der Verständigen stark genug gewesen, sie aus der Welt zu treiben. Gewiß ist der Mensch und sein Leben im wesentlichen dasselbe durch alle Zeiten, aber wird die Menschheit wirklich stets klüger und klarer über alle menschlichen Dinge? und wenn sie es wird, hört damit, wie Kostim meint, die Möglichkeit auf, Weisheit, von der man noch nicht weiß, zu verkünden? Das Menschen¬ leben birgt eine Reihe von Problemen, vor die sich der Dichter immer wieder gestellt sieht, und die er, aus seinem eignen Leben heraus, nicht zu lösen — denn das ist eben unmöglich —, aber neu zu beleuchten hat. Wohl geht die Poesie ans Täuschung aus, wenn dieser unglückliche Ausdruck gewahrt werden muß, aber sie thut es so gut im Dienste der Wahrheit wie die Wissen¬ schaft; sie will ein Bild der Welt anschaulich hinstellen, mag es auch oft nur ein Traumbild sein, das nur in der Seele des Dichters Wirklichkeit hat. Ich will dem Engländer und allen, die ähnliche Ansichten hegen, nicht einmal mit der Kantischen Philosophie kommen, die ihrer Wirklichkeit genau so den Garaus macht, wie ihr Verstand der Poesie; ich will nur die thörichte Annahme, daß die Poesie, weil sie hauptsächlich durch und für die Phantasie schafft, auch Lüge sei, von der Hand weisen. Man verwechselt in rationalistischer Ver¬ blendung einfach die Begriffe Illusion (Täuschung) und Lüge. Wahrheit und Wirklichkeit und trägt also sittliche Begriffe in das ästhetische Gebiet. Das Licht der Erkenntnis, von dem Macaulay redet, wird, wenn es ein wahres *) Namentlich der echte Dramatiker bleibt bei der Weitbrechtschen Erklärung unerklnrbar. Dichterisches Schaffen entsteht durch den Drang, sich die Welt und sich der Welt gegenständlich zu machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/189>, abgerufen am 28.09.2024.