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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

sind vermenschlicht. Die alten Hörer der Epen, und nicht nur diese, auch die
Dichter selbst haben gewiß an die übermenschlichen Eigenschaften geglaubt, und
man mag immerhin an die Einbildungskraft der Kinder erinnern, aber eine
Art Wahnsinn braucht man deswegen weder bei den Dichtern, noch bei den
Hörern anzunehmen, man darf höchstens von einer Art geistiger Sinnestäuschung
reden, die mit der Gesundheit des Geistes wahrhaftig wenig zu thun hat, und
die auch heute trotz aller Kultur noch nicht ausgestorben ist, sondern sich nur
auf andre Gegenstände geworfen hat. Gewiß ist ferner, daß die Hingebung
der Naturvölker an die Poesie größer und allgemeiner war, die zerstreuende
Wirkung des modernen Kulturlebens ist nicht zu übersehen. Andrerseits soll
man aber auch nicht vergessen, daß jene Hingebung geradezu poesiefeindliche
Elemente, z. V. ganz gewöhnliche Furcht -- woraus wohl auch die Wirkung
des Rotkäppcheumärchens auf das Kind zu erklären wäre --, kriegerische Be¬
geisterung und dergleichen in sich barg, während man heute die Poesie im
ganzen reiner genießt, ohne daß die Tiefe der Wirkung darunter zu leiden
braucht, wenigstens bei den zum besondern Genuß der Dichtung beanlagten
Menschen. Auch früher hat es gewiß empfänglichere und stumpfere Gemüter
gegeben. "Kein Erwachsener wird durch Hamlet oder Lear so erschüttert
werden wie das Kind dnrch Rotkäppchen," meint Macaulay. Ich behaupte,
daß Hamlet auf einen Erwachsenen eine viel schrecklichere Wirkung üben kann
als das gräßlichste Kindermärchen auf ein Kind, wenn sich nämlich der
Erwachsene in die Weltanschauung des Dänenprinzen einlebt und die Welt
wie er von Würmern zerfressen sieht. Ist das vielleicht in unsrer Zeit nicht
möglich? Es ist doch -- und hiermit kommen wir zum Kernpunkt -- sehr
oberflächlich, die Wirkung der Poesie bloß in die Täuschung, die sie übt, zu
setzen und sie mit der Zauberlaterne zu vergleichen. Wenn, wie Macaulay
selber zugiebt, die Folgerungen, die der Dichter zieht, richtig sind, wenn er
also einen Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos der Welt schafft, so ist
schon damit festgestellt, daß sich die Poesie noch an andre Kräfte als an die
Phantasie wendet, andern Kräften als ihr den Ursprung verdankt. Es ist
denn auch eine längst überwundne Anschauung, daß die Dichtkunst zu weiter
nichts da sei, als der Phantasie den Schein einer nicht vorhandnen Welt vor¬
zugaukeln, die zu der wirklichen im Gegensatz stehe. Die Poesie hat es mit
dem Leben zu thun, sagt der Ästhetiker -- hat es immer mit ihm zu thun
gehabt, füge ich hinzu, selbst in den äg,rk g^hö, als sie noch Götter auf der
Erde wandeln ließ und ihre Helden mit so und so viel Pferdckrüften aus¬
stattete. Jede Poesie ist ferner erlebt; wenn ich auch Karl Weitbrecht nicht
ganz Recht gebe, wo er meint, nicht das Bestreben, die Welt als eine Summe
von beobachteten Gegenständen und Zustünden darzustellen, sondern der Drang,
die eignen innern Zustände, wie sie sich aus der persönlichen Erfahrung des
Lebens ergeben, sich und andern durch phantasiemüßige Gestaltung gegenständ-


Die sterbende Dichtkunst

sind vermenschlicht. Die alten Hörer der Epen, und nicht nur diese, auch die
Dichter selbst haben gewiß an die übermenschlichen Eigenschaften geglaubt, und
man mag immerhin an die Einbildungskraft der Kinder erinnern, aber eine
Art Wahnsinn braucht man deswegen weder bei den Dichtern, noch bei den
Hörern anzunehmen, man darf höchstens von einer Art geistiger Sinnestäuschung
reden, die mit der Gesundheit des Geistes wahrhaftig wenig zu thun hat, und
die auch heute trotz aller Kultur noch nicht ausgestorben ist, sondern sich nur
auf andre Gegenstände geworfen hat. Gewiß ist ferner, daß die Hingebung
der Naturvölker an die Poesie größer und allgemeiner war, die zerstreuende
Wirkung des modernen Kulturlebens ist nicht zu übersehen. Andrerseits soll
man aber auch nicht vergessen, daß jene Hingebung geradezu poesiefeindliche
Elemente, z. V. ganz gewöhnliche Furcht — woraus wohl auch die Wirkung
des Rotkäppcheumärchens auf das Kind zu erklären wäre —, kriegerische Be¬
geisterung und dergleichen in sich barg, während man heute die Poesie im
ganzen reiner genießt, ohne daß die Tiefe der Wirkung darunter zu leiden
braucht, wenigstens bei den zum besondern Genuß der Dichtung beanlagten
Menschen. Auch früher hat es gewiß empfänglichere und stumpfere Gemüter
gegeben. „Kein Erwachsener wird durch Hamlet oder Lear so erschüttert
werden wie das Kind dnrch Rotkäppchen," meint Macaulay. Ich behaupte,
daß Hamlet auf einen Erwachsenen eine viel schrecklichere Wirkung üben kann
als das gräßlichste Kindermärchen auf ein Kind, wenn sich nämlich der
Erwachsene in die Weltanschauung des Dänenprinzen einlebt und die Welt
wie er von Würmern zerfressen sieht. Ist das vielleicht in unsrer Zeit nicht
möglich? Es ist doch — und hiermit kommen wir zum Kernpunkt — sehr
oberflächlich, die Wirkung der Poesie bloß in die Täuschung, die sie übt, zu
setzen und sie mit der Zauberlaterne zu vergleichen. Wenn, wie Macaulay
selber zugiebt, die Folgerungen, die der Dichter zieht, richtig sind, wenn er
also einen Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos der Welt schafft, so ist
schon damit festgestellt, daß sich die Poesie noch an andre Kräfte als an die
Phantasie wendet, andern Kräften als ihr den Ursprung verdankt. Es ist
denn auch eine längst überwundne Anschauung, daß die Dichtkunst zu weiter
nichts da sei, als der Phantasie den Schein einer nicht vorhandnen Welt vor¬
zugaukeln, die zu der wirklichen im Gegensatz stehe. Die Poesie hat es mit
dem Leben zu thun, sagt der Ästhetiker — hat es immer mit ihm zu thun
gehabt, füge ich hinzu, selbst in den äg,rk g^hö, als sie noch Götter auf der
Erde wandeln ließ und ihre Helden mit so und so viel Pferdckrüften aus¬
stattete. Jede Poesie ist ferner erlebt; wenn ich auch Karl Weitbrecht nicht
ganz Recht gebe, wo er meint, nicht das Bestreben, die Welt als eine Summe
von beobachteten Gegenständen und Zustünden darzustellen, sondern der Drang,
die eignen innern Zustände, wie sie sich aus der persönlichen Erfahrung des
Lebens ergeben, sich und andern durch phantasiemüßige Gestaltung gegenständ-


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[0188] Die sterbende Dichtkunst sind vermenschlicht. Die alten Hörer der Epen, und nicht nur diese, auch die Dichter selbst haben gewiß an die übermenschlichen Eigenschaften geglaubt, und man mag immerhin an die Einbildungskraft der Kinder erinnern, aber eine Art Wahnsinn braucht man deswegen weder bei den Dichtern, noch bei den Hörern anzunehmen, man darf höchstens von einer Art geistiger Sinnestäuschung reden, die mit der Gesundheit des Geistes wahrhaftig wenig zu thun hat, und die auch heute trotz aller Kultur noch nicht ausgestorben ist, sondern sich nur auf andre Gegenstände geworfen hat. Gewiß ist ferner, daß die Hingebung der Naturvölker an die Poesie größer und allgemeiner war, die zerstreuende Wirkung des modernen Kulturlebens ist nicht zu übersehen. Andrerseits soll man aber auch nicht vergessen, daß jene Hingebung geradezu poesiefeindliche Elemente, z. V. ganz gewöhnliche Furcht — woraus wohl auch die Wirkung des Rotkäppcheumärchens auf das Kind zu erklären wäre —, kriegerische Be¬ geisterung und dergleichen in sich barg, während man heute die Poesie im ganzen reiner genießt, ohne daß die Tiefe der Wirkung darunter zu leiden braucht, wenigstens bei den zum besondern Genuß der Dichtung beanlagten Menschen. Auch früher hat es gewiß empfänglichere und stumpfere Gemüter gegeben. „Kein Erwachsener wird durch Hamlet oder Lear so erschüttert werden wie das Kind dnrch Rotkäppchen," meint Macaulay. Ich behaupte, daß Hamlet auf einen Erwachsenen eine viel schrecklichere Wirkung üben kann als das gräßlichste Kindermärchen auf ein Kind, wenn sich nämlich der Erwachsene in die Weltanschauung des Dänenprinzen einlebt und die Welt wie er von Würmern zerfressen sieht. Ist das vielleicht in unsrer Zeit nicht möglich? Es ist doch — und hiermit kommen wir zum Kernpunkt — sehr oberflächlich, die Wirkung der Poesie bloß in die Täuschung, die sie übt, zu setzen und sie mit der Zauberlaterne zu vergleichen. Wenn, wie Macaulay selber zugiebt, die Folgerungen, die der Dichter zieht, richtig sind, wenn er also einen Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos der Welt schafft, so ist schon damit festgestellt, daß sich die Poesie noch an andre Kräfte als an die Phantasie wendet, andern Kräften als ihr den Ursprung verdankt. Es ist denn auch eine längst überwundne Anschauung, daß die Dichtkunst zu weiter nichts da sei, als der Phantasie den Schein einer nicht vorhandnen Welt vor¬ zugaukeln, die zu der wirklichen im Gegensatz stehe. Die Poesie hat es mit dem Leben zu thun, sagt der Ästhetiker — hat es immer mit ihm zu thun gehabt, füge ich hinzu, selbst in den äg,rk g^hö, als sie noch Götter auf der Erde wandeln ließ und ihre Helden mit so und so viel Pferdckrüften aus¬ stattete. Jede Poesie ist ferner erlebt; wenn ich auch Karl Weitbrecht nicht ganz Recht gebe, wo er meint, nicht das Bestreben, die Welt als eine Summe von beobachteten Gegenständen und Zustünden darzustellen, sondern der Drang, die eignen innern Zustände, wie sie sich aus der persönlichen Erfahrung des Lebens ergeben, sich und andern durch phantasiemüßige Gestaltung gegenständ-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/188>, abgerufen am 27.09.2024.