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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Verdächtigen und deshalb ihre Zuständigkeit einzuschränken, dabei hält sie aber
eine Berufung gegen die Urteile der Strafkammern, nicht gegen den Spruch des
Schwurgerichts für erforderlich. Die Strafkammern können zur Zeit keinen
Angeklagten verurteilen, wenn ihn unter den fünf Richtern nicht wenigstens vier
für schuldig befinden. Wenn nun schon das Verhältnis von vier zu eins nicht
immer eine ausreichende Bürgschaft für eine richtige Verurteilung ist, so muß
die Absicht der Novelle, die Strafkammern künftig nur mit drei Richtern zu
besetzen, als völlig verfehlt erachtet werden, da bei einer solchen Besetzung die
Verurteilung mit zwei Stimmen gegen eine ausgesprochen werden könnte. Wie
viel schlimmer jeder Angeklagte bei einer Herabsetzung der Mitgliederzahl der
Strafkammern gefahren wäre, läßt sich nur bemessen, wenn man bedenkt, daß
die dreigliedrige Kammer unzuverlässiger als ein Einzelrichter ist, und die erste
Instanz, wenn dem Angeklagten das Rechtsmittel der Berufung zusteht, schon
an sich leichter eine Verurteilung ausspricht, da diese der Kontrolle unterliegt.
Die Entschädigung unschuldig Verurteilter ist eigentlich ein ganz selbstverständ¬
licher Akt der Gerechtigkeit. Sie kann aber schädlich werden, wenn sie den An¬
geklagten verführt, nicht alles, was zu seiner Entlastung, zur Verminderung des
gegen ihn vorliegenden Verdachts dienen könnte, geltend zu machen, um einen
Kapitalgewinn zu erzielen. Die Novelle hatte ein durchgreifendes Mittel ge¬
funden, die Entschädigungsforderungen so einzudämmen, daß die Kasse des
Fiskus darunter nicht zu leiden brauchte. Sie wollte die Wiederaufnahme des
Verfahrens annähernd unmöglich machen. Sie verlangte, daß der rechtskräftig
Verurteilte seine völlige Unschuld beweise, widrigenfalls das Verfahren nicht
wieder aufgenommen werden dürfe. Der einmal Verurteilte sollte sich mit
seiner Strafe zufrieden geben, wenn auch nur ein leichter Verdacht gegen ihn
bestehen blieb, wenn es ihm nicht gelang, nachzuweisen, daß die ihm zur Last
gelegte That überhaupt uicht geschehen war, oder daß er sie nicht gethan haben
konnte, weil er nicht gegenwärtig war, oder daß sie ein andrer gethan hatte,
der gleichsam als Ersatzmann eintreten müßte. Unangreifbar sollte also die
bloße Verdachts strafe bestehen bleiben. Das wäre sür den davon Betroffnen
uicht angenehm gewesen, hätte aber den großen Vorteil gehabt, daß wir ferner¬
hin nur ganz ausnahmsweise von den so beunruhigend wirkenden Verurteilungen
Unschuldiger zu hören brauchten, und die Weisheit einer kaum irrfähigcn Justiz
in viel helleres Licht gesetzt worden wäre.

Es war so schön, als unter den Schlagworten der Wiedereinführung der
Berufung und der Entschädigung der unschuldig Verurteilte" alles hoffnungs¬
voll in die Zukunft blickte. Unsre Laienwelt ist nicht verwöhnt, sie läßt sich
dnrch Vertröstungen abspeisen, wenn sie ihr durch die Tagespresse mundrecht
gemacht werden, und diese hatte sich mit begeistertem Eifer auf jene Schlag¬
worte geworfen. Die Novelle war aber so beschaffen, daß sie auch nicht
vorübergehend trügerische Hoffnungen zu erwecken vermochte. Deshalb ist uns


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Verdächtigen und deshalb ihre Zuständigkeit einzuschränken, dabei hält sie aber
eine Berufung gegen die Urteile der Strafkammern, nicht gegen den Spruch des
Schwurgerichts für erforderlich. Die Strafkammern können zur Zeit keinen
Angeklagten verurteilen, wenn ihn unter den fünf Richtern nicht wenigstens vier
für schuldig befinden. Wenn nun schon das Verhältnis von vier zu eins nicht
immer eine ausreichende Bürgschaft für eine richtige Verurteilung ist, so muß
die Absicht der Novelle, die Strafkammern künftig nur mit drei Richtern zu
besetzen, als völlig verfehlt erachtet werden, da bei einer solchen Besetzung die
Verurteilung mit zwei Stimmen gegen eine ausgesprochen werden könnte. Wie
viel schlimmer jeder Angeklagte bei einer Herabsetzung der Mitgliederzahl der
Strafkammern gefahren wäre, läßt sich nur bemessen, wenn man bedenkt, daß
die dreigliedrige Kammer unzuverlässiger als ein Einzelrichter ist, und die erste
Instanz, wenn dem Angeklagten das Rechtsmittel der Berufung zusteht, schon
an sich leichter eine Verurteilung ausspricht, da diese der Kontrolle unterliegt.
Die Entschädigung unschuldig Verurteilter ist eigentlich ein ganz selbstverständ¬
licher Akt der Gerechtigkeit. Sie kann aber schädlich werden, wenn sie den An¬
geklagten verführt, nicht alles, was zu seiner Entlastung, zur Verminderung des
gegen ihn vorliegenden Verdachts dienen könnte, geltend zu machen, um einen
Kapitalgewinn zu erzielen. Die Novelle hatte ein durchgreifendes Mittel ge¬
funden, die Entschädigungsforderungen so einzudämmen, daß die Kasse des
Fiskus darunter nicht zu leiden brauchte. Sie wollte die Wiederaufnahme des
Verfahrens annähernd unmöglich machen. Sie verlangte, daß der rechtskräftig
Verurteilte seine völlige Unschuld beweise, widrigenfalls das Verfahren nicht
wieder aufgenommen werden dürfe. Der einmal Verurteilte sollte sich mit
seiner Strafe zufrieden geben, wenn auch nur ein leichter Verdacht gegen ihn
bestehen blieb, wenn es ihm nicht gelang, nachzuweisen, daß die ihm zur Last
gelegte That überhaupt uicht geschehen war, oder daß er sie nicht gethan haben
konnte, weil er nicht gegenwärtig war, oder daß sie ein andrer gethan hatte,
der gleichsam als Ersatzmann eintreten müßte. Unangreifbar sollte also die
bloße Verdachts strafe bestehen bleiben. Das wäre sür den davon Betroffnen
uicht angenehm gewesen, hätte aber den großen Vorteil gehabt, daß wir ferner¬
hin nur ganz ausnahmsweise von den so beunruhigend wirkenden Verurteilungen
Unschuldiger zu hören brauchten, und die Weisheit einer kaum irrfähigcn Justiz
in viel helleres Licht gesetzt worden wäre.

Es war so schön, als unter den Schlagworten der Wiedereinführung der
Berufung und der Entschädigung der unschuldig Verurteilte« alles hoffnungs¬
voll in die Zukunft blickte. Unsre Laienwelt ist nicht verwöhnt, sie läßt sich
dnrch Vertröstungen abspeisen, wenn sie ihr durch die Tagespresse mundrecht
gemacht werden, und diese hatte sich mit begeistertem Eifer auf jene Schlag¬
worte geworfen. Die Novelle war aber so beschaffen, daß sie auch nicht
vorübergehend trügerische Hoffnungen zu erwecken vermochte. Deshalb ist uns


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[0139] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg Verdächtigen und deshalb ihre Zuständigkeit einzuschränken, dabei hält sie aber eine Berufung gegen die Urteile der Strafkammern, nicht gegen den Spruch des Schwurgerichts für erforderlich. Die Strafkammern können zur Zeit keinen Angeklagten verurteilen, wenn ihn unter den fünf Richtern nicht wenigstens vier für schuldig befinden. Wenn nun schon das Verhältnis von vier zu eins nicht immer eine ausreichende Bürgschaft für eine richtige Verurteilung ist, so muß die Absicht der Novelle, die Strafkammern künftig nur mit drei Richtern zu besetzen, als völlig verfehlt erachtet werden, da bei einer solchen Besetzung die Verurteilung mit zwei Stimmen gegen eine ausgesprochen werden könnte. Wie viel schlimmer jeder Angeklagte bei einer Herabsetzung der Mitgliederzahl der Strafkammern gefahren wäre, läßt sich nur bemessen, wenn man bedenkt, daß die dreigliedrige Kammer unzuverlässiger als ein Einzelrichter ist, und die erste Instanz, wenn dem Angeklagten das Rechtsmittel der Berufung zusteht, schon an sich leichter eine Verurteilung ausspricht, da diese der Kontrolle unterliegt. Die Entschädigung unschuldig Verurteilter ist eigentlich ein ganz selbstverständ¬ licher Akt der Gerechtigkeit. Sie kann aber schädlich werden, wenn sie den An¬ geklagten verführt, nicht alles, was zu seiner Entlastung, zur Verminderung des gegen ihn vorliegenden Verdachts dienen könnte, geltend zu machen, um einen Kapitalgewinn zu erzielen. Die Novelle hatte ein durchgreifendes Mittel ge¬ funden, die Entschädigungsforderungen so einzudämmen, daß die Kasse des Fiskus darunter nicht zu leiden brauchte. Sie wollte die Wiederaufnahme des Verfahrens annähernd unmöglich machen. Sie verlangte, daß der rechtskräftig Verurteilte seine völlige Unschuld beweise, widrigenfalls das Verfahren nicht wieder aufgenommen werden dürfe. Der einmal Verurteilte sollte sich mit seiner Strafe zufrieden geben, wenn auch nur ein leichter Verdacht gegen ihn bestehen blieb, wenn es ihm nicht gelang, nachzuweisen, daß die ihm zur Last gelegte That überhaupt uicht geschehen war, oder daß er sie nicht gethan haben konnte, weil er nicht gegenwärtig war, oder daß sie ein andrer gethan hatte, der gleichsam als Ersatzmann eintreten müßte. Unangreifbar sollte also die bloße Verdachts strafe bestehen bleiben. Das wäre sür den davon Betroffnen uicht angenehm gewesen, hätte aber den großen Vorteil gehabt, daß wir ferner¬ hin nur ganz ausnahmsweise von den so beunruhigend wirkenden Verurteilungen Unschuldiger zu hören brauchten, und die Weisheit einer kaum irrfähigcn Justiz in viel helleres Licht gesetzt worden wäre. Es war so schön, als unter den Schlagworten der Wiedereinführung der Berufung und der Entschädigung der unschuldig Verurteilte« alles hoffnungs¬ voll in die Zukunft blickte. Unsre Laienwelt ist nicht verwöhnt, sie läßt sich dnrch Vertröstungen abspeisen, wenn sie ihr durch die Tagespresse mundrecht gemacht werden, und diese hatte sich mit begeistertem Eifer auf jene Schlag¬ worte geworfen. Die Novelle war aber so beschaffen, daß sie auch nicht vorübergehend trügerische Hoffnungen zu erwecken vermochte. Deshalb ist uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/139>, abgerufen am 19.10.2024.