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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Abkommen eine Strafe bis zu einem Jahr Gefängnis verwirkt, eine Strafvor¬
schrift, die dem Rechtsgefühl so wenig entspricht, daß sie auch von dem den
Gläubiger vertretenden Anwalt bisweilen übersehen wird.

Bei der Auswahl dieser Beispiele kam es nur darauf an, daß sie ohne
nähere Erklärung leicht verständlich sind. Sie haben sämtlich mit den bei
uns in übermäßiger Zahl vorhandnen Polizeivorschriften das gemein, daß sie
Strafen für an sich sittlich vorwurfsfreie Handlungen verhängen. Derartige
Strafvorschriften lassen es beinahe glaubhaft erscheinen, daß man sich unter
den reichsgerichtlichen Worten der subjektiven Verschuldung etwas denken könne,
während doch eigentlich jede Verschuldung subjektiv sein muß, es eine bloß
objektive Verschuldung gar nicht geben darf und man ein Unheil wohl ohne
Schuld verursachen, aber nicht verschulden kann. Wenn jedoch das Gesetz in
vielen Fällen ohne Verschulden begangne Handlungen zu "Strafthaten" stempelt,
als ob es eine bloß objektive Verschuldung geben könnte, dann läßt sich freilich
mit einem Anschein von logischer Berechtigung bei Thaten, die zu ihrer Be¬
gehung den bösen Willen des Thäters, also ein Verschulden erfordern, von
einem subjektiven Verschulden reden. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß
die Gnade des Monarchen dazu da sei, unverschuldete Vergehen von den
Strafen zu befreien. Die Gnade soll "für Recht ergehen"; wo es aber Recht
sein müßte, daß eine Handlung straffrei ist, da bietet die Gnade einen unzu¬
länglichen Ersatz. Es bleiben andre Fälle genug für Gnade übrig. Wer ge¬
peinigt von den unsäglichen Leiden seines geliebten Weibes, das einer tückischen
Krankheit erliegen muß, den Bitten der Unglücklichen nicht zu widersteh"."
vermag und sie tötet, der weiß, daß er Unrecht thut, und ladet eine Schuld
auf sich. Ihm gegenüber mag auch schon die irdische Gnade angebracht
sein; führt doch das Leben durch widerstreitende Pflichten so oft in Ver¬
suchung und Schuld. In solchen Fällen kann es uns offenbar werden, daß
neben der Gerechtigkeit auch die Gnade bestehen kann und die Gnade häufig
gerechter ist als die Gerechtigkeit. Aber eine vorwurfsfreie, arglos begangne
Handlung sollte der Gnade nicht bedürfen.

Schon Savigny hat darauf hingewiesen, daß es Leute giebt, die glauben,
jedes Übel warte nur auf ein abhelfendes Gesetz, um auf der Stelle zu ver¬
schwinden. Diese von des Gedankens Blässe angekränkelten Leute haben
offenbar einen entscheidenden Einfluß auf die Strafgesetzgebung gewonnen und
sie in falsche Bahnen gedrängt.

Neben die ziemlich zahlreichen Vergehen ohne Verschulden treten noch
solche, die zwar nicht vorwurfsfrei genannt werden können, die aber dennoch
zu Unrecht und nur zu Ehren der Scheinheiligkeit für strafbar erklärt sind.
So mag man in dem Duell etwas vom Standpunkt der Religion und der
Sittlichkeit verwerfliches finden, es bleibt doch immer eine widersinnige Schein¬
heiligkeit, unter den Verhältnissen, wie sie bei uns liegen, den Duellanten, auch


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Abkommen eine Strafe bis zu einem Jahr Gefängnis verwirkt, eine Strafvor¬
schrift, die dem Rechtsgefühl so wenig entspricht, daß sie auch von dem den
Gläubiger vertretenden Anwalt bisweilen übersehen wird.

Bei der Auswahl dieser Beispiele kam es nur darauf an, daß sie ohne
nähere Erklärung leicht verständlich sind. Sie haben sämtlich mit den bei
uns in übermäßiger Zahl vorhandnen Polizeivorschriften das gemein, daß sie
Strafen für an sich sittlich vorwurfsfreie Handlungen verhängen. Derartige
Strafvorschriften lassen es beinahe glaubhaft erscheinen, daß man sich unter
den reichsgerichtlichen Worten der subjektiven Verschuldung etwas denken könne,
während doch eigentlich jede Verschuldung subjektiv sein muß, es eine bloß
objektive Verschuldung gar nicht geben darf und man ein Unheil wohl ohne
Schuld verursachen, aber nicht verschulden kann. Wenn jedoch das Gesetz in
vielen Fällen ohne Verschulden begangne Handlungen zu „Strafthaten" stempelt,
als ob es eine bloß objektive Verschuldung geben könnte, dann läßt sich freilich
mit einem Anschein von logischer Berechtigung bei Thaten, die zu ihrer Be¬
gehung den bösen Willen des Thäters, also ein Verschulden erfordern, von
einem subjektiven Verschulden reden. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß
die Gnade des Monarchen dazu da sei, unverschuldete Vergehen von den
Strafen zu befreien. Die Gnade soll „für Recht ergehen"; wo es aber Recht
sein müßte, daß eine Handlung straffrei ist, da bietet die Gnade einen unzu¬
länglichen Ersatz. Es bleiben andre Fälle genug für Gnade übrig. Wer ge¬
peinigt von den unsäglichen Leiden seines geliebten Weibes, das einer tückischen
Krankheit erliegen muß, den Bitten der Unglücklichen nicht zu widersteh«.«
vermag und sie tötet, der weiß, daß er Unrecht thut, und ladet eine Schuld
auf sich. Ihm gegenüber mag auch schon die irdische Gnade angebracht
sein; führt doch das Leben durch widerstreitende Pflichten so oft in Ver¬
suchung und Schuld. In solchen Fällen kann es uns offenbar werden, daß
neben der Gerechtigkeit auch die Gnade bestehen kann und die Gnade häufig
gerechter ist als die Gerechtigkeit. Aber eine vorwurfsfreie, arglos begangne
Handlung sollte der Gnade nicht bedürfen.

Schon Savigny hat darauf hingewiesen, daß es Leute giebt, die glauben,
jedes Übel warte nur auf ein abhelfendes Gesetz, um auf der Stelle zu ver¬
schwinden. Diese von des Gedankens Blässe angekränkelten Leute haben
offenbar einen entscheidenden Einfluß auf die Strafgesetzgebung gewonnen und
sie in falsche Bahnen gedrängt.

Neben die ziemlich zahlreichen Vergehen ohne Verschulden treten noch
solche, die zwar nicht vorwurfsfrei genannt werden können, die aber dennoch
zu Unrecht und nur zu Ehren der Scheinheiligkeit für strafbar erklärt sind.
So mag man in dem Duell etwas vom Standpunkt der Religion und der
Sittlichkeit verwerfliches finden, es bleibt doch immer eine widersinnige Schein¬
heiligkeit, unter den Verhältnissen, wie sie bei uns liegen, den Duellanten, auch


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[0130] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg Abkommen eine Strafe bis zu einem Jahr Gefängnis verwirkt, eine Strafvor¬ schrift, die dem Rechtsgefühl so wenig entspricht, daß sie auch von dem den Gläubiger vertretenden Anwalt bisweilen übersehen wird. Bei der Auswahl dieser Beispiele kam es nur darauf an, daß sie ohne nähere Erklärung leicht verständlich sind. Sie haben sämtlich mit den bei uns in übermäßiger Zahl vorhandnen Polizeivorschriften das gemein, daß sie Strafen für an sich sittlich vorwurfsfreie Handlungen verhängen. Derartige Strafvorschriften lassen es beinahe glaubhaft erscheinen, daß man sich unter den reichsgerichtlichen Worten der subjektiven Verschuldung etwas denken könne, während doch eigentlich jede Verschuldung subjektiv sein muß, es eine bloß objektive Verschuldung gar nicht geben darf und man ein Unheil wohl ohne Schuld verursachen, aber nicht verschulden kann. Wenn jedoch das Gesetz in vielen Fällen ohne Verschulden begangne Handlungen zu „Strafthaten" stempelt, als ob es eine bloß objektive Verschuldung geben könnte, dann läßt sich freilich mit einem Anschein von logischer Berechtigung bei Thaten, die zu ihrer Be¬ gehung den bösen Willen des Thäters, also ein Verschulden erfordern, von einem subjektiven Verschulden reden. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß die Gnade des Monarchen dazu da sei, unverschuldete Vergehen von den Strafen zu befreien. Die Gnade soll „für Recht ergehen"; wo es aber Recht sein müßte, daß eine Handlung straffrei ist, da bietet die Gnade einen unzu¬ länglichen Ersatz. Es bleiben andre Fälle genug für Gnade übrig. Wer ge¬ peinigt von den unsäglichen Leiden seines geliebten Weibes, das einer tückischen Krankheit erliegen muß, den Bitten der Unglücklichen nicht zu widersteh«.« vermag und sie tötet, der weiß, daß er Unrecht thut, und ladet eine Schuld auf sich. Ihm gegenüber mag auch schon die irdische Gnade angebracht sein; führt doch das Leben durch widerstreitende Pflichten so oft in Ver¬ suchung und Schuld. In solchen Fällen kann es uns offenbar werden, daß neben der Gerechtigkeit auch die Gnade bestehen kann und die Gnade häufig gerechter ist als die Gerechtigkeit. Aber eine vorwurfsfreie, arglos begangne Handlung sollte der Gnade nicht bedürfen. Schon Savigny hat darauf hingewiesen, daß es Leute giebt, die glauben, jedes Übel warte nur auf ein abhelfendes Gesetz, um auf der Stelle zu ver¬ schwinden. Diese von des Gedankens Blässe angekränkelten Leute haben offenbar einen entscheidenden Einfluß auf die Strafgesetzgebung gewonnen und sie in falsche Bahnen gedrängt. Neben die ziemlich zahlreichen Vergehen ohne Verschulden treten noch solche, die zwar nicht vorwurfsfrei genannt werden können, die aber dennoch zu Unrecht und nur zu Ehren der Scheinheiligkeit für strafbar erklärt sind. So mag man in dem Duell etwas vom Standpunkt der Religion und der Sittlichkeit verwerfliches finden, es bleibt doch immer eine widersinnige Schein¬ heiligkeit, unter den Verhältnissen, wie sie bei uns liegen, den Duellanten, auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/130>, abgerufen am 18.06.2024.