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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

jämmerlich scheitern, in dem auch nicht die einfachsten Grundlagen für eine
Organisation sozialer Arbeit vorhanden sind. Alle diese Wohlthätigkeitsgrün-
dungen werden ein für allemal in die russische Beamtenmaschinerie hinein-
geschranbt, und diese Maschinerie geht langsam, langsam; ihr oberster Grundsatz
lautet: was heute nicht geschieht, dafür ist morgen auch noch Zeit. Und der
Auswuchs des "Tschin," des Veamtenkastenwesens, die vermaledeite Titel- und
Ordcnssucht, spielt auch hier in die aufrichtigen und ehrlichen Bestrebungen
hinein. Wie mancher wird zum "Wohlthäter," nur um Staatsrat zu werden!

Ein großer Antrieb in diesem Sinne, den Brüdern und Volksgenossen zu
helfen, ist von dem Grafen Tolstoi ausgegangen. Tolstoi selber freilich ist
von deu gesunden Gedanken mancher seiner Schriften immer mehr zu einem
krankhaft pessimistischen Radikalismus fortgeschritten, er ist in seinem Wesen
wie in seinen Schriften zum Sonderling geworden. Die Ideen aber, die er
zuerst predigte, Rückkehr zur Einfachheit, Selbstverleugnung, Nächstenliebe, und
seine Forderung, die Lebensauffassung des Urchristentums praktisch zu ver¬
wirklichen, haben in weiten Kreisen Wurzel geschlagen. Er selbst hat die letzten
Folgerungen aus den christlichen Ideen gezogen: hat er doch neuerdings den
Patriotismus für unsittlich und unchristlich erklärt, weil er mit dem Gebot
der allgemeinen Menschenliebe im Widerspruche stehe. Kein Wunder, daß seine
Anhänger allerlei Phantasterei und Narretei treiben. Christus sagte: Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst; die Tolstojaner sagen: Liebe deinen Nächsten
mehr als dich selbst. Der absolute Verzicht auf persönliches Glück, auf
persönlichen Stolz, kurz auf Gelteudmachen der eignen Persönlichkeit erscheint
ihnen als das Ideal sittlicher Lebensführung. Ich habe Fälle keimen gelernt,
wo diese Art das Leben anzusehen geradezu Ungeheuerlichkeiten zu Tage
gefördert hatte. Ein junges blühendes Mädchen verheiratete sich mit einem
alten, widerwärtigen Krüppel, der ihr nichts, uicht einmal pekuniäre Ver¬
Versorgung bieten konnte, nur weil sie glaubte, als seine Frau ihn besser
pflegen zu können, als es eine gemietete Krankenwärterin thun würde. Eine
andre junge Dame, selbst fast mittellos, adoptirte ein armes Bauernkind, um
es besser zu erziehen, als es die Eltern könnten -- ohne sich klar zu machen,
daß sie dabei zwar auf eignes Glück verzichtete, aber gleichzeitig das Kind
unglücklich machte. Namentlich auch in den Kreisen der jungen Herren aus
der besten Gesellschaft wird diese Modephilosvvhie vielfach als ein Evangelium
betrachtet. Vielleicht ist sie als eine Reaktion gegen den Nihilismus zu be¬
trachten, aber sie ist nicht von Segen, es ist eine Modekrankheit; diese Auf¬
fassung des Lebens macht nicht kampfesfroh, sondern kraftlos. Aber freilich,
sie verträgt sich gut mit einem Stück lebensmüder Blasirtheit. Und darum
ist es erklärlich, daß sie gerade in den Kreisen vergnügungssatter junger Lebe¬
männer und salonmüder junger Frauen grassirt, die, verheiratet oder unver¬
heiratet, die Ehe hassen.


Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

jämmerlich scheitern, in dem auch nicht die einfachsten Grundlagen für eine
Organisation sozialer Arbeit vorhanden sind. Alle diese Wohlthätigkeitsgrün-
dungen werden ein für allemal in die russische Beamtenmaschinerie hinein-
geschranbt, und diese Maschinerie geht langsam, langsam; ihr oberster Grundsatz
lautet: was heute nicht geschieht, dafür ist morgen auch noch Zeit. Und der
Auswuchs des „Tschin," des Veamtenkastenwesens, die vermaledeite Titel- und
Ordcnssucht, spielt auch hier in die aufrichtigen und ehrlichen Bestrebungen
hinein. Wie mancher wird zum „Wohlthäter," nur um Staatsrat zu werden!

Ein großer Antrieb in diesem Sinne, den Brüdern und Volksgenossen zu
helfen, ist von dem Grafen Tolstoi ausgegangen. Tolstoi selber freilich ist
von deu gesunden Gedanken mancher seiner Schriften immer mehr zu einem
krankhaft pessimistischen Radikalismus fortgeschritten, er ist in seinem Wesen
wie in seinen Schriften zum Sonderling geworden. Die Ideen aber, die er
zuerst predigte, Rückkehr zur Einfachheit, Selbstverleugnung, Nächstenliebe, und
seine Forderung, die Lebensauffassung des Urchristentums praktisch zu ver¬
wirklichen, haben in weiten Kreisen Wurzel geschlagen. Er selbst hat die letzten
Folgerungen aus den christlichen Ideen gezogen: hat er doch neuerdings den
Patriotismus für unsittlich und unchristlich erklärt, weil er mit dem Gebot
der allgemeinen Menschenliebe im Widerspruche stehe. Kein Wunder, daß seine
Anhänger allerlei Phantasterei und Narretei treiben. Christus sagte: Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst; die Tolstojaner sagen: Liebe deinen Nächsten
mehr als dich selbst. Der absolute Verzicht auf persönliches Glück, auf
persönlichen Stolz, kurz auf Gelteudmachen der eignen Persönlichkeit erscheint
ihnen als das Ideal sittlicher Lebensführung. Ich habe Fälle keimen gelernt,
wo diese Art das Leben anzusehen geradezu Ungeheuerlichkeiten zu Tage
gefördert hatte. Ein junges blühendes Mädchen verheiratete sich mit einem
alten, widerwärtigen Krüppel, der ihr nichts, uicht einmal pekuniäre Ver¬
Versorgung bieten konnte, nur weil sie glaubte, als seine Frau ihn besser
pflegen zu können, als es eine gemietete Krankenwärterin thun würde. Eine
andre junge Dame, selbst fast mittellos, adoptirte ein armes Bauernkind, um
es besser zu erziehen, als es die Eltern könnten — ohne sich klar zu machen,
daß sie dabei zwar auf eignes Glück verzichtete, aber gleichzeitig das Kind
unglücklich machte. Namentlich auch in den Kreisen der jungen Herren aus
der besten Gesellschaft wird diese Modephilosvvhie vielfach als ein Evangelium
betrachtet. Vielleicht ist sie als eine Reaktion gegen den Nihilismus zu be¬
trachten, aber sie ist nicht von Segen, es ist eine Modekrankheit; diese Auf¬
fassung des Lebens macht nicht kampfesfroh, sondern kraftlos. Aber freilich,
sie verträgt sich gut mit einem Stück lebensmüder Blasirtheit. Und darum
ist es erklärlich, daß sie gerade in den Kreisen vergnügungssatter junger Lebe¬
männer und salonmüder junger Frauen grassirt, die, verheiratet oder unver¬
heiratet, die Ehe hassen.


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[0083] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland jämmerlich scheitern, in dem auch nicht die einfachsten Grundlagen für eine Organisation sozialer Arbeit vorhanden sind. Alle diese Wohlthätigkeitsgrün- dungen werden ein für allemal in die russische Beamtenmaschinerie hinein- geschranbt, und diese Maschinerie geht langsam, langsam; ihr oberster Grundsatz lautet: was heute nicht geschieht, dafür ist morgen auch noch Zeit. Und der Auswuchs des „Tschin," des Veamtenkastenwesens, die vermaledeite Titel- und Ordcnssucht, spielt auch hier in die aufrichtigen und ehrlichen Bestrebungen hinein. Wie mancher wird zum „Wohlthäter," nur um Staatsrat zu werden! Ein großer Antrieb in diesem Sinne, den Brüdern und Volksgenossen zu helfen, ist von dem Grafen Tolstoi ausgegangen. Tolstoi selber freilich ist von deu gesunden Gedanken mancher seiner Schriften immer mehr zu einem krankhaft pessimistischen Radikalismus fortgeschritten, er ist in seinem Wesen wie in seinen Schriften zum Sonderling geworden. Die Ideen aber, die er zuerst predigte, Rückkehr zur Einfachheit, Selbstverleugnung, Nächstenliebe, und seine Forderung, die Lebensauffassung des Urchristentums praktisch zu ver¬ wirklichen, haben in weiten Kreisen Wurzel geschlagen. Er selbst hat die letzten Folgerungen aus den christlichen Ideen gezogen: hat er doch neuerdings den Patriotismus für unsittlich und unchristlich erklärt, weil er mit dem Gebot der allgemeinen Menschenliebe im Widerspruche stehe. Kein Wunder, daß seine Anhänger allerlei Phantasterei und Narretei treiben. Christus sagte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; die Tolstojaner sagen: Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst. Der absolute Verzicht auf persönliches Glück, auf persönlichen Stolz, kurz auf Gelteudmachen der eignen Persönlichkeit erscheint ihnen als das Ideal sittlicher Lebensführung. Ich habe Fälle keimen gelernt, wo diese Art das Leben anzusehen geradezu Ungeheuerlichkeiten zu Tage gefördert hatte. Ein junges blühendes Mädchen verheiratete sich mit einem alten, widerwärtigen Krüppel, der ihr nichts, uicht einmal pekuniäre Ver¬ Versorgung bieten konnte, nur weil sie glaubte, als seine Frau ihn besser pflegen zu können, als es eine gemietete Krankenwärterin thun würde. Eine andre junge Dame, selbst fast mittellos, adoptirte ein armes Bauernkind, um es besser zu erziehen, als es die Eltern könnten — ohne sich klar zu machen, daß sie dabei zwar auf eignes Glück verzichtete, aber gleichzeitig das Kind unglücklich machte. Namentlich auch in den Kreisen der jungen Herren aus der besten Gesellschaft wird diese Modephilosvvhie vielfach als ein Evangelium betrachtet. Vielleicht ist sie als eine Reaktion gegen den Nihilismus zu be¬ trachten, aber sie ist nicht von Segen, es ist eine Modekrankheit; diese Auf¬ fassung des Lebens macht nicht kampfesfroh, sondern kraftlos. Aber freilich, sie verträgt sich gut mit einem Stück lebensmüder Blasirtheit. Und darum ist es erklärlich, daß sie gerade in den Kreisen vergnügungssatter junger Lebe¬ männer und salonmüder junger Frauen grassirt, die, verheiratet oder unver¬ heiratet, die Ehe hassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/83>, abgerufen am 06.01.2025.