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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

Fällen auch bei uns genommen hätte. Aber es fehlte eins: das soziale Em¬
pfinden. Was sich da auf dem Chodhnkafeld zusammengeballt hatte, war
doch eben "Tschernüi narod," schwarzer Pöbel. Das ist ein häßliches Wort
in unsern Ohren, denn wir sind gewöhnt, sozial zu denken, und wo uns
wirklich einmal ein ähnlicher Ausdruck im eignen Lande über die Zunge
möchte, schämen wir uns gleich und sind vorsichtig genug, ihn hinterzuschlucken.
Bei dem gebildeten Russen ist es nicht Hochmut, wenn er einen Strich macht
zwischen sich und der schwarzen Brut: es ist eine einfache Thatsache, daß
zwischen den Russen der höhern Stände und dein Mushik ein Abgrund klafft.
Mau kann versucht sein, zu fragen -- Moltke in seinen Briefe" ans Rußland
spricht es ähnlich aus --, ob der elegante Gardeoffizier und der Bauer mit
seiner ungeheuerlichen Haartracht, seinem schmutzigen Schafpelz nud seinem un¬
glaublichen Duft einer Nation angehören. Aber nicht bloß der Gebildete em¬
pfindet, daß er einer andern Welt angehört, dem Mushik geht es ebenso. An
einem heißen Tage gingen wir auf dem Lande im Schatten auf dem Fußweg;
auf der Landstraße lag glühende Sonne. Da kommen uns zwei Mnshiki ent¬
gegen. "Komm, sagt der eine, dort drüben ist Schatten." "Ich gehe lieber
hier, antwortet der andre, drüben sind zu viel Herrschaften." Und das sagt
er ganz treuherzig, naiv, als etwas selbstverständliches.

Man wolle mich nicht mißverstehen, wenn ich sage: man muß das niedre
Volk in Nußland ethnographisch betrachte". Damit ist die ganze Tragik der
russischen gesellschaftliche" Verhältnisse ausgesprochen. Denn man kann getrost
annehmen, daß nicht mehr als zwanzig Prozent der Einwohner Rußlands zu
den gebildeten Stünden gehören. Hier kann man wirklich von den "obern
Zehntausend" reden. Alles übrige ist, so bekennt selbst das Nowoje Wremja --
Protoplasma. Eine soziale Empfindung für die Masse des Volks hat, wie
gesagt, der Russe in: allgemeine" nicht; aber das Mißverhältnis nagt an vielen
edelfühlenden Herzen, sehr viele sind sich der Tragik bewußt, die darin liegt,
daß die eigentliche Masse ihrer Brüder und Volksgenossen so abgrundtief
unter ihnen steht, und allenthalben, auf den verschiedensten Gebieten sucht man
den Abgrund auszufüllen. Nur nennt man alle diese Bestrebungen nicht etwa
gemeinnützig, Humanitär oder sozial, nein, alles heißt: Wohlthätigkeit. Volks¬
schulen zu bauen, Krankenhäuser zu stiften, Arbeiterwohnungen anzulegen, alles
nennt sich Wohlthätigkeit. Das ist bezeichnend; es bleibt doch eben immer der
Reiche, der dem Bettler giebt. Daß es eine soziale Pflicht, vollends für den
Staat, geben könnte, kommt dem "Wohlthäter" gar nicht in den Sinn.

Es ist keine Frage, ehrliche Bemühungen in dieser Richtung sind in großer
Zahl vorhanden; aber freilich, es sind Tropfen von Ol in ein wogendes
Meer. Welche Niesenaufgaben freilich sind in einem Volke noch zu leisten, das
in seiner überwältigenden Mehrzahl noch nicht lesen und schreiben kann, indem
die Versuche einer allgemeinen Volkszählung -- selbst in den Städten! --


Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

Fällen auch bei uns genommen hätte. Aber es fehlte eins: das soziale Em¬
pfinden. Was sich da auf dem Chodhnkafeld zusammengeballt hatte, war
doch eben „Tschernüi narod," schwarzer Pöbel. Das ist ein häßliches Wort
in unsern Ohren, denn wir sind gewöhnt, sozial zu denken, und wo uns
wirklich einmal ein ähnlicher Ausdruck im eignen Lande über die Zunge
möchte, schämen wir uns gleich und sind vorsichtig genug, ihn hinterzuschlucken.
Bei dem gebildeten Russen ist es nicht Hochmut, wenn er einen Strich macht
zwischen sich und der schwarzen Brut: es ist eine einfache Thatsache, daß
zwischen den Russen der höhern Stände und dein Mushik ein Abgrund klafft.
Mau kann versucht sein, zu fragen — Moltke in seinen Briefe» ans Rußland
spricht es ähnlich aus —, ob der elegante Gardeoffizier und der Bauer mit
seiner ungeheuerlichen Haartracht, seinem schmutzigen Schafpelz nud seinem un¬
glaublichen Duft einer Nation angehören. Aber nicht bloß der Gebildete em¬
pfindet, daß er einer andern Welt angehört, dem Mushik geht es ebenso. An
einem heißen Tage gingen wir auf dem Lande im Schatten auf dem Fußweg;
auf der Landstraße lag glühende Sonne. Da kommen uns zwei Mnshiki ent¬
gegen. „Komm, sagt der eine, dort drüben ist Schatten." „Ich gehe lieber
hier, antwortet der andre, drüben sind zu viel Herrschaften." Und das sagt
er ganz treuherzig, naiv, als etwas selbstverständliches.

Man wolle mich nicht mißverstehen, wenn ich sage: man muß das niedre
Volk in Nußland ethnographisch betrachte». Damit ist die ganze Tragik der
russischen gesellschaftliche» Verhältnisse ausgesprochen. Denn man kann getrost
annehmen, daß nicht mehr als zwanzig Prozent der Einwohner Rußlands zu
den gebildeten Stünden gehören. Hier kann man wirklich von den „obern
Zehntausend" reden. Alles übrige ist, so bekennt selbst das Nowoje Wremja —
Protoplasma. Eine soziale Empfindung für die Masse des Volks hat, wie
gesagt, der Russe in: allgemeine» nicht; aber das Mißverhältnis nagt an vielen
edelfühlenden Herzen, sehr viele sind sich der Tragik bewußt, die darin liegt,
daß die eigentliche Masse ihrer Brüder und Volksgenossen so abgrundtief
unter ihnen steht, und allenthalben, auf den verschiedensten Gebieten sucht man
den Abgrund auszufüllen. Nur nennt man alle diese Bestrebungen nicht etwa
gemeinnützig, Humanitär oder sozial, nein, alles heißt: Wohlthätigkeit. Volks¬
schulen zu bauen, Krankenhäuser zu stiften, Arbeiterwohnungen anzulegen, alles
nennt sich Wohlthätigkeit. Das ist bezeichnend; es bleibt doch eben immer der
Reiche, der dem Bettler giebt. Daß es eine soziale Pflicht, vollends für den
Staat, geben könnte, kommt dem „Wohlthäter" gar nicht in den Sinn.

Es ist keine Frage, ehrliche Bemühungen in dieser Richtung sind in großer
Zahl vorhanden; aber freilich, es sind Tropfen von Ol in ein wogendes
Meer. Welche Niesenaufgaben freilich sind in einem Volke noch zu leisten, das
in seiner überwältigenden Mehrzahl noch nicht lesen und schreiben kann, indem
die Versuche einer allgemeinen Volkszählung — selbst in den Städten! —


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[0082] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland Fällen auch bei uns genommen hätte. Aber es fehlte eins: das soziale Em¬ pfinden. Was sich da auf dem Chodhnkafeld zusammengeballt hatte, war doch eben „Tschernüi narod," schwarzer Pöbel. Das ist ein häßliches Wort in unsern Ohren, denn wir sind gewöhnt, sozial zu denken, und wo uns wirklich einmal ein ähnlicher Ausdruck im eignen Lande über die Zunge möchte, schämen wir uns gleich und sind vorsichtig genug, ihn hinterzuschlucken. Bei dem gebildeten Russen ist es nicht Hochmut, wenn er einen Strich macht zwischen sich und der schwarzen Brut: es ist eine einfache Thatsache, daß zwischen den Russen der höhern Stände und dein Mushik ein Abgrund klafft. Mau kann versucht sein, zu fragen — Moltke in seinen Briefe» ans Rußland spricht es ähnlich aus —, ob der elegante Gardeoffizier und der Bauer mit seiner ungeheuerlichen Haartracht, seinem schmutzigen Schafpelz nud seinem un¬ glaublichen Duft einer Nation angehören. Aber nicht bloß der Gebildete em¬ pfindet, daß er einer andern Welt angehört, dem Mushik geht es ebenso. An einem heißen Tage gingen wir auf dem Lande im Schatten auf dem Fußweg; auf der Landstraße lag glühende Sonne. Da kommen uns zwei Mnshiki ent¬ gegen. „Komm, sagt der eine, dort drüben ist Schatten." „Ich gehe lieber hier, antwortet der andre, drüben sind zu viel Herrschaften." Und das sagt er ganz treuherzig, naiv, als etwas selbstverständliches. Man wolle mich nicht mißverstehen, wenn ich sage: man muß das niedre Volk in Nußland ethnographisch betrachte». Damit ist die ganze Tragik der russischen gesellschaftliche» Verhältnisse ausgesprochen. Denn man kann getrost annehmen, daß nicht mehr als zwanzig Prozent der Einwohner Rußlands zu den gebildeten Stünden gehören. Hier kann man wirklich von den „obern Zehntausend" reden. Alles übrige ist, so bekennt selbst das Nowoje Wremja — Protoplasma. Eine soziale Empfindung für die Masse des Volks hat, wie gesagt, der Russe in: allgemeine» nicht; aber das Mißverhältnis nagt an vielen edelfühlenden Herzen, sehr viele sind sich der Tragik bewußt, die darin liegt, daß die eigentliche Masse ihrer Brüder und Volksgenossen so abgrundtief unter ihnen steht, und allenthalben, auf den verschiedensten Gebieten sucht man den Abgrund auszufüllen. Nur nennt man alle diese Bestrebungen nicht etwa gemeinnützig, Humanitär oder sozial, nein, alles heißt: Wohlthätigkeit. Volks¬ schulen zu bauen, Krankenhäuser zu stiften, Arbeiterwohnungen anzulegen, alles nennt sich Wohlthätigkeit. Das ist bezeichnend; es bleibt doch eben immer der Reiche, der dem Bettler giebt. Daß es eine soziale Pflicht, vollends für den Staat, geben könnte, kommt dem „Wohlthäter" gar nicht in den Sinn. Es ist keine Frage, ehrliche Bemühungen in dieser Richtung sind in großer Zahl vorhanden; aber freilich, es sind Tropfen von Ol in ein wogendes Meer. Welche Niesenaufgaben freilich sind in einem Volke noch zu leisten, das in seiner überwältigenden Mehrzahl noch nicht lesen und schreiben kann, indem die Versuche einer allgemeinen Volkszählung — selbst in den Städten! —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/82>, abgerufen am 06.01.2025.