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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsch-französische Litterarvertrag

Handlungen der beiden Staaten zu Artikel 4 geführt hat. Das aber ist für
uns hier das Ausschlaggebende. Ich erwähnte schon, daß unsre Kommissarien
ursprünglich verlangt haben, daß für Schulzwecke der Abdruck ganzer franzö¬
sischer Werke freigelassen werde. Erst als das nicht möglich war, ging man
in den Forderungen zurück, aber man rettete den "auszugsweisen separaten
Abdruck" eines französischen Werkes. Bei alledem ist die leitende Rücksicht
das Interesse der deutschen Schule gewesen. Dieses Interesse der Schule muß
in demselben hervorragenden Maße, wie es historisch auf das Zustandekommen
des Litterarvertrags eingewirkt hat, ein entscheidender Bestandteil der Be¬
weisführung zur richtigen Auslegung des Vertrags auch jetzt noch sein.

Und nun denke man sich den Fall, den ich durchaus nicht als unmöglich
hinstelle, daß die französischen Kläger in dem schwebenden und in den sicherlich
folgenden Prozessen mit ihrer Auffassung durchdrängen. Was würde die Folge
sein? Nichts geringeres, als daß aus unsern Schulen die Werke aller fran¬
zösischen Schriftsteller, die noch leben, oder seit deren Tode noch nicht dreißig
Jahre verflossen sind, mit einem Schlage verschwinden würden. Da natürlich
dem wohlverstandncn Bedürfnis einer höhern Schule der Abdruck von zwei
bis drei Seiten aus solch einem Schriftsteller nicht genügen würde, so könnten
Chrestomathien gar keinen Ersatz für den großen Verlust geben, und wir stünden
mit eineck male vor der Notwendigkeit, auf einen Kreis von Schriftstellern
zurückzugreifen, gegen deren literarhistorische Bedeutung ja niemand etwas ein¬
zuwenden hat, deren Brauchbarkeit für die Zwecke aber, die die moderne Ent¬
wicklung dieses Unterrichts anstrebt und anstreben muß, jeder Kundige be¬
zweifeln wird. Wir würden eine neue Ära (ünarlss clouss Heraufziehen sehen,
und das farbenreiche Bild von dem gegenwärtigen französischen Leben in Gesell¬
schaft, Kunst und Wissenschaft, das wir jetzt unsern Schülern geben können,
würde über Nacht verschwinden. Die Regierungen müßten ihre Lehrplüne
ändern, und gerade die fruchtbarsten Bestimmungen, die schönsten, mühsam
erkämpften Ergebnisse langjähriger Bestrebungen der nenphilologischen Lehrer
würden verschwinden müssen. Wie kann uns gedient sein mit ein paar heraus¬
gerissenen Seiten aus Alphonse Daudet, aus Frcmyois Coppse, aus Hippolyte
Taine? Wie zerfahren und oberflächlich und unbefriedigend für Lehrer und
Schüler würde der Unterricht werden, wenn wir wieder zu den alten Chresto¬
mathien zurückgezwäugt würden, die wir eben erst glücklich überwunden haben!
Und selbst diese Chrestomathien würden vor den neuern Bestrebungen der
Franzosen, wie das auf dem zu Anfang erwähnten Pariser Kongreß klar ge¬
worden ist. nicht standhalten; auch sie würden zu lange Auszüge haben, jede
Probe würde auf den Umfang von zwei bis drei Seiten zurückgedrängt werden!
Nach dem heutigen Stande der Dinge, den wir vielleicht nur darum nicht
jeden Augenblick als eine Segnung empfunden haben, weil wir ihn für un¬
antastbar und selbstverständlich gehalten haben, sind wir in der Lage, den


Der deutsch-französische Litterarvertrag

Handlungen der beiden Staaten zu Artikel 4 geführt hat. Das aber ist für
uns hier das Ausschlaggebende. Ich erwähnte schon, daß unsre Kommissarien
ursprünglich verlangt haben, daß für Schulzwecke der Abdruck ganzer franzö¬
sischer Werke freigelassen werde. Erst als das nicht möglich war, ging man
in den Forderungen zurück, aber man rettete den „auszugsweisen separaten
Abdruck" eines französischen Werkes. Bei alledem ist die leitende Rücksicht
das Interesse der deutschen Schule gewesen. Dieses Interesse der Schule muß
in demselben hervorragenden Maße, wie es historisch auf das Zustandekommen
des Litterarvertrags eingewirkt hat, ein entscheidender Bestandteil der Be¬
weisführung zur richtigen Auslegung des Vertrags auch jetzt noch sein.

Und nun denke man sich den Fall, den ich durchaus nicht als unmöglich
hinstelle, daß die französischen Kläger in dem schwebenden und in den sicherlich
folgenden Prozessen mit ihrer Auffassung durchdrängen. Was würde die Folge
sein? Nichts geringeres, als daß aus unsern Schulen die Werke aller fran¬
zösischen Schriftsteller, die noch leben, oder seit deren Tode noch nicht dreißig
Jahre verflossen sind, mit einem Schlage verschwinden würden. Da natürlich
dem wohlverstandncn Bedürfnis einer höhern Schule der Abdruck von zwei
bis drei Seiten aus solch einem Schriftsteller nicht genügen würde, so könnten
Chrestomathien gar keinen Ersatz für den großen Verlust geben, und wir stünden
mit eineck male vor der Notwendigkeit, auf einen Kreis von Schriftstellern
zurückzugreifen, gegen deren literarhistorische Bedeutung ja niemand etwas ein¬
zuwenden hat, deren Brauchbarkeit für die Zwecke aber, die die moderne Ent¬
wicklung dieses Unterrichts anstrebt und anstreben muß, jeder Kundige be¬
zweifeln wird. Wir würden eine neue Ära (ünarlss clouss Heraufziehen sehen,
und das farbenreiche Bild von dem gegenwärtigen französischen Leben in Gesell¬
schaft, Kunst und Wissenschaft, das wir jetzt unsern Schülern geben können,
würde über Nacht verschwinden. Die Regierungen müßten ihre Lehrplüne
ändern, und gerade die fruchtbarsten Bestimmungen, die schönsten, mühsam
erkämpften Ergebnisse langjähriger Bestrebungen der nenphilologischen Lehrer
würden verschwinden müssen. Wie kann uns gedient sein mit ein paar heraus¬
gerissenen Seiten aus Alphonse Daudet, aus Frcmyois Coppse, aus Hippolyte
Taine? Wie zerfahren und oberflächlich und unbefriedigend für Lehrer und
Schüler würde der Unterricht werden, wenn wir wieder zu den alten Chresto¬
mathien zurückgezwäugt würden, die wir eben erst glücklich überwunden haben!
Und selbst diese Chrestomathien würden vor den neuern Bestrebungen der
Franzosen, wie das auf dem zu Anfang erwähnten Pariser Kongreß klar ge¬
worden ist. nicht standhalten; auch sie würden zu lange Auszüge haben, jede
Probe würde auf den Umfang von zwei bis drei Seiten zurückgedrängt werden!
Nach dem heutigen Stande der Dinge, den wir vielleicht nur darum nicht
jeden Augenblick als eine Segnung empfunden haben, weil wir ihn für un¬
antastbar und selbstverständlich gehalten haben, sind wir in der Lage, den


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[0640] Der deutsch-französische Litterarvertrag Handlungen der beiden Staaten zu Artikel 4 geführt hat. Das aber ist für uns hier das Ausschlaggebende. Ich erwähnte schon, daß unsre Kommissarien ursprünglich verlangt haben, daß für Schulzwecke der Abdruck ganzer franzö¬ sischer Werke freigelassen werde. Erst als das nicht möglich war, ging man in den Forderungen zurück, aber man rettete den „auszugsweisen separaten Abdruck" eines französischen Werkes. Bei alledem ist die leitende Rücksicht das Interesse der deutschen Schule gewesen. Dieses Interesse der Schule muß in demselben hervorragenden Maße, wie es historisch auf das Zustandekommen des Litterarvertrags eingewirkt hat, ein entscheidender Bestandteil der Be¬ weisführung zur richtigen Auslegung des Vertrags auch jetzt noch sein. Und nun denke man sich den Fall, den ich durchaus nicht als unmöglich hinstelle, daß die französischen Kläger in dem schwebenden und in den sicherlich folgenden Prozessen mit ihrer Auffassung durchdrängen. Was würde die Folge sein? Nichts geringeres, als daß aus unsern Schulen die Werke aller fran¬ zösischen Schriftsteller, die noch leben, oder seit deren Tode noch nicht dreißig Jahre verflossen sind, mit einem Schlage verschwinden würden. Da natürlich dem wohlverstandncn Bedürfnis einer höhern Schule der Abdruck von zwei bis drei Seiten aus solch einem Schriftsteller nicht genügen würde, so könnten Chrestomathien gar keinen Ersatz für den großen Verlust geben, und wir stünden mit eineck male vor der Notwendigkeit, auf einen Kreis von Schriftstellern zurückzugreifen, gegen deren literarhistorische Bedeutung ja niemand etwas ein¬ zuwenden hat, deren Brauchbarkeit für die Zwecke aber, die die moderne Ent¬ wicklung dieses Unterrichts anstrebt und anstreben muß, jeder Kundige be¬ zweifeln wird. Wir würden eine neue Ära (ünarlss clouss Heraufziehen sehen, und das farbenreiche Bild von dem gegenwärtigen französischen Leben in Gesell¬ schaft, Kunst und Wissenschaft, das wir jetzt unsern Schülern geben können, würde über Nacht verschwinden. Die Regierungen müßten ihre Lehrplüne ändern, und gerade die fruchtbarsten Bestimmungen, die schönsten, mühsam erkämpften Ergebnisse langjähriger Bestrebungen der nenphilologischen Lehrer würden verschwinden müssen. Wie kann uns gedient sein mit ein paar heraus¬ gerissenen Seiten aus Alphonse Daudet, aus Frcmyois Coppse, aus Hippolyte Taine? Wie zerfahren und oberflächlich und unbefriedigend für Lehrer und Schüler würde der Unterricht werden, wenn wir wieder zu den alten Chresto¬ mathien zurückgezwäugt würden, die wir eben erst glücklich überwunden haben! Und selbst diese Chrestomathien würden vor den neuern Bestrebungen der Franzosen, wie das auf dem zu Anfang erwähnten Pariser Kongreß klar ge¬ worden ist. nicht standhalten; auch sie würden zu lange Auszüge haben, jede Probe würde auf den Umfang von zwei bis drei Seiten zurückgedrängt werden! Nach dem heutigen Stande der Dinge, den wir vielleicht nur darum nicht jeden Augenblick als eine Segnung empfunden haben, weil wir ihn für un¬ antastbar und selbstverständlich gehalten haben, sind wir in der Lage, den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/640>, abgerufen am 08.01.2025.