Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Der Staat als Organismus zwar in einem Kapitel wie dem über "die Faktoren des Volkszusammenhanges" Viel interessanter und praktischer ist das Problem der verschiednen Grade stnmmung oder geschichtliche Lebensgemeinschaft verbundnen Bevölkerung zu einer obersten,
entschließungs- und handlungsfähigen Willens- und Machteinheit, Seine Aufgabe ist die Durch¬ setzung der Lebensinteressen der Gesamtheit," Nach dieser Erklärung könnte die Eidgenossenschaft in Sibirien und Holland in den Alpen liegen. Kann ich eine Pflanze beschreiben, ohne ihr L-Meile, zu berücksichtigen? Und wie viel tiefer und reicher ist die Verbindung des Staates, der, wie Deutschland, weit über ein Jahrtausend wesentlich denselben Boden einnimmt, mit' seinem Boden, als die Gebundenheit einer Pflanze an ihren! Der Staat als Organismus zwar in einem Kapitel wie dem über „die Faktoren des Volkszusammenhanges" Viel interessanter und praktischer ist das Problem der verschiednen Grade stnmmung oder geschichtliche Lebensgemeinschaft verbundnen Bevölkerung zu einer obersten,
entschließungs- und handlungsfähigen Willens- und Machteinheit, Seine Aufgabe ist die Durch¬ setzung der Lebensinteressen der Gesamtheit," Nach dieser Erklärung könnte die Eidgenossenschaft in Sibirien und Holland in den Alpen liegen. Kann ich eine Pflanze beschreiben, ohne ihr L-Meile, zu berücksichtigen? Und wie viel tiefer und reicher ist die Verbindung des Staates, der, wie Deutschland, weit über ein Jahrtausend wesentlich denselben Boden einnimmt, mit' seinem Boden, als die Gebundenheit einer Pflanze an ihren! <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0629" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224213"/> <fw type="header" place="top"> Der Staat als Organismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_1845" prev="#ID_1844"> zwar in einem Kapitel wie dem über „die Faktoren des Volkszusammenhanges"<lb/> manches Nützliche zu finden, und wir bedauern ebendeshalb schon die Äußerlich¬<lb/> keit, daß dieses Kapitel mit dem ganzen Abschnitt über die Entfaltung des<lb/> Gesellschaftskörpers zur Völkerwelt erst fast am Ende des zweiten Bandes<lb/> steht. Doch wird für den Staat niemand wenigstens die praktische Bedeutung<lb/> des Bodens in Abrede stellen. Man hört zwar noch streiten, ob es jemals<lb/> einen Staat ohne Land gegeben habe. Wir halten diese Frage für sehr müßig,<lb/> für gerade so müßig wie die Behauptung, daß die Menschheit in frühern<lb/> Zeiten in der Luft oder im Wasser habe leben können. Der Boden gehört<lb/> zum Menschen, und da Menschen den Staat ausmachen, so tragen sie diese<lb/> Zugehörigkeit in den Staat mit hinein und machen den Staat zu einer unauf¬<lb/> löslichen Verbindung, einer menschlichen Gesellschaft mit einem Stück Boden,<lb/> das „ihr Land" ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1846" next="#ID_1847"> Viel interessanter und praktischer ist das Problem der verschiednen Grade<lb/> von politischer Schätzung des Bodens, denen wir in der Reihe der Völker<lb/> begegnen. Von dem Bodenhunger, der in der Gegenwart jede Macht, die<lb/> die Mittel hat, zu einer Großgrnndspetulantin in Millionen von Quadrat¬<lb/> kilometern macht, finden wir in der Vergangenheit nichts. Boden zu nehmen,<lb/> der in der Zukunft für die wachsenden Bevölkerungen wertvoll werden könnte,<lb/> ist eine dem Altertum völlig fremde Vorstellung. Phönizien, Karthago, Rom<lb/> darf man sich nicht als Eroberungsmächte in diesem Sinne vorstellen. Es<lb/> läßt sich genau verfolgen, wie sich Rom widerwillig zu einer ausgreifenden<lb/> Politik verstand und nur schrittweise zu den großen Landeroberungen kam,<lb/> die seit Cäsar aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen bewerkstelligt<lb/> wurden. Welche Schüchternheit des Vorgehens einer „Weltmacht" in Ger¬<lb/> manien und an der Donau, verglichen mit den russischen oder englischen Er¬<lb/> oberungen unsrer Zeit in Asien, oder der Besetzung ganz Nordamerikas durch,<lb/> Spanien, Frankreich und England im Verlaufe eines Jahrhunderts! So<lb/> sind die griechischen Staaten mit ihren politischen Plänen und Hoffnungen<lb/> gescheitert, weil sie, in ihre Städte eingeschlossen, nicht früh genug den Wert<lb/> des Landes erkannten und politisch ausbeuteten. Athen will Großmacht spielen<lb/> und läßt vor seinen Thoren Megara in fremden Händen! Dieselbe Täuschung,<lb/> bei den deutschen Kaisern und Königen, die da meinten, mit einem weit-<lb/> zerstreuten, mäßigen Landbesitz die Herrschaft im Reiche bewahren zu können.<lb/> Seitdem mit der Entdeckung der neuen Welt und des Stillen Ozeans neue</p><lb/> <note xml:id="FID_89" prev="#FID_88" place="foot"> stnmmung oder geschichtliche Lebensgemeinschaft verbundnen Bevölkerung zu einer obersten,<lb/> entschließungs- und handlungsfähigen Willens- und Machteinheit, Seine Aufgabe ist die Durch¬<lb/> setzung der Lebensinteressen der Gesamtheit," Nach dieser Erklärung könnte die Eidgenossenschaft<lb/> in Sibirien und Holland in den Alpen liegen. Kann ich eine Pflanze beschreiben, ohne ihr<lb/> L-Meile, zu berücksichtigen? Und wie viel tiefer und reicher ist die Verbindung des Staates,<lb/> der, wie Deutschland, weit über ein Jahrtausend wesentlich denselben Boden einnimmt, mit'<lb/> seinem Boden, als die Gebundenheit einer Pflanze an ihren!</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0629]
Der Staat als Organismus
zwar in einem Kapitel wie dem über „die Faktoren des Volkszusammenhanges"
manches Nützliche zu finden, und wir bedauern ebendeshalb schon die Äußerlich¬
keit, daß dieses Kapitel mit dem ganzen Abschnitt über die Entfaltung des
Gesellschaftskörpers zur Völkerwelt erst fast am Ende des zweiten Bandes
steht. Doch wird für den Staat niemand wenigstens die praktische Bedeutung
des Bodens in Abrede stellen. Man hört zwar noch streiten, ob es jemals
einen Staat ohne Land gegeben habe. Wir halten diese Frage für sehr müßig,
für gerade so müßig wie die Behauptung, daß die Menschheit in frühern
Zeiten in der Luft oder im Wasser habe leben können. Der Boden gehört
zum Menschen, und da Menschen den Staat ausmachen, so tragen sie diese
Zugehörigkeit in den Staat mit hinein und machen den Staat zu einer unauf¬
löslichen Verbindung, einer menschlichen Gesellschaft mit einem Stück Boden,
das „ihr Land" ist.
Viel interessanter und praktischer ist das Problem der verschiednen Grade
von politischer Schätzung des Bodens, denen wir in der Reihe der Völker
begegnen. Von dem Bodenhunger, der in der Gegenwart jede Macht, die
die Mittel hat, zu einer Großgrnndspetulantin in Millionen von Quadrat¬
kilometern macht, finden wir in der Vergangenheit nichts. Boden zu nehmen,
der in der Zukunft für die wachsenden Bevölkerungen wertvoll werden könnte,
ist eine dem Altertum völlig fremde Vorstellung. Phönizien, Karthago, Rom
darf man sich nicht als Eroberungsmächte in diesem Sinne vorstellen. Es
läßt sich genau verfolgen, wie sich Rom widerwillig zu einer ausgreifenden
Politik verstand und nur schrittweise zu den großen Landeroberungen kam,
die seit Cäsar aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen bewerkstelligt
wurden. Welche Schüchternheit des Vorgehens einer „Weltmacht" in Ger¬
manien und an der Donau, verglichen mit den russischen oder englischen Er¬
oberungen unsrer Zeit in Asien, oder der Besetzung ganz Nordamerikas durch,
Spanien, Frankreich und England im Verlaufe eines Jahrhunderts! So
sind die griechischen Staaten mit ihren politischen Plänen und Hoffnungen
gescheitert, weil sie, in ihre Städte eingeschlossen, nicht früh genug den Wert
des Landes erkannten und politisch ausbeuteten. Athen will Großmacht spielen
und läßt vor seinen Thoren Megara in fremden Händen! Dieselbe Täuschung,
bei den deutschen Kaisern und Königen, die da meinten, mit einem weit-
zerstreuten, mäßigen Landbesitz die Herrschaft im Reiche bewahren zu können.
Seitdem mit der Entdeckung der neuen Welt und des Stillen Ozeans neue
stnmmung oder geschichtliche Lebensgemeinschaft verbundnen Bevölkerung zu einer obersten,
entschließungs- und handlungsfähigen Willens- und Machteinheit, Seine Aufgabe ist die Durch¬
setzung der Lebensinteressen der Gesamtheit," Nach dieser Erklärung könnte die Eidgenossenschaft
in Sibirien und Holland in den Alpen liegen. Kann ich eine Pflanze beschreiben, ohne ihr
L-Meile, zu berücksichtigen? Und wie viel tiefer und reicher ist die Verbindung des Staates,
der, wie Deutschland, weit über ein Jahrtausend wesentlich denselben Boden einnimmt, mit'
seinem Boden, als die Gebundenheit einer Pflanze an ihren!
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