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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Der Staat als Vrgcmismus

auf der Erde herübergetragne Auffassung allgemeingiltiger Entwicklungsgesetze,
so verschwindet auch der einst beliebte Gegensatz einer in ruheloser Entwicklung
fortstrebenden Menschheit zu einer in immer gleiche Bahnen gebannten, in
gewissem Sinne starren Natur.

Nun ist aber durch die Niederlegung der Scheidewand zwischen Mensch¬
heit und Natur noch viel mehr geschehen. Es ist erst der Blick erschlossen
worden für Eutwicklungsvorgänge in der menschlichen Gesellschaft, von denen
man vorher gar keine Ahnung hatte. Vor allem die ethnographischen Er¬
fahrungen, die uns eine Entwicklung der Familie, der Gesellschaft und des
Staats von ungeahnten Anfängen und eine ebenso unerwartete Mannich-
faltigkeit dieser Formen der menschlichen Vereinigungen erkennen lassen, geben
uns ganz neue Vorstellungen von dem, was auf diesem Gebiete möglich ist.
Das ist nicht bloß ein gelehrtes Interesse, sondern es wirft ein Licht auf
das, was kommen kann, was möglich und vielleicht wahrscheinlich ist. Daher
das lebhafte Interesse, mit dem sich Marxisten und Positivisten vor allem
der Entwicklungsgeschichte der Familie und der Gesellschaft zugewendet haben.
Sie trieb ein Instinkt für das praktisch Fruchtbare in der Anwendung der
allgemeinen Entwicklungsgesetze auf die Gesellschaft. Sie haben sich zwar
alle dabei in Sackgassen verrannt, indem sie das frühreife oder vielmehr un¬
reife Schema Morgans für ein Entwicklungsgesetz nahmen; doch bleibt ihnen
das Verdienst, in weiten Kreisen das Verständnis sür die natürliche Auffassung
der Gesellschaft geweckt und fruchtbare Erörterungen angebahnt zu haben. Man
nehme folgenden Satz Schüffles: "Von der kosmischen Zusammenziehung der
Materie zu Sonnensystemen und von der organischen Verbindung der Zellen-
und Zwischenzellenstoffe an bis zur umfassendsten Vereinigung von Personen
und Gütern in dem großen Völker- und Menschheitskörper, andrerseits von der
Auflösung sozialer Körper bis zu der angeblich zu erwartenden Wiedervergasung
zusammenstoßender Weltkörper ist ein und derselbe Vorgang unaufhörlicher
wechselbedingnngsweiser Evolution und Dissolutivn, des Werdens und Ver¬
gehens nachzuweisen." Hätte man vor dreißig Jahren so etwas aussprechen
können, ohne sich in den Geruch der bedenklichsten Phantasterei zu bringen?
Heute klingt uns eine solche Betrachtung wohlbekannt, und die Zeit dürfte nicht
fern sein, wo sie in den Kreis der Denkgewohnheiten immer weiterer Kreise
ebenso vollständig übergegangen sein wird, wie die Bewegung der Erde um
die Sonne oder das Gesetz der Schwere.

Wir hoffen, eine der stärksten Wirkungen dieses Werkes werde darin liegen,
daß die Bedeutung des Bodens für alle politischen und sozialen Entwicklungen
nicht bloß von der Wissenschaft besser gewürdigt werde.*) Auch für diese ist



Wie sehr eine "bodenlose" Auffassung des Staates in der Lust steht, zeigt in der
iRern Litteratur nichts so deutlich wie der Abschnitt "Staat" in Paniscus Ethik (1894), wo
es unter Wesen des Staates heißti "Der Staat ist die Form der Vereinigung einer durch Ab-
Der Staat als Vrgcmismus

auf der Erde herübergetragne Auffassung allgemeingiltiger Entwicklungsgesetze,
so verschwindet auch der einst beliebte Gegensatz einer in ruheloser Entwicklung
fortstrebenden Menschheit zu einer in immer gleiche Bahnen gebannten, in
gewissem Sinne starren Natur.

Nun ist aber durch die Niederlegung der Scheidewand zwischen Mensch¬
heit und Natur noch viel mehr geschehen. Es ist erst der Blick erschlossen
worden für Eutwicklungsvorgänge in der menschlichen Gesellschaft, von denen
man vorher gar keine Ahnung hatte. Vor allem die ethnographischen Er¬
fahrungen, die uns eine Entwicklung der Familie, der Gesellschaft und des
Staats von ungeahnten Anfängen und eine ebenso unerwartete Mannich-
faltigkeit dieser Formen der menschlichen Vereinigungen erkennen lassen, geben
uns ganz neue Vorstellungen von dem, was auf diesem Gebiete möglich ist.
Das ist nicht bloß ein gelehrtes Interesse, sondern es wirft ein Licht auf
das, was kommen kann, was möglich und vielleicht wahrscheinlich ist. Daher
das lebhafte Interesse, mit dem sich Marxisten und Positivisten vor allem
der Entwicklungsgeschichte der Familie und der Gesellschaft zugewendet haben.
Sie trieb ein Instinkt für das praktisch Fruchtbare in der Anwendung der
allgemeinen Entwicklungsgesetze auf die Gesellschaft. Sie haben sich zwar
alle dabei in Sackgassen verrannt, indem sie das frühreife oder vielmehr un¬
reife Schema Morgans für ein Entwicklungsgesetz nahmen; doch bleibt ihnen
das Verdienst, in weiten Kreisen das Verständnis sür die natürliche Auffassung
der Gesellschaft geweckt und fruchtbare Erörterungen angebahnt zu haben. Man
nehme folgenden Satz Schüffles: „Von der kosmischen Zusammenziehung der
Materie zu Sonnensystemen und von der organischen Verbindung der Zellen-
und Zwischenzellenstoffe an bis zur umfassendsten Vereinigung von Personen
und Gütern in dem großen Völker- und Menschheitskörper, andrerseits von der
Auflösung sozialer Körper bis zu der angeblich zu erwartenden Wiedervergasung
zusammenstoßender Weltkörper ist ein und derselbe Vorgang unaufhörlicher
wechselbedingnngsweiser Evolution und Dissolutivn, des Werdens und Ver¬
gehens nachzuweisen." Hätte man vor dreißig Jahren so etwas aussprechen
können, ohne sich in den Geruch der bedenklichsten Phantasterei zu bringen?
Heute klingt uns eine solche Betrachtung wohlbekannt, und die Zeit dürfte nicht
fern sein, wo sie in den Kreis der Denkgewohnheiten immer weiterer Kreise
ebenso vollständig übergegangen sein wird, wie die Bewegung der Erde um
die Sonne oder das Gesetz der Schwere.

Wir hoffen, eine der stärksten Wirkungen dieses Werkes werde darin liegen,
daß die Bedeutung des Bodens für alle politischen und sozialen Entwicklungen
nicht bloß von der Wissenschaft besser gewürdigt werde.*) Auch für diese ist



Wie sehr eine „bodenlose" Auffassung des Staates in der Lust steht, zeigt in der
iRern Litteratur nichts so deutlich wie der Abschnitt „Staat" in Paniscus Ethik (1894), wo
es unter Wesen des Staates heißti „Der Staat ist die Form der Vereinigung einer durch Ab-
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[0628] Der Staat als Vrgcmismus auf der Erde herübergetragne Auffassung allgemeingiltiger Entwicklungsgesetze, so verschwindet auch der einst beliebte Gegensatz einer in ruheloser Entwicklung fortstrebenden Menschheit zu einer in immer gleiche Bahnen gebannten, in gewissem Sinne starren Natur. Nun ist aber durch die Niederlegung der Scheidewand zwischen Mensch¬ heit und Natur noch viel mehr geschehen. Es ist erst der Blick erschlossen worden für Eutwicklungsvorgänge in der menschlichen Gesellschaft, von denen man vorher gar keine Ahnung hatte. Vor allem die ethnographischen Er¬ fahrungen, die uns eine Entwicklung der Familie, der Gesellschaft und des Staats von ungeahnten Anfängen und eine ebenso unerwartete Mannich- faltigkeit dieser Formen der menschlichen Vereinigungen erkennen lassen, geben uns ganz neue Vorstellungen von dem, was auf diesem Gebiete möglich ist. Das ist nicht bloß ein gelehrtes Interesse, sondern es wirft ein Licht auf das, was kommen kann, was möglich und vielleicht wahrscheinlich ist. Daher das lebhafte Interesse, mit dem sich Marxisten und Positivisten vor allem der Entwicklungsgeschichte der Familie und der Gesellschaft zugewendet haben. Sie trieb ein Instinkt für das praktisch Fruchtbare in der Anwendung der allgemeinen Entwicklungsgesetze auf die Gesellschaft. Sie haben sich zwar alle dabei in Sackgassen verrannt, indem sie das frühreife oder vielmehr un¬ reife Schema Morgans für ein Entwicklungsgesetz nahmen; doch bleibt ihnen das Verdienst, in weiten Kreisen das Verständnis sür die natürliche Auffassung der Gesellschaft geweckt und fruchtbare Erörterungen angebahnt zu haben. Man nehme folgenden Satz Schüffles: „Von der kosmischen Zusammenziehung der Materie zu Sonnensystemen und von der organischen Verbindung der Zellen- und Zwischenzellenstoffe an bis zur umfassendsten Vereinigung von Personen und Gütern in dem großen Völker- und Menschheitskörper, andrerseits von der Auflösung sozialer Körper bis zu der angeblich zu erwartenden Wiedervergasung zusammenstoßender Weltkörper ist ein und derselbe Vorgang unaufhörlicher wechselbedingnngsweiser Evolution und Dissolutivn, des Werdens und Ver¬ gehens nachzuweisen." Hätte man vor dreißig Jahren so etwas aussprechen können, ohne sich in den Geruch der bedenklichsten Phantasterei zu bringen? Heute klingt uns eine solche Betrachtung wohlbekannt, und die Zeit dürfte nicht fern sein, wo sie in den Kreis der Denkgewohnheiten immer weiterer Kreise ebenso vollständig übergegangen sein wird, wie die Bewegung der Erde um die Sonne oder das Gesetz der Schwere. Wir hoffen, eine der stärksten Wirkungen dieses Werkes werde darin liegen, daß die Bedeutung des Bodens für alle politischen und sozialen Entwicklungen nicht bloß von der Wissenschaft besser gewürdigt werde.*) Auch für diese ist Wie sehr eine „bodenlose" Auffassung des Staates in der Lust steht, zeigt in der iRern Litteratur nichts so deutlich wie der Abschnitt „Staat" in Paniscus Ethik (1894), wo es unter Wesen des Staates heißti „Der Staat ist die Form der Vereinigung einer durch Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/628>, abgerufen am 08.01.2025.