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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

urteilt man doch auch in England schon anders. Steffen erinnert an die
Thatsache, daß die Iren im frühen Mittelalter ein paar Jahrhunderte hindurch
die vornehmsten Kulturträger gewesen sind. Heute stehe freilich ihre Volks¬
bildung hinter der englischen zurück, aber nur deswegen, weil Bildung Geld
kostet, das sie nicht haben, weil sie von den Engländern planmäßig zu Grunde
gerichtet worden sind. Trotzdem fahren sie fort, England geistig zu befruchten.
"Man hat erst unlängst mit Recht darauf hingewiesen, daß sich so viele geist¬
reiche "Engländer" bei näherm Zusehen als irische, schottische, wallisische oder
südwestenglische Kelten entpuppen....... Die ansehnliche Reihe großer
irischer Parlamentarier, wie Grattan, Curran, Vurke, Sheridan, Canning,
O'Connell und Butt -- lauter Redner erster Klasse -- beweist gleichzeitig das
Vorhandensein hoher geistiger Talente in der Nation und die Tendenz der
Verhältnisse, diese Talente in ein patriotisch-politisches Thütigkeitsfeld hinein¬
zuzwängen. Unter den großen Geistern Irlands giebt es aber auch, für ein
so kleines und von politischem Ungemach so schwer heimgesuchtes Land, eine
erstaunliche Anzahl Namen von hohem Rang in der Geschichte der Weltlitteratur,
ich erinnere nur an Goldsmith und Moore." Steffen schließt seine Betrach¬
tungen über Irland mit dem Satze: "Irland ist arm und doch reich. Seine
Armut kann geheilt, sein Reichtum würde dagegen niemals erworben werden
können. Selig sind die leiblich Armen und geistig Reichen, denn ihnen gehört
die Zukunft." Höchst charakteristisch ist es für die Iren, daß die sittlich be¬
denklichste Art der Liederlichkeit, die geschlechtliche, bei ihnen am wenigsten
vorkommt. Schon Hartpole Lecky hat die irische Armut -- abgesehen von der
Beraubung des Volkes durch die Engländer -- darauf zurückgeführt, daß sich
die irischen Jünglinge von ihren Priestern einreden ließen, der außereheliche
geschlechtliche Verkehr sei Sünde, und daß sie daher ohne zureichende Unter¬
haltsmittel ausnahmslos heirateten; die Engländer dagegen unterhielten, um
nicht zum vorzeitige!, Heiraten genötigt zu sein, die am vollkommensten orga-
nisirte Prostitution der Welt. (Das kann allerdings nur von den Engländern
der bessern Klassen gelten, die englischen Arbeiter heiraten ebenfalls sehr jung,
vielfach vor dem zwanzigsten Jahre.) Steffen hat überall versichern hören,
das irische Familienleben sei musterhaft, und das irische Volk das keuscheste
in Westeuropa, und Whitman erwähnt S. 21 die "sprichwörtliche" irische
Frciucntugend. Wenn demnach im vorigen Jahrhundert, wie Adam Smith
gelegentlich bemerkt, die meisten Londoner Dirnen, und zwar gerade die schönsten,
Jrländerinnen waren, so kann das nicht an der Neigung des irischen Volks
zu Ausschweifungen gelegen haben, sondern ist sehr leicht in der Weise zu er¬
klären, daß den von der heimischen Scholle mit Gewalt Vertriebnen Leuten
nichts übrig blieb, als auf dem Pflaster der englischen Städte irgend einen
Erwerb zu suchen, und da sich die irischen Mädchen durch Schönheit aus¬
zeichneten, so wird man es schon einzurichten gewußt haben, daß ihnen kein


Englische Zustände

urteilt man doch auch in England schon anders. Steffen erinnert an die
Thatsache, daß die Iren im frühen Mittelalter ein paar Jahrhunderte hindurch
die vornehmsten Kulturträger gewesen sind. Heute stehe freilich ihre Volks¬
bildung hinter der englischen zurück, aber nur deswegen, weil Bildung Geld
kostet, das sie nicht haben, weil sie von den Engländern planmäßig zu Grunde
gerichtet worden sind. Trotzdem fahren sie fort, England geistig zu befruchten.
„Man hat erst unlängst mit Recht darauf hingewiesen, daß sich so viele geist¬
reiche »Engländer« bei näherm Zusehen als irische, schottische, wallisische oder
südwestenglische Kelten entpuppen....... Die ansehnliche Reihe großer
irischer Parlamentarier, wie Grattan, Curran, Vurke, Sheridan, Canning,
O'Connell und Butt — lauter Redner erster Klasse — beweist gleichzeitig das
Vorhandensein hoher geistiger Talente in der Nation und die Tendenz der
Verhältnisse, diese Talente in ein patriotisch-politisches Thütigkeitsfeld hinein¬
zuzwängen. Unter den großen Geistern Irlands giebt es aber auch, für ein
so kleines und von politischem Ungemach so schwer heimgesuchtes Land, eine
erstaunliche Anzahl Namen von hohem Rang in der Geschichte der Weltlitteratur,
ich erinnere nur an Goldsmith und Moore." Steffen schließt seine Betrach¬
tungen über Irland mit dem Satze: „Irland ist arm und doch reich. Seine
Armut kann geheilt, sein Reichtum würde dagegen niemals erworben werden
können. Selig sind die leiblich Armen und geistig Reichen, denn ihnen gehört
die Zukunft." Höchst charakteristisch ist es für die Iren, daß die sittlich be¬
denklichste Art der Liederlichkeit, die geschlechtliche, bei ihnen am wenigsten
vorkommt. Schon Hartpole Lecky hat die irische Armut — abgesehen von der
Beraubung des Volkes durch die Engländer — darauf zurückgeführt, daß sich
die irischen Jünglinge von ihren Priestern einreden ließen, der außereheliche
geschlechtliche Verkehr sei Sünde, und daß sie daher ohne zureichende Unter¬
haltsmittel ausnahmslos heirateten; die Engländer dagegen unterhielten, um
nicht zum vorzeitige!, Heiraten genötigt zu sein, die am vollkommensten orga-
nisirte Prostitution der Welt. (Das kann allerdings nur von den Engländern
der bessern Klassen gelten, die englischen Arbeiter heiraten ebenfalls sehr jung,
vielfach vor dem zwanzigsten Jahre.) Steffen hat überall versichern hören,
das irische Familienleben sei musterhaft, und das irische Volk das keuscheste
in Westeuropa, und Whitman erwähnt S. 21 die „sprichwörtliche" irische
Frciucntugend. Wenn demnach im vorigen Jahrhundert, wie Adam Smith
gelegentlich bemerkt, die meisten Londoner Dirnen, und zwar gerade die schönsten,
Jrländerinnen waren, so kann das nicht an der Neigung des irischen Volks
zu Ausschweifungen gelegen haben, sondern ist sehr leicht in der Weise zu er¬
klären, daß den von der heimischen Scholle mit Gewalt Vertriebnen Leuten
nichts übrig blieb, als auf dem Pflaster der englischen Städte irgend einen
Erwerb zu suchen, und da sich die irischen Mädchen durch Schönheit aus¬
zeichneten, so wird man es schon einzurichten gewußt haben, daß ihnen kein


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[0612] Englische Zustände urteilt man doch auch in England schon anders. Steffen erinnert an die Thatsache, daß die Iren im frühen Mittelalter ein paar Jahrhunderte hindurch die vornehmsten Kulturträger gewesen sind. Heute stehe freilich ihre Volks¬ bildung hinter der englischen zurück, aber nur deswegen, weil Bildung Geld kostet, das sie nicht haben, weil sie von den Engländern planmäßig zu Grunde gerichtet worden sind. Trotzdem fahren sie fort, England geistig zu befruchten. „Man hat erst unlängst mit Recht darauf hingewiesen, daß sich so viele geist¬ reiche »Engländer« bei näherm Zusehen als irische, schottische, wallisische oder südwestenglische Kelten entpuppen....... Die ansehnliche Reihe großer irischer Parlamentarier, wie Grattan, Curran, Vurke, Sheridan, Canning, O'Connell und Butt — lauter Redner erster Klasse — beweist gleichzeitig das Vorhandensein hoher geistiger Talente in der Nation und die Tendenz der Verhältnisse, diese Talente in ein patriotisch-politisches Thütigkeitsfeld hinein¬ zuzwängen. Unter den großen Geistern Irlands giebt es aber auch, für ein so kleines und von politischem Ungemach so schwer heimgesuchtes Land, eine erstaunliche Anzahl Namen von hohem Rang in der Geschichte der Weltlitteratur, ich erinnere nur an Goldsmith und Moore." Steffen schließt seine Betrach¬ tungen über Irland mit dem Satze: „Irland ist arm und doch reich. Seine Armut kann geheilt, sein Reichtum würde dagegen niemals erworben werden können. Selig sind die leiblich Armen und geistig Reichen, denn ihnen gehört die Zukunft." Höchst charakteristisch ist es für die Iren, daß die sittlich be¬ denklichste Art der Liederlichkeit, die geschlechtliche, bei ihnen am wenigsten vorkommt. Schon Hartpole Lecky hat die irische Armut — abgesehen von der Beraubung des Volkes durch die Engländer — darauf zurückgeführt, daß sich die irischen Jünglinge von ihren Priestern einreden ließen, der außereheliche geschlechtliche Verkehr sei Sünde, und daß sie daher ohne zureichende Unter¬ haltsmittel ausnahmslos heirateten; die Engländer dagegen unterhielten, um nicht zum vorzeitige!, Heiraten genötigt zu sein, die am vollkommensten orga- nisirte Prostitution der Welt. (Das kann allerdings nur von den Engländern der bessern Klassen gelten, die englischen Arbeiter heiraten ebenfalls sehr jung, vielfach vor dem zwanzigsten Jahre.) Steffen hat überall versichern hören, das irische Familienleben sei musterhaft, und das irische Volk das keuscheste in Westeuropa, und Whitman erwähnt S. 21 die „sprichwörtliche" irische Frciucntugend. Wenn demnach im vorigen Jahrhundert, wie Adam Smith gelegentlich bemerkt, die meisten Londoner Dirnen, und zwar gerade die schönsten, Jrländerinnen waren, so kann das nicht an der Neigung des irischen Volks zu Ausschweifungen gelegen haben, sondern ist sehr leicht in der Weise zu er¬ klären, daß den von der heimischen Scholle mit Gewalt Vertriebnen Leuten nichts übrig blieb, als auf dem Pflaster der englischen Städte irgend einen Erwerb zu suchen, und da sich die irischen Mädchen durch Schönheit aus¬ zeichneten, so wird man es schon einzurichten gewußt haben, daß ihnen kein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/612>, abgerufen am 08.01.2025.